Maroniten in Israel

Vertriebene Christen kämpfen um ihr Dorf

15:22 Minuten
Sharbel und seine Familie.
Sharbel Yacoub (l.) mit seiner Familie. Er spricht deutsch, weil er in Deutschland studiert hat. Seine Eltern haben vor der Vertreibung in Kafr Bir’am gelebt © Brigitte Jünger
Von Brigitte Jünger · 06.11.2022
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In Israel leben heute nur noch ein paar Tausend maronitisch-arabische Christen. Wie viele Muslime wurden auch sie 1948 aus ihren Dörfern vertrieben. Doch im Norden Israels kämpft eine kleine Gemeinschaft darum, in ihr Dorf zurückkehren zu dürfen.
Ein maronitischer Gottesdienst in einem Dorf, das keines mehr ist. Die Kirche, die in den 1830er-Jahren auf den Überresten eines Vorgängerbaus errichtet wurde, ist das einzige Gebäude in Kafr Bir‘am, das 1953 nicht von der israelischen Armee zerstört wurde. Jeden Samstag um 11 Uhr versammeln sich hier 50, 60 Menschen, die mit diesem Ort in Nordisrael verbunden sind.
Die Kirche im ehemaligen Kafr Bir.
Die Kirche, die in den 1830er-Jahren auf den Überresten eines Vorgängerbaus errichtet wurde, ist das einzig erhaltene Gebäude im Dorf Kafr Bir‘am.© Brigitte Jünger

Die Nachfahren leben im nahegelegenen Jish

Die meisten von ihnen sind die Nachfahren der ehemaligen Bewohner des Dorfes, die sich nach der Vertreibung 1948 im sechs Kilometer entfernten Jish niedergelassen haben.
Der 95-jährige Tomi Magzal kann sich noch gut an das alte Kafr Bir’am erinnern. „Wir arbeiteten als Bauern und hatten alles; wir sind ein unabhängiges Dorf gewesen: Wir hatten Oliven, Feigen, Mandeln und Trauben. Wir waren berühmt für den Tabak. Wir hatten Ärzte, eine Klinik. Und Tiere natürlich, Kühe, Schafe und Ziegen, wir haben Milch gemacht und Käse, ja, das alles.“
Das Dorf Kafr Bir‘am auf einer historischen schwarz-weiß-Aufnahme um 1949.
Das Dorf Kafr Bir‘am um 1949.© Brigitte Jünger
Die Mitglieder der maronitischen Gemeinde kennen den Weg zur Kirche, auch wenn kein Schild auf das ehemalige Kafr Bir’am hinweist. Das Gelände ist heute ein israelischer Nationalpark, der die Besucher mit seinen großen grünen Fahnen empfängt. Von der Antike bis zum Mittelalter befand sich an der Stelle, an der sich später die Maroniten niederließen, eine jüdische Siedlung. Die Überreste zweier antiker Synagogen zeugen davon und ziehen hin und wieder Besucher an.

Gottesdienst auf Aramäisch – der Sprache Jesu

Eine Erklärung zur maronitischen Kirche und den Ruinen des christlichen Dorfes sucht man vergebens. „Es kommen momentan viele Ältere. Junge Leute kommen gerne hier her, aber am Samstag haben sie Schule, da können sie nicht.“
Sharbel Yacoub spricht deutsch, weil er in Deutschland studiert hat. Seine Eltern haben vor der Vertreibung in Kafr Bir’am gelebt. „Der Gottesdienst war größtenteils Arabisch, aber teilweise auch Aramäisch. Das 'Heilig Heilig' ist auf Aramäisch, dann gibt es die Gabenzubereitung auch auf Aramäisch, das sind zwei wichtige Teile, die müssen auf Aramäisch sein.“
Aramäisch ist die Sprache, die vermutlich auch Jesus gesprochen hat. Die Syrisch-Maronitische Kirche von Antiochien, wie die Maronitische Kirche mit vollem Namen heißt, ist eine der größten und ältesten christlichen Kirchen im Nahen Osten. Sie betrachtet den Papst in Rom als ihr Oberhaupt. Die meisten der mehr als drei Millionen Gläubigen leben heute im Libanon.

