Martin Walser wird 95

Der Stimmungsavantgardist

Martin Walser im Porträt
Mit 95 Jahren immer noch fleißig: Kaum ein Jahr ohne ein Buch von Martin Walser. © picture alliance/dpa/Ulf Mauder
Von Jörg Magenau · 24.03.2022
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Die schwierigen Konstellationen der Liebe sind der Stoff seiner Romane: von "Halbzeit" bis "Der Augenblick der Liebe". Mit seinen politischen Einmischungen war Martin Walser meist seiner Zeit voraus. Nun wird der Großschriftsteller 95 Jahre alt.
Er war immer schon da – und ist es immer noch. Martin Walser betrat die Bühne der Öffentlichkeit ungefähr mit der Gründung der Bundesrepublik. Als Radioreporter beim Süddeutschen Rundfunk sammelte er erste Erfahrungen. Schon da hat er gelernt, auf Stimmungen zu achten.
Dass kein Journalist aus ihm wurde, sondern ein Schriftsteller, lag dann aber daran, dass seine wichtigste Informationsquelle immer er selbst gewesen ist. Wie es ihm erging in der Welt, also in Deutschland, also am Bodensee, also in Wasserburg oder in Nussdorf, das war der Maßstab.

Stets mit dem schädlichsten Etikett versehen

Dabei hat er es geschafft, in jeder Epoche das jeweils schädlichste Etikett angeheftet zu bekommen: In den späten 60er-Jahren galt er als Kommunist, der gegen den Vietnamkrieg opponierte. In den 80ern schalt man ihn einen Nationalisten, weil er an der deutschen Teilung litt, und schließlich, nach dem Roman „Tod eines Kritikers“ aus dem Jahr 2002, erklärten ihn viele zum Antisemiten. Für einen, der sich selbst als „harmoniesüchtig“ bezeichnet und der sich nach Zustimmung sehnt, war das eine schmerzvolle Karriere.
Meistens war Martin Walser seiner Zeit ein paar Schritte voraus. Als Stimmungsavantgardist sagte er das, was ein paar Jahre später Konsens werden würde. Das gilt sogar für die Paulskirchenrede als demonstratives Leiden an einer zum bloßen Ritual oder gar zur Religion gewordenen historischen Schuld. Mit Auschwitz setzte er sich in jedem Jahrzehnt aufs Neue auseinander, so intensiv wie kaum einer. „Unser Auschwitz“, schrieb er 1966, „Auschwitz und kein Ende“ 1979.

Walser will nicht nur kritischer Intellektueller sein

All seinen Einmischungen zum Trotz hat er sich stets dagegen gewehrt, als so genannter kritischer Intellektueller aufs Kritisch-Sein-Müssen zwangsverpflichtet zu werden. Das Prinzip, zu dem er sich im Alter immer stärker hinentwickelte, lautet vielmehr: die Dinge schöner zu machen, als sie wirklich sind. Das bedeutet, der Welt mit Wohlwollen zu Leibe zu rücken, anstatt sie permanent mit Kritik zu traktieren.
Seine Aufsätze über Literatur tragen nicht zufällig den Titel „Liebeserklärungen“, denn er schreibt nicht kritisch „über“ bestimmte Bücher und Autoren, sondern mit ihnen und an ihnen entlang hin zu neuen Einsichten. Ob Hölderlin, Nietzsche, Kafka oder Robert Walser oder einer seiner oberschwäbischen Kollegen, die er protegierte: Martin Walser nähert sich stets aus einer Haltung des Einvernehmens. Der „liebende Mann“, als den er im gleichnamigen Roman Goethe porträtierte, ist ja vor allem er selbst.

Die sexuelle und erotische Quadratur des Kreises

Dass die Liebe in all ihren Konstellationen so schwierig ist, ist der Stoff seiner Romane. Aneinandergelegt ergeben sie eine Geschichte der Bundesrepublik als eine Chronik des Gefühls. Von „Halbzeit“ (1960), über „Ein fliehendes Pferd“ (1978) bis zu „Der Augenblick der Liebe“ (2004) sucht Walser nach der sexuellen und erotischen Quadratur des Kreises, wie sich Familie, Ehefrau und Kinder auf der einen Seite, die Geliebte auf der anderen in Übereinstimmung bringen ließen. Auch deshalb musste er immer weiter schreiben und von Buch zu Buch neue Lösungen erproben.
Schreiben ist eine Vitalfunktion. Solange er schreibt, ist er unsterblich. Schreiben ist für Walser ein körperlicher Vorgang wie das Atmen. Er schreibt mit der Hand, weil er den direkten, stofflichen Kontakt braucht und weil das ein erotischer Vorgang ist.
„Gutes Papier ist wie die Haut einer schönen Frau“, hieß es schon in „Halbzeit“. Die Tendenz ging im Alter jedoch immer mehr zum Loslassen, zum Seinlassen der Dinge, so wie sie sind. Es wäre Martin Walser sehr recht, nicht mehr Rechthaben zu müssen. Er sucht nicht nur nach dem besten Ende jeder Geschichte, sondern auch nach einer Sprache, in der die Dinge einen „weißen Schatten“ werfen. Das gilt für die Liebe wie für die Politik. Martin Walser wird heute 95 Jahre alt.

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