Markt der Möglichkeiten gegen die Marktmacht

Von Eberhard Spreng · 05.02.2007
30 Minuten Einrichtungszeit, eine Stunde Spielzeit und keine weitere Einschränkung. Das sind die Vorgaben für Mitwirkende beim Festival 100 Grad. So sind bei dem Theaterfest der Off-Szene professionelle Gruppen neben absoluten Amateuren zu sehen, was auch den ganz besonderen Reiz dieser Veranstaltung ausmacht. Gespielt wurde in allen Ecken Berlins und bis tief in die Nacht. Viele Produktionen kämpften gegen die Alleinherrschaft der Marktwirklichkeit an.
"Warum hast Du einen künstlerischen Beruf gewählt? Möchtest Du Kinder, bzw. wann wirst Du auf eigenen Beinen stehen können? Bist Du bereit, für Kinder und Familie Deine Karriere einzuschränken?"

Fünf junge Frauen im Alter von etwa 25 Jahren haben sich in das Zuschauerrund auf der Bühne des HAU 2 gesetzt und stellen sich Fragen über ihre Zukunft. Irgendwo zwischen Selbsterfahrungsgruppe und Fernsehshow rangiert die Ästhetik dieser Arbeit der Gruppe "Hotel Europa" mit dem durchaus bezeichnenden Titel: "Dreams are my reality". Noch mit der kindlichen Welt der puren Illusionen in Verbindung, und zugleich konfrontiert mit den Erwartungen der Eltern und der drohenden Perspektivlosigkeit im Beruf, suchen die Fünf nach Zukunftsentwürfen.

Nicht einmal 24 Stunden später ist wieder eine Gruppe von Frauen auf einer HAU-Bühne. Aber dieses mal sind es ältere Damen, die im Rahmen einer Fernsehshow mit dem Titel "Back to Life" aus dem Rentnerdasein plötzlich wieder in eine Beschäftigung zurückgeschickt werden, da eine künftige Regierung im Rahmen einer Harz 9 Maßnahme der Vergreisung ganzer Stadtteile entgegen wirken will.

"Der anschwellende Seniorenberg soll durch Reimplantationsmaßnahmen minimiert und auf das unvermeidbare Mindestniveau reduziert werden. Das heißt auf Deutsch: Der demografische Wandel hat durchweg nur positive Seiten."

Eine Politikerin preist die Errungenschaften einer brutalen Politik. Eine immer gut gelaunte Moderatorin sucht anschließend für die aufgereihten Kandidatinnen bei den Zuschauern nach neuen Verwendungen als kostenlose Arbeitskraft. Der moderne Sklavenhandel im Gewand einer zynischen Show vom traditionsreichen Seniorentheater "Spätzünder" war der neu gegründeten 100-Grad-Jury einen der Preise wert.

Zwischen diesen beiden Produktionen war gleich zu Beginn des Festivals das ganze Elend eines Wirtschaftssystems abgesteckt, das sowohl der Jugend als auch den Senioren jede Zukunft nimmt und darüber hinaus das Recht auf ein natürliches zum Lebensabschnitt passendes Grundgefühl. Der Jugend geht das Recht auf Träume und Hoffnungen verloren, dem Alter das Recht auf Ruhe. Man ahnt: Die Generationendebatte ist ein Scheingefecht. Längst raubt der Markt allen Menschen neben ihrer Gegenwart auch ihre Zukunft, ja den Traum von der Zukunft.

Solche gedanklichen Querverbindungen im überbordenden Programm des vierten 100 Grad-Festivals sind jederzeit möglich. Auch dank des immer größer werdenden Programms im HAU, den Sophiensälen und erstmalig auch dem Theaterdiscounter. Knapp 200 Aufführungen an vier Tagen. Die Projektleiterin der Sophiensäle, Carolin Kiel:

"Also ich würde behaupten, dass das ein klassisches Schneeballprinzip ist: Mundpropaganda in der freien Szene trägt sich soweit. Die Leute reisen von überallher und nicht nur aus Deutschland an. Studenten, Kuratoren, Distributoren von anderen Festivals, das spricht sich einfach rum. Das ist hier die Talentschmiede, die einfach alle interessiert, wo alle wissen, da müssen wir hin und schauen, was die nächste Generation in der Theaterszene uns bietet."

Zur Spielregel des Festivals gehört, dass zwar am Ende Zuschauer- und Jurypreise vergeben werden, aber kein Kurator aus den eingereichten Anmeldungen eine Programmauswahl vornimmt. So steht das amateurhafte neben hochprofessionellen Aufführungen, Performances und Installationen, wobei der in den Vorjahren festzustellende Hang zu Techniken wie dem Videobeamer zunehmend wieder zugunsten konventioneller Theatermitteln aufgegeben wurde.

Dresdener Bürgerchor: "Ich sehe gerne fern, nicht oft …"

So als wären sie zu einer Demonstration der Normalität und Privatheit aufmarschiert, haben sich die Akteure des Dresdener Bürgerchors aufgestellt. Sie halten Spruchtafeln hoch: "Küche, Bad, Wohnzimmer, Schlafzimmer" steht darauf. Die Gruppe, die sich nach drei Arbeiten am Dresdener Staatstheater, u.a. den skandalumwitterten "Webern" formiert hatte, spielt den ersten Akt von Bernd Freytags "Schattenkabinett", eine ins Chorische gebrochene Szenenfolge aus der heimischen Welt normaler Männer und Frauen. Auch diese formal strenge Arbeit erhielt einen Preis der Jury.

Der wohl radikalste ästhetische Versuch des Festivals verzichtete völlig auf Bühne und Performer und macht das Publikum zum alleinigen Akteur einer post-theatralischen Zukunft.

"Was immer die ästhetische Zukunft des Theaters bringen wird: Pay to play macht Sie fit diese Zukunft aktiv mitzugestalten. 'Pay to play' ist ein Self-Learning Tool, das sie in Zukunft zu jeder selbstständigen Umsetzung eines Theatertextes einsetzen können Damit macht sie 'Pay to play' unabhängig von der Zukunft das Theaters. ..."

Mit der kruden pseudowissenschaftlichen Sprache der Consulter und Trainer wird hier zum Selbstmachtheater aufgefordert. Mit nonchalanter Selbstverständlichkeit, eben tiefer Ironie, begräbt Stückautorin Christiane Hitzemann die alte Bildungsanstalt Theater und ruft die Herrschaft der neuen soften Lern-Methoden zur Selbstoptimierung aus, die doch nichts weiter sind als Konditionierungen in eine neue trist grausame Wirklichkeit. Dass dabei die Bühne schwarz und leer bleibt, ist konsequent. In der Mitte der neuen Marktwirklichkeit ist kein Lebensentwurf, keine Vision, kein Blick in andere Welten mehr möglich.