An die Häuserruinen kommt man kaum noch heran

Nach dem Gottesdienst zeigt Sharbel mir die Kirche, die die maronitische Gemeinde im Inneren in hellen Farben renoviert hat. Im Außenbereich darf sie nichts verändern. Die Ruinen der alten Häuser, die zum Teil von Bäumen und Grün überwuchert sind, kann man nicht mehr überall problemlos erreichen.
Ruine im ehemaligen Kafr Bir.
Das Dorf Kafr Bir‘am wurde 1953 von der israelischen Armee zerstört - von den meisten Häusern sind heute nur Ruinen übrig.© Brigitte Jünger
„In den letzten Jahren haben wir festgestellt, dass die Nationalparkbehörde immer neue Grenzen gezogen hat. Sie haben Eisenzäune um die Ruinenhäuser herum errichtet, die noch keine Schlösser haben", sagt Nahida Zahaf. "Wir überprüfen das immer, denn wir haben große Angst davor, dass sie solche Schlösser anbringen. Es macht uns sehr wütend, weil es nicht für die Sicherheit der Menschen ist. Sie tun es, um uns fernzuhalten.“
Auch Zahaf gehört zur zweiten Generation der ehemaligen Bewohner von Kafr Bir’am. Sie lebt heute mit ihrer Familie im nahen Jish.

Zusammenleben in Jish

Dort stellen die Maroniten einen Bevölkerungsanteil von 65 Prozent. Die übrigen Bewohner sind Muslime. Das Zusammenleben verläuft überwiegend reibungslos, und doch fühlen sich die Maroniten manchmal in ihren Anliegen nicht genug unterstützt.
Vor der Staatsgründung Israels und dem arabisch-israelischen Krieg war das Zusammenleben einfacher. Juden, Christen und Muslime verstanden sich an vielen Orten allesamt als Palästinenser.
Der 95-jährige Tomi Magzal erinnert sich: „Wir haben hier mit den Juden sehr, sehr gute Beziehungen gehabt. Sie lebten in Safed, Tiberias, Acco und Haifa oder Jerusalem und sie sprachen Arabisch, nicht nur Hebräisch. Sie kleideten sich auch wie die Araber. Wir hatten keine Probleme. Bis heute, sage ich Ihnen, hassen wir die Juden nicht, wir hassen die Politik der Regierungen.“

Israel als ein Mosaik der Minderheiten?

Die Zionisten, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts aus Europa nach Palästina einwanderten, um einen jüdischen Staat zu errichten, machten die Maroniten schon lange vor der Gründung Israels als potenzielle Verbündete aus, wie der österreichische Politikwissenschaftler Tobias Lang sagt.
„Es gab schon relativ früh in der zionistischen Politik diese Vorstellung von Israel als einem Teil von einem Mosaik der Minderheiten im Nahen Osten. Da spielen die Maroniten eine wichtige Rolle. Man hat auch an die Drusen gedacht. Man hat also an alle möglichen Bevölkerungsgruppen gedacht, die nicht sunnitisch-arabisch sind!", erklärt Lang.
"Die Maroniten waren nur die wahrscheinlich mächtigste und geografisch gesehen nächste von diesen Gruppen. Und hier hat es vor der Staatsgründung mit der maronitischen Kirche sehr wohl Kontakte gegeben", fährt der Politikwissenschaftler fort. "Nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg sind diese Kontakte allerdings dann sehr schnell mehr oder weniger verunmöglicht worden.“

Christen fühlten sich sicher in Kafr Bir’am

Der erste arabisch-israelische Krieg, den die Israelis „Unabhängigkeitskrieg“ nennen und der für die Palästinenser die Nakba, Katastrophe bedeutet, setzte schon 1947 nach der Verabschiedung des UN-Teilungsplanes für Palästina ein.
Die arabischen Staaten lehnten die Teilung ab, es brachen Kämpfe aus und jüdische Militärorganisationen wie die Hagana eroberten viele arabische Dörfer und vertrieben die dort ansässigen Muslime. Viele flüchteten in den Libanon und kamen dabei auch durch Kafr Bir’am.
Die dortigen Christen jedoch fühlten sich aufgrund ihres guten Verhältnisses zur jüdischen Bevölkerung sicher. „Der Pfarrer und das Dorf-Komitee haben die Leute in der Kirche versammelt und der Priester hat gesagt: 'Schaut, wir haben doch immer zu Maria gebetet und sie hat uns viel Gutes getan, sie wird uns nie allein lassen. Gott ist mit uns und Maria ist mit uns, macht euch keine Sorgen'“, erinnert sich Tomi Magzal.
Zunächst sah es im Oktober 1948 tatsächlich so aus, als würden die israelischen Truppen das christliche Dorf in Ruhe lassen: „Nach einer Woche kamen sie ins Dorf und registrierten alle Menschen, die in Bir'am lebten als israelische Staatsbürger. Zum ersten Mal bekamen wir Papiere.“

