Marokkanische Filmtage in Berlin

Von Wolfgang Martin Hamdorf |
Marokko ist das stärkste Filmland im Maghreb. Die im Berliner Kino Arsenal gezeigten Filme spiegelten seine schnelle Modernisierung wider wie die Veränderung des Frauenbildes oder die Auflösung traditioneller Herrschafts- und Familienstrukturen.
Vier Männer und eine Frau quälen sich durch die glühende Hitze der marokkanischen Wüste. Gestern noch hatten sie sich bei einer multinationalen Firma in Casablanca um einen hoch dotierten Posten beworben, aber dann endet das mysteriöse Auswahlverfahren mit einem Unfall weit weg von jeder Zivilisation. Die Spannungen zwischen den fünf Kandidaten nehmen zu, explodieren in Gewalt und Hass und alle fünf werden auf unterschiedliche Weise von ihrer Vergangenheit eingeholt. Der 29-jährige marokkanische Filmemacher Talal Selhami verbindet in seinem Debüt "Mirages" aus dem Jahre 2010 sehr verschiedene Genreelemente: vom Roadmovie über den Wüstenwestern bis hin zum Fantasy- und Horrorfilm zu einem eigenwilligen Porträt des modernen Marokko:

Talal Selhami: "Für mich ist Marokko ein schizophrenes Land, das sich mit rasanter Geschwindigkeit entwickelt, das auf der einen Seite seine Traditionen pflegt, seine Jahrhunderte alte Kultur, aber auf der anderen Seite auch ganz stark von der Moderne geprägt wird. Das spiegelt sich auch in den Figuren meines Films wider, wenn sie etwa immer wieder vom Arabischen ins Französische fallen."

Ein Widerspruch, den Talal Selhami über den Gegensatz der modernen Metropole Casablanca und der weiten Wüstenlandschaft visualisiert. Auch im Eröffnungsfilm der Marokkanischen Filmtage "Die trockenen Augen" aus dem Jahre 2003 wird die faszinierende Landschaft zur Projektionsfläche gesellschaftlicher Erosionen: Eine alte Frau kehrt nach 25 Jahren in ihr abgeschiedenes Bergdorf zurück, aber die früheren Teppichweberinnen arbeiten heute als Prostituierte.

Zehn Jahre früher wäre diese Geschichte von der Zensur verboten worden. Die Wende für den marokkanischen Film kam 1996 nach dem Tode Hassans II. und der vom neuen König Mohammed VI. eingeleiteten demokratischen Öffnung des öffentlichen Lebens. Reformprozesse, die Marokko auch von anderen arabischen Regimen unterscheiden, sagt Sonja Hegasy vom Zentrum Moderner Orient:

"Marokko hat schon wesentlich früher begonnen, Reformen durchzuführen, die werden auch von der Bevölkerung durchaus gesehen, und es ist ja nicht nur die Tatsache, dass die Ära Hassan II. zu Ende ist, weil er gestorben ist, das wäre ja durchaus möglich, dass das gleiche Szenario ist, wie in Syrien Hafiz Al-Assad ist tot, der Sohn kommt ran, heißt ja nicht automatisch, es wird moderner, jünger, aufgeklärter und vielleicht sogar demokratischer, sondern Mohammed VI. musste ja auch diese neue Reformpolitik zeigen und legitimieren und auch wirklich etwas verändern, damit das bei den Leuten akzeptiert wird."

Der Film ist ein Teil dieser politischen, sozialen und kulturellen Gratwanderung zwischen Tradition und Moderne. Mittlerweile ist Marokko durch massive staatliche Unterstützung nach Ägypten das zweitstärkste Filmproduktionsland der arabischen Welt. Die Zeiten, als staatliche Zensoren die Dreharbeiten begleiteten, sind vorbei. Zensur gibt es aber immer noch.

So darf der, 2002 mit staatlichen Zuschüssen gedrehte Kriminalfilm "Eine Minute weniger Sonne" bis heute nicht in den marokkanischen Kinos gezeigt werden. Anstoß erregte dabei nicht die dargestellte Korruption, die Verbindung zwischen Mafia und Polizei, sondern die unverhüllte Sexualität. Das bestätigen auch andere Filmemacher. Viele Tabus haben sich geändert, aber die wichtigsten gelten nach wie vor, sagt der 32-jährige Filmemacher Swel Noury, der in Berlin sein Regiedebüt "Die Tore des Paradieses" aus dem Jahre 2005 vorstellte:

Swel Noury: "In meinem zweiten Film fällt der Satz "Gott fühlt sich einsam" und es gab einen Riesenärger nur wegen dieses einen Satzes, im gleichen Film gibt es eine angedeutete Liebesbeziehung zwischen zwei Männern und allein deswegen forderte die islamische Partei das Verbot des Films. Ich glaube eine grundsätzliche Schizophrenie in den arabischen Gesellschaften kommt einfach von dieser Vorherrschaft des Religiösen im täglichen Leben. Tabus sind heute überwiegend religiös, ich kann vielleicht morgen in meinen Filmen alles sagen, aber nichts über Mohammed, aber auch nichts über Homosexualität und auch nichts, das in irgendeiner Weise mit religiöser Moral zu tun hat."

In den letzten zehn Jahren spiegelt der marokkanische Film sehr vielfältig die schnelle Modernisierung des Maghreb-Landes wider, die Veränderung des Frauenbildes, die Auflösung traditioneller Herrschafts- und Familienstrukturen die zunehmenden sozialen Spannungen, Emigration und Perspektivlosigkeit der Jugendlichen.