Marokko

Verwirrendes Panorama

Von Walter van Rossum · 14.01.2014
Marokkanische Künstler und Autoren schreiben Briefe an ihre jungen Landsleute: Das Ergebnis ist eine schonungslose Analyse der Verhältnisse in ihrem Land. Der Autor Abdellah Taïa hat die Aktion initiiert.
Abdellah Taïa ist ein heute 40-jähriger marokkanischer Schriftsteller, der seit 1998 in Paris lebt. 2012 erschien sein Roman "Der Tag des Königs" in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp. Vor einigen Jahren widerfuhr ihm eine gewisse internationale Berühmtheit, weil er sich in einer marokkanischen Zeitschrift offen zu seiner Homosexualität bekannte. Die "Briefe an einen jungen Marokkaner" erschienen 2009 in Frankreich. Doch das Buch sollte vor allem in Marokko Verbreitung finden – und so kam es: Käufer der marokkanischen Zeitschrift Tel Quel bekamen jeweils ein Buch geschenkt, wenig später wurde einer arabischsprachigen Zeitschrift ein Exemplar beigelegt. So kamen 90000 Exemplare in Marokko unter die Leute.
Abdellah Taïa hatte 17 Landsleute – darunter fünf Frauen – gebeten, Briefe an junge Marokkaner zu schreiben, um sie „aufzurütteln“. Unter den Verfassern finden sich so bekannte Schriftsteller wie Tahar Ben Jelloun, der zugleich auch einer der ältesten ist, aber auch junge Filmemacher, Poeten und ganz unbekannte Autoren, die manchmal selbst gerade erst Mitte 20 sind. Einige der Briefeschreiber leben in Frankreich, Belgien, Spanien.
So unterschiedlich wie die Autoren sind die Empfänger dieser Briefe. Mal sind es Kusinen oder Nichten, mal Kinder von Freunden, dann Unbekannte, die man an jeder Ecke zu treffen glaubt, oder es sind einfach fiktive Adressaten. Die Schriftstellerin Sanaa Elaji wendet sich an das Kind, das sie vor 25 Jahren selbst war.
Und so unterschiedlich wie Autoren und Empfänger sind die Inhalte dieser Briefe. Manchmal erschöpfen sie sich in moralischen Ermunterungen, mal rufen sie zur Rebellion gegen Tradition, Familie und die eigene Ohnmacht auf. Der Wirtschaftsprofessor Rachid Benzine schlägt moderne Lesarten des Korans vor. Andere warnen vor der weitverbreiteten Phantasie, die Flucht nach Europa wäre die einzig Möglichkeit sein Leben zu leben.
Herrschaft des neuen Geldes
Sorgfältig scheint Abdellah Taïa ein fast schon verwirrendes Panorama von Stimmen gewählt zu haben. Aber alle Briefschreiber gehen von einer ähnlichen Grundstimmung aus: nämlich einer komplexen Krise, die weit über das hinausgeht, was man uns sonst von Ländern wie Marokko zu zeigen beliebt: Es geht um mehr als den Kampf zwischen Moderne und Islam, jedenfalls verlaufen die Frontlinien anders als gemeinhin kolportiert, es geht um die zermürbende Alternative zwischen altem Feudalsystem und modernen Techniken der Ausbeutung, es geht um teilweise erschreckende Armut, um flächendeckende Korruption und es geht um die Korrumpierung der Sitten, um die neue Herrschaft des neuen Geldes und es geht um die sichtbare Ausweglosigkeit für einen großen Teil der Jugend.
Selbst wer sich in Marokko ganz gut auszukennen glaubt, dürfte erstaunt sein über diese schonungslose Wahrnehmung der Verhältnisse. Und genau darin besteht ja auch der Sinn dieses Buches. Nicht nur für Marokkaner – auch für uns. Wir hören einfach kluge, kritische, stets authentische marokkanische Stimmen, durch die wir unendlich viel mehr und anderes über die konkreten Realitäten erfahren als durch die gängigen medialen Schablonen, als durch Reiseführer und andere Zentralorgane des Folklorismus. Und wir spüren im kontrollierten Zorn der Texte, in ihrer bösen Blumigkeit, was sie nicht und niemals aussprechen dürfen, nämlich konkrete politische Kritik – besonders nicht am Regime von Mohamed VI., der hierzulande gern als moderner Herrscher präsentiert wird. Die leiseste Kritik an seiner Person und der absoluten Macht seiner Herrschaft hätte die sofortige Konfiszierung des Buches nach sich gezogen und ihren Autoren das Leben schwer, wenn nicht unmöglich gemacht.

Abdellah Taïa (Hg): Briefe an einen jungen Marokkaner
Aus dem Französischen vom Übersetzungskollektiv des Zentrums
für Translationswissenschaft der Universität Wien
Passagen Verlag, Wien 2013
208 Seiten, 25,90 Euro