Rückkehr nach Kafr Bir'am verweigert

Trotzdem erhielten die Maroniten wenig später die Order, Kafr Bir’am für zwei Wochen zu verlassen, damit die jüdischen Truppen das Grenzgebiet überprüfen konnten. Anschließend sollten sie in ihr Dorf zurückkehren können.
Das jedoch wurde ein ums andere Mal mit Verweis auf die angespannte Lage an der Grenze zum Libanon verweigert. Ein Teil der Maroniten ließ sich im nahen Jish nieder, andere machten sich ebenfalls auf den Weg in den Libanon, wieder andere wurden von den israelischen Truppen in andere Landesteile geschickt.

„Und das ist es, was wir immer sagen: Wir sind nicht Flüchtlinge, wir sind Vertriebene", sagt Sharbel Yacoub. "Wir haben die israelische Staatsbürgerschaft, wir sind Israelis und wir müssen einen Weg finden, dass wir für unser Recht kämpfen, auf christliche Weise und friedliche Weise.“

Sharbel Yacoub, israelischer Maronit

Israelische Soldaten gründeten einen Kibbuz

Schon ein dreiviertel Jahr nach der Vertreibung der Christen aus Kafr Bir’am kehrte in ihre verlassenen Häuser neues Leben ein. Demobilisierte Soldaten der israelischen Armee gründeten hier den Kibbuz Bar’am. Zwei Jahre später verließen sie den Ort jedoch und bauten den Kibbuz zwei Kilometer weiter auf.
Angela Yantian, die seit Mitte der 1970er-Jahre im Kibbuz Bar’am lebt, erzählt: „Ich wusste, dass die Mitglieder – das waren so 18-, 20-jährige junge Menschen, die eben nach dem Unabhängigkeitskrieg oder aus der Shoa nach Israel gekommen waren – ihr Leben wieder in die Hände genommen hatten. Die haben dann zwei Jahre in Bir'am gelebt, nachdem die ursprünglichen Einwohner von dort ausgewiesen, vertrieben wurden.“
Die maronitischen Christen von Kafr Bir‘am schlugen zur gleichen Zeit den friedlichen Weg über die Gerichte ein und klagten gegen ihre Vertreibung. 1951 entschied der Oberste Gerichtshof, dass sie in ihr Dorf zurückkehren dürfen. Die Umsetzung des Urteils stieß jedoch auf den Widerstand der Armee und bald machten sich Gerüchte breit, dass Kafr Bir’am zerstört werden sollte.
„Niemand hat das in der Zeitung geschrieben, aber als die Kibbuzmitglieder davon gehört hatten, sind zwei, drei Männer nach Jerusalem hinaufgegangen zur Knesset und haben verlangt, dass das nicht geschieht“, sagt Angela Yantian.

1953 zerstörte die israelische Luftwaffe den Ort

Die Initiative der Kibbuzniks hat damals die Entscheidung der Armee, Kafr Bir’am unbewohnbar zu machen, nicht verhindern können. Am 16. September 1953 zerstörte die israelische Luftwaffe die Häuser des Ortes.
Von einem Hügel in Jish aus sahen die ehemaligen Bewohner des Dorfes ihren Traum von einer Rückkehr in Flammen aufgehen. Der überwiegende Teil ihres Landes wurde vom israelischen Staat enteignet. „Sie haben Steine zerstört, aber sie können das Land in unseren Herzen nicht zerstören“, erklärt Tomi Magzal.
Und Angela Yantian ergänzt: „In den 80er, 90er Jahren gab‘s eine Initiative, die hieß 'Neighbors' – Nachbarn: also israelische Juden aus Bar'am, aus der ganzen Umgebung zusammen mit Jish. Wir haben dann ziemlich viele Sachen organisiert, unter den Kindern, damit sie sich kennenlernen, die Geschichte kennenlernen und so.“

