Markschies: Ritualisierung ist "nichts Schlechtes"
Der Präsident der Berliner Humboldt-Universität, Christoph Markschies, hat Kritik an den Gedenkveranstaltungen zum 70. Jahrestag der Reichspogromnacht zurückgewiesen. Dass "Gedenken ritualisiert werden muss, ist an und für sich nichts Schlechtes", betonte Markschies.
Jürgen König: In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten in Deutschland die Synagogen, voller Zerstörungs- und Mordlust wurden jüdische Geschäfte geplündert, wurden Juden aus ihren Wohnungen gejagt, verprügelt, verhaftet, umgebracht. 70 Jahre liegt diese Reichpogromnacht nun zurück. Wie man ihrer gedenken soll, darüber haben wir hier am Freitag mit dem Publizisten Henryk M. Broder gesprochen. Heute fragen wir Prof. Christoph Markschies, den Präsidenten der Berliner Humboldt-Universität, der heute Abend dabei sein wird, wenn in Berlin das "Handbuch des Antisemitismus" vorgestellt wird. Herr Markschies, guten Morgen!
Christoph Markschies: Einen wunderschönen guten Morgen!
König: Die Bundeskanzlerin sagte gestern, sie wolle nicht als Richterin über das Verhalten der deutschen Bevölkerung gegen die Juden im November 1938 auftreten. Aber es sei an ihr, auf die Folgen des Schweigens hinzuweisen, das sei sie den Opfern schuldig. Und sie rief dazu auf hinzuschauen und zu protestieren, wenn Menschen gedemütigt und ausgegrenzt würden. Waren das für Sie angemessene Worte des Gedenkens?
Markschies: Oh ja. Die Gedenkveranstaltung in der Berliner Synagoge Rykestraße war sehr, sehr eindrücklich. Denn man konnte ja (…) Filme sehen und sah beispielsweise, wie am Morgen dann vor der brennenden Synagoge in Essen im Jahre 1938 die Menschen dastanden. Und genau das, was die Bundeskanzlerin gesagt hat, schweigend ansahen, wie die Synagoge abbrannte und die Feuerwehr nicht half oder gar noch dafür sorgte, dass sie schneller abbrannte. Und dass daraus eine Verpflichtung für uns heute erwächst, natürlich, selbstverständlich, das hat die Bundeskanzlerin sehr eindrücklich gesagt.
König: Hören wir vielleicht mal, was der Publizist Henryk M. Broder am Freitag über solche Gedenkfeiern hier bei uns im Programm sagte.
Henryk M. Broder: Das sind so Kammermusikveranstaltungen mit Buchsbäumen an der Bühne, mehr ist es nicht. Und Sie werden halt in kalendarischer Reihenfolge abgefeiert. Jetzt haben wir den 9. November, dann ist es der 27. Januar, die Befreiung von Auschwitz. Ich glaube, den meisten Leuten bedeutet das eigentlich nicht mehr viel. Und ich finde es im Prinzip auch gut, dass die Vergangenheit langsam in der Vergangenheit versinkt.
König: Den meisten Leuten bedeuten solche Veranstaltungen nicht viel. Man solle sich, sagte Herr Broder dann noch weiter, die Soße der Betroffenheit langsam ersparen. Glauben Sie das auch, Herr Markschies?
Markschies: Was ich am Anfang gesagt hatte, wir hatten ja nicht nur in Berlin gestern die Gedenkfeier in der Synagoge Rykestraße, sondern wir hatten einen großen Schweigemarsch, den die beiden Berliner Kirchen, die Evangelische und Katholische mit der jüdischen Gemeinde und an der Spitze mit dem Regierenden Bürgermeister Wowereit durchgeführt haben. Ich glaube, dass insbesondere (…) doch an die (…) denken, die es gegeben hat, dass durchaus ein (…) Gedenken keine Betroffenheitslyrik, natürlich (…) auch immer, da hat Henryk Broder (…), aber nicht nur ausschließlich Betroffenheitslyrik und auch nicht einen für die Bevölkerung in der Mehrheit uninteressantes Gedenken war, ganz gewiss nicht.
König: Meine Damen und Herren, Sie hören es, wir haben erhebliche Probleme mit der Leitung. Herr Markschies haben wir am Handy erwischt. Wir versuchen es noch einmal. Ich vermute, dann müssen wir es abbrechen, weil man nur sehr wenig versteht. Herr Markschies, wenn Sie vielleicht genau da stehen bleiben, wo Sie jetzt gerade sind, denn eben hat man Sie zum Schluss besser verstanden. Haben diese Veranstaltungen, so wie gestern, aber nicht doch tatsächlich im Laufe der Jahre etwas Rituelles bekommen? Oder anders gefragt, haben Sie gestern irgendeinen Satz gehört, bei dem Sie gedacht haben, ja, das ist etwas Neues, darüber lohn sich neu und anderes nachzudenken?
Markschies: (…) Ein Begräbnis ist ein Ritual. Dass Dinge rituell geschehen und auch Gedenken ritualisiert werden muss, ist an und für sich nichts Schlechtes. Schlimm wäre es tatsächlich nur, wenn es keinerlei neuen Gedanken geben würde. Wenn Sie daran denken, dass etwa die Verpflichtung, dass zur Identität des deutschen Staatsgedankens die Verpflichtung für Israel gehört, von der Bundeskanzlerin betont worden ist, wird man schon sagen müssen, es gibt immer wieder neue Sätze. Dass es so furchtbar viele neue Gedanken zu dem Thema nicht geben kann, würde ich auch für keine Katastrophe halten, denn schließlich ist es so, dass über die Katastrophe von vielen schon nachgedacht worden ist und allein schon dafür immer wieder wiederholte (…) wichtigen Gedanken ist ja auch.
König: Hören wir vielleicht noch mal Henryk M. Broder, der gesagt hatte, die Deutschen seien besessen von ihrer Vergangenheit.
Henryk M. Broder: Das stimmt nicht, dass die Deutschen mit der Vergangenheit nicht klarkommen. Sie kommen mit der Vergangenheit sehr gut klar. Womit sie nicht klarkommen, ist die Gegenwart, und das betrübt mich immer mehr. Wenn Sie sich angucken, was heute passiert, Darfur, im Kongo fängt wieder der alte Völkermord an. Das beansprucht einen Hauch der Aufmerksamkeit, den wir auf die Vergangenheit richten. Und diese Besessenheit mit der Vergangenheit hat, glaube ich, inzwischen Alibicharakter.
König: Herr Markschies, hat Broder recht? Die Besessenheit auf die Vergangenheit habe Alibicharakter, um von der Gegenwart abzulenken?
Markschies: Henryk Broder analysiert immer sehr präzise und trifft, wie es sich für einen klugen Publizisten gehört, den Kern und übersteigert ihn dann aus rhetorischen Gründen und aus Gründen, um Aufmerksamkeit zu lenken, erheblich. Natürlich gibt es gelegentlich eine Alibifunktion unseres Gedenkens. Aber wenn ich zum Beispiel daran denke, dass Darfur ein großes Thema in unserem Berliner Jüdischen Museum war und seine überaus eindrückliche Ausstellung da, dass alle Menschen, die zum Gedenken ins Jüdische Museum und Erinnern kamen, dort eine Fotoausstellung und mehrere Veranstaltungen hatten, dann würde ich fast sagen, in der Zuspitzung ist es ein wenig ungerecht, so pointiert wird man das nicht sagen können.
König: Die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, forderte gestern, der Antisemitismus solle wissenschaftlich untersucht werden. Sie, Herr Markschies, sind heute mit auf dem Podium dabei, wenn in Berlin das "Handbuch des Antisemitismus" vorgestellt wird, dessen erster Band jetzt erschienen ist, herausgegeben vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung. Wie arbeitet dieses Handbuch die Geschichte der Judenfeindschaft auf?
Markschies: Indem zunächst mal im ersten Band, der heute vorgestellt wird, von Albanien bis nach Russland sehr präzise mit Literaturhinweisen auf jeweils vier bis fünf Seiten die Geschichte des Antisemitismus in den jeweiligen Ländern von den Anfängen bis in die unmittelbare Gegenwart neuer Antisemitismus bilanziert wird. Und ich bin sehr beeindruckt davon, wie knapp präzise und informativ das in diesem Handbuch dargestellt ist.
König: Es gab in den ersten neun Monaten dieses Jahres 2008 in Deutschland fast 800 antisemitische und etwa 14.000 rechtsextreme Straftaten. Auf vielen Ebenen wird ja Judenfeindschaft als Phänomen diskutiert, über die Einführung eines Antisemitismusbeauftragten denkt die Bundesregierung nach. Wie sehen Sie den Antisemitismus in Deutschland und wäre ein Antisemitismusbeauftragter oder, auch darüber wird diskutiert, eine entsprechende Expertenkommission, wäre das ein wichtiger Schritt hin beim Kampf gegen den Antisemitismus in der Gegenwart?
Markschies: Man muss in jedem Falle sagen, was bestürzend ist, das macht auch noch mal deutlich, dass Herr Broder sehr einseitig ist, dass in Berlin beispielsweise Rabbiner täglich angegriffen werden, ist unannehmbar und unhinnehmbar. Und insofern sind alle Maßnahmen, die auch aufklären, wieso es immer wieder noch zum Aufflackern solcher Dinge kommt, sinnvoll und richtig. Eine Expertenkommission? Es gibt ja viele gute Experten in diesem Land. Es ist, glaube ich, eher besser, dass die vorhandenen Forschungen, zum Beispiel in Leipzig oder eben in Berlin, die dieses Handbuch herausgegeben haben, unterstützt werden. Das scheint mir zentral. Aber jede Form der Aufklärung und jedes Geld, das dort hineingegeben wird, ist gut angelegt.
König: Aber haben Sie auch den Eindruck, dass zum Beispiel der muslimische Antisemitismus an unseren Schulen hinreichend diskutiert und in "aufgearbeitet" wird oder, auch dieses Beispiel hat Herr Broder angeführt, dass die SPD sich heute mit Hisbollah-Leuten auf Konferenzen trifft, oder auch die Tatsache, dass das Existenzrecht Israels immer wieder zur Disposition gestellt wird? Wird dafür wirklich genug getan, dagegen natürlich?
Markschies: Zum einen gibt es so wunderbare Provokateure wie Henryk Broder, die immer wieder auf die verborgenen oder eben leider nicht verborgenen Antisemitismen auf den linken, auf den rechten Antisemitismus aufmerksam machen. Wir haben in Berlin sehr ausführliche Diskussionen. Es werden glücklicherweise etwa auch interne muslimische Predigten oder interne muslimische Texte durch Zeitungen ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Wenn zusätzliches Geld investiert wird, dann kann sicher auch noch mal die Antisemitismusforschung, die viel mit Vergangenheit zu tun hat aus guten Gründen, noch stärker auf den sogenannten neuen Antisemitismus und insbesondere auf den in muslimischen Kreisen in diesem Land gerichtet werden. Da gibt es allgemein hohen Aufklärungsbedarf.
König: Wie soll man denn Nazigräuel gedenken? Ein Gespräch mit dem Präsidenten der Berliner Humboldt-Universität, mit Prof. Christoph Markschies. Herr Markschies, vielen Dank für das Gespräch! Und ich bitte noch mal um Entschuldigung für die immer mal wieder nicht ganz so gute technische Qualität.
Christoph Markschies: Einen wunderschönen guten Morgen!
König: Die Bundeskanzlerin sagte gestern, sie wolle nicht als Richterin über das Verhalten der deutschen Bevölkerung gegen die Juden im November 1938 auftreten. Aber es sei an ihr, auf die Folgen des Schweigens hinzuweisen, das sei sie den Opfern schuldig. Und sie rief dazu auf hinzuschauen und zu protestieren, wenn Menschen gedemütigt und ausgegrenzt würden. Waren das für Sie angemessene Worte des Gedenkens?
Markschies: Oh ja. Die Gedenkveranstaltung in der Berliner Synagoge Rykestraße war sehr, sehr eindrücklich. Denn man konnte ja (…) Filme sehen und sah beispielsweise, wie am Morgen dann vor der brennenden Synagoge in Essen im Jahre 1938 die Menschen dastanden. Und genau das, was die Bundeskanzlerin gesagt hat, schweigend ansahen, wie die Synagoge abbrannte und die Feuerwehr nicht half oder gar noch dafür sorgte, dass sie schneller abbrannte. Und dass daraus eine Verpflichtung für uns heute erwächst, natürlich, selbstverständlich, das hat die Bundeskanzlerin sehr eindrücklich gesagt.
König: Hören wir vielleicht mal, was der Publizist Henryk M. Broder am Freitag über solche Gedenkfeiern hier bei uns im Programm sagte.
Henryk M. Broder: Das sind so Kammermusikveranstaltungen mit Buchsbäumen an der Bühne, mehr ist es nicht. Und Sie werden halt in kalendarischer Reihenfolge abgefeiert. Jetzt haben wir den 9. November, dann ist es der 27. Januar, die Befreiung von Auschwitz. Ich glaube, den meisten Leuten bedeutet das eigentlich nicht mehr viel. Und ich finde es im Prinzip auch gut, dass die Vergangenheit langsam in der Vergangenheit versinkt.
König: Den meisten Leuten bedeuten solche Veranstaltungen nicht viel. Man solle sich, sagte Herr Broder dann noch weiter, die Soße der Betroffenheit langsam ersparen. Glauben Sie das auch, Herr Markschies?
Markschies: Was ich am Anfang gesagt hatte, wir hatten ja nicht nur in Berlin gestern die Gedenkfeier in der Synagoge Rykestraße, sondern wir hatten einen großen Schweigemarsch, den die beiden Berliner Kirchen, die Evangelische und Katholische mit der jüdischen Gemeinde und an der Spitze mit dem Regierenden Bürgermeister Wowereit durchgeführt haben. Ich glaube, dass insbesondere (…) doch an die (…) denken, die es gegeben hat, dass durchaus ein (…) Gedenken keine Betroffenheitslyrik, natürlich (…) auch immer, da hat Henryk Broder (…), aber nicht nur ausschließlich Betroffenheitslyrik und auch nicht einen für die Bevölkerung in der Mehrheit uninteressantes Gedenken war, ganz gewiss nicht.
König: Meine Damen und Herren, Sie hören es, wir haben erhebliche Probleme mit der Leitung. Herr Markschies haben wir am Handy erwischt. Wir versuchen es noch einmal. Ich vermute, dann müssen wir es abbrechen, weil man nur sehr wenig versteht. Herr Markschies, wenn Sie vielleicht genau da stehen bleiben, wo Sie jetzt gerade sind, denn eben hat man Sie zum Schluss besser verstanden. Haben diese Veranstaltungen, so wie gestern, aber nicht doch tatsächlich im Laufe der Jahre etwas Rituelles bekommen? Oder anders gefragt, haben Sie gestern irgendeinen Satz gehört, bei dem Sie gedacht haben, ja, das ist etwas Neues, darüber lohn sich neu und anderes nachzudenken?
Markschies: (…) Ein Begräbnis ist ein Ritual. Dass Dinge rituell geschehen und auch Gedenken ritualisiert werden muss, ist an und für sich nichts Schlechtes. Schlimm wäre es tatsächlich nur, wenn es keinerlei neuen Gedanken geben würde. Wenn Sie daran denken, dass etwa die Verpflichtung, dass zur Identität des deutschen Staatsgedankens die Verpflichtung für Israel gehört, von der Bundeskanzlerin betont worden ist, wird man schon sagen müssen, es gibt immer wieder neue Sätze. Dass es so furchtbar viele neue Gedanken zu dem Thema nicht geben kann, würde ich auch für keine Katastrophe halten, denn schließlich ist es so, dass über die Katastrophe von vielen schon nachgedacht worden ist und allein schon dafür immer wieder wiederholte (…) wichtigen Gedanken ist ja auch.
König: Hören wir vielleicht noch mal Henryk M. Broder, der gesagt hatte, die Deutschen seien besessen von ihrer Vergangenheit.
Henryk M. Broder: Das stimmt nicht, dass die Deutschen mit der Vergangenheit nicht klarkommen. Sie kommen mit der Vergangenheit sehr gut klar. Womit sie nicht klarkommen, ist die Gegenwart, und das betrübt mich immer mehr. Wenn Sie sich angucken, was heute passiert, Darfur, im Kongo fängt wieder der alte Völkermord an. Das beansprucht einen Hauch der Aufmerksamkeit, den wir auf die Vergangenheit richten. Und diese Besessenheit mit der Vergangenheit hat, glaube ich, inzwischen Alibicharakter.
König: Herr Markschies, hat Broder recht? Die Besessenheit auf die Vergangenheit habe Alibicharakter, um von der Gegenwart abzulenken?
Markschies: Henryk Broder analysiert immer sehr präzise und trifft, wie es sich für einen klugen Publizisten gehört, den Kern und übersteigert ihn dann aus rhetorischen Gründen und aus Gründen, um Aufmerksamkeit zu lenken, erheblich. Natürlich gibt es gelegentlich eine Alibifunktion unseres Gedenkens. Aber wenn ich zum Beispiel daran denke, dass Darfur ein großes Thema in unserem Berliner Jüdischen Museum war und seine überaus eindrückliche Ausstellung da, dass alle Menschen, die zum Gedenken ins Jüdische Museum und Erinnern kamen, dort eine Fotoausstellung und mehrere Veranstaltungen hatten, dann würde ich fast sagen, in der Zuspitzung ist es ein wenig ungerecht, so pointiert wird man das nicht sagen können.
König: Die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, forderte gestern, der Antisemitismus solle wissenschaftlich untersucht werden. Sie, Herr Markschies, sind heute mit auf dem Podium dabei, wenn in Berlin das "Handbuch des Antisemitismus" vorgestellt wird, dessen erster Band jetzt erschienen ist, herausgegeben vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung. Wie arbeitet dieses Handbuch die Geschichte der Judenfeindschaft auf?
Markschies: Indem zunächst mal im ersten Band, der heute vorgestellt wird, von Albanien bis nach Russland sehr präzise mit Literaturhinweisen auf jeweils vier bis fünf Seiten die Geschichte des Antisemitismus in den jeweiligen Ländern von den Anfängen bis in die unmittelbare Gegenwart neuer Antisemitismus bilanziert wird. Und ich bin sehr beeindruckt davon, wie knapp präzise und informativ das in diesem Handbuch dargestellt ist.
König: Es gab in den ersten neun Monaten dieses Jahres 2008 in Deutschland fast 800 antisemitische und etwa 14.000 rechtsextreme Straftaten. Auf vielen Ebenen wird ja Judenfeindschaft als Phänomen diskutiert, über die Einführung eines Antisemitismusbeauftragten denkt die Bundesregierung nach. Wie sehen Sie den Antisemitismus in Deutschland und wäre ein Antisemitismusbeauftragter oder, auch darüber wird diskutiert, eine entsprechende Expertenkommission, wäre das ein wichtiger Schritt hin beim Kampf gegen den Antisemitismus in der Gegenwart?
Markschies: Man muss in jedem Falle sagen, was bestürzend ist, das macht auch noch mal deutlich, dass Herr Broder sehr einseitig ist, dass in Berlin beispielsweise Rabbiner täglich angegriffen werden, ist unannehmbar und unhinnehmbar. Und insofern sind alle Maßnahmen, die auch aufklären, wieso es immer wieder noch zum Aufflackern solcher Dinge kommt, sinnvoll und richtig. Eine Expertenkommission? Es gibt ja viele gute Experten in diesem Land. Es ist, glaube ich, eher besser, dass die vorhandenen Forschungen, zum Beispiel