Massaker, Märtyrer und Henker

07.01.2011
Der junge französische Autor Mathias Enard hat mit dem Roman "Zone" eine atemlose Klageschrift verfasst. Er wirbelt die Gräueltaten aller Zeiten durcheinander und sein Protagonist Francis findet - frei nach Walter Benjamin - in jedem Dokument der Kultur gleichzeitig eines der Barbarei.
"Zone" bezeichnet im Pariser Slang den Streifen jenseits der Ringautobahn, wo zwielichtige Gestalten hausen. Mathias Enard überträgt den Begriff in seinem Roman "Zone" auf den Mittelmeerraum. Im Zentrum von "Zone" steht eine zwielichtige Gestalt, der Erzähler Francis. Sein Vater kämpfte in der Résistance gegen die Deutschen und folterte im Algerienkrieg, seine Mutter bewunderte die Faschisten der Ustascha und hetzte den Sohn gegen die Serben auf. Im Jugoslawienkrieg verliert Francis seinen Freund und verhärtet.

Nach der Rückkehr nach Paris heuert er beim französischen Geheimdienst an und verrät, wenn nötig, Informanten. Er wird zum "Barbar", wie ihm seine letzte Freundin vorwirft. Zehn Jahre geht das so, dann schöpft Francis Hoffnung. Er trifft eine junge Russin und will sein Leben ändern – durch einen letzten Verrat: Er will dem Vatikan Dokumente verkaufen.

So beginnt "Zone". Francis steigt in Mailand in den Nachtzug nach Rom und kettet seinen Dokumentenkoffer fest. Fünf Stunden dauert die Fahrt, fünf Stunden erzählt Francis im inneren Monolog, ohne Punkte und mit wenigen Kommata. Etwa 500 km beträgt die Wegstrecke, über 500 Seiten umfasst der Roman. Ausgehend von den draußen vorbeifliegenden Orten assoziiert Francis frei Städtenamen und erinnert bei jedem bekannteren Ort eine historische Schlacht und ihre Gräuel oder eigene, ebenso grauenhafte Erlebnisse, Treffen mit Agenten etwa, die Folterungen schildern. Überall in der "Zone" des Mittelmeerraumes sieht er Massaker, Märtyrer und Henker.

Frei nach Walter Benjamin entdeckt Francis in jedem Dokument der Kultur zugleich eines der Barbarei: Unter einem Kulturzentrum in Barcelona liegt eine Hinrichtungsstätte der Franquisten. Aber anders als Benjamin konstruiert Enards Erzähler keine Geschichte, sondern die Ewigkeit. Bei ihm spielen die Götter mit den Menschen Schicksal. Sie streiten und amüsieren sich beim Schlachten der Menschen, in Troja ebenso wie in Birkenau. Der Erzähler wirbelt die Gräueltaten aller Zeiten durcheinander. Mit dem billigen Schluss: Die Schädelstätte Golgatha lag und liegt überall. Diese Leichenschau bringt den Leser außer Atem. Enard hechelt seine Halbsätze herunter wie einst Céline in der "Reise ans Ende der Nacht".

Eines könnte den Roman "Zone" zumindest als Klageschrift retten. Denn es ist darin die Rede von Islamisten, die in arabischen Gefängnissen in einer justizfreien Zone darben. Enard, der Arabistik lehrt, will uns möglicherweise daran erinnern, dass wir im Westen die Augen verschließen vor diesem Unrecht, weil Verbündete es begehen. Schließlich zeigt Enard einen erschreckenden Mechanismus auf: Aus ehemaligen Opfern werden Täter und aus Tätern Opfer. Der Vater des Erzählers übte Widerstand in der Résistance und brach den Widerstand im Algerienkrieg. Dabei lernten die algerischen Opfer die Folter kennen, die sie heute anwenden.

Mathias Enard hat seine "Zone" historisch und geografisch überdehnt. In seiner schier endlosen Nacht der Gräuel werden fast alle Katzen grau. Nur einige erinnern uns mit ihrem Geheul an ihre Qual.

Besprochen von Ruthard Stäblein

Mathias Enard: Zone
Roman
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Berlin Verlag, Berlin 2010
589 Seiten, 28 Euro