Projekt mit Schülern

Angelas Tochter Karin hat als Schülerin an diesem Projekt teilgenommen, Briefe nach Jish geschrieben und die Nachfahren der Menschen aus Kafr Bir’am auch selbst getroffen.
Nachhaltige Freundschaften sind daraus nicht entstanden, doch das Bewusstsein für die Geschichte des Ortes und die Verbindung zwischen Kibbuz Bar’am und dem zerstörten Kafr Bir’am ist Karin geblieben.
„Ja, es brachte mich in Verlegenheit und vielleicht auch in Schuld- oder Schamgefühle", berichtet Yantians Tochter. "Aber später dachte ich, wie gut es doch wäre, wenn Bir'am ein Ort der Begegnung zwischen den beiden Gemeinschaften und ihrer Geschichte werden könnte. Eine Idee, die ich vom Besuch verschiedener Orte in Berlin und Deutschland mitgenommen habe, die Geschichte auf eine freundliche Art und Weise vermitteln. An einem Ort, an dem man sich hinsetzen und reden und lernen kann und nicht immer von seiner Vergangenheit eingeschüchtert ist.“

Der Minderheitenstatus als Lösung?

Diese Idee, auf dem Gelände des zerstörten Kafr Bir’am eine Begegnungsstätte zu errichten, die die Geschichte wachhält, teilen die Nachfahren der Vertriebenen aus Kafr Bir’am eher nicht. Sie wünschen sich einen Platz, an dem ihnen Gerechtigkeit widerfährt und an dem sie als maronitische Christen wieder unter sich leben können – entweder im alten Kafr Bir’am oder an einem anderen Platz in der Nähe.
Sharbel Yacoub gehört zu jenen, die daran glauben, dass sie ihrem Ziel näherkommen, wenn sie in Israel einen Minderheitenstatus für die maronitischen Christen erreichen, so, wie ihn auch die Drusen besitzen:
„Ich zähle mich selber auch nicht als Palästinenser, ich zähle mich als Israeli. Ich habe einen israelischen Pass, Aramäer habe ich als Volkszugehörigkeit. Und das muss man auch genauso definieren.“

Volkszugehörigkeit "aramäisch"

Mittlerweile ist es einigen gelungen, die Volkszugehörigkeit „aramäisch“ im Personalausweis eintragen zu lassen. Aber es ist noch ein langer Weg bis die Maroniten insgesamt als Minderheit anerkannt werden könnten.
Der Staat Israel ist diesem Prozess grundsätzlich nicht abgeneigt. Für ihn würde es bedeuten, dass der Armeedienst für die maronitischen Christen, zu dem sie bisher nicht verpflichtet sind, obligatorisch werden würde.
Ob der Minderheitenstatus allerdings für die Maroniten von Vorteil wäre, daran haben viele angesichts der Erfahrung der israelischen Drusen Zweifel – denn die fühlen sich oft weiterhin als Bürger zweiter Klasse.
Außerdem sind sich die Maroniten in der Minderheitenfrage überhaupt nicht einig. Nahida Zahaf ist absolut dagegen, einen Keil zwischen christliche und muslimische Palästinenser zu treiben.
Ein Dienst ihrer Kinder und Enkel in der israelischen Armee ist für sie undenkbar: „Wie kann ich in der Armee dienen, die meine Gemeinschaft auseinandergerissen hat, die meinen Vater und meinen Großvater und meine Großmutter aus ihrer Heimat entwurzelte und Familien trennte. Ich habe meine Kinder nicht dazu erzogen, das zu tun. Für Palästinenser in Israel ist das eine sehr lächerliche, fast schon ironische Idee.“

Der Traum von der Rückkehr lebt weiter

Samstags im Gottesdienst in der alten Kirche von Kafr Bir’am spielen die Fragen danach, ob man sich als christliche Minderheit mehr dem israelischen Staat oder der Geschichte der Palästinenser zugehörig fühlt, für eine Weile keine Rolle.
Im Inneren der Kirche hängt ein Kreuz an der Wand.
Die Kirche von Innen.© Brigitte Jünger
Umgeben von den Ruinen der Häuser des zerstörten Dorfes der Vorfahren träumt jeder seinen eigenen Traum. So wie Nahida Zahaf: „Ich habe immer die Hoffnung und glaube mit all meiner Kraft und all meinen Sinnen, dass wir zurückkehren werden. Wenn ich es nicht tue, werden meine Söhne zurückkehren. Sind es nicht die Söhne, hoffe ich, dass meine Enkel dorthin zurückkehren werden, denn wir haben das Recht zurückzukehren.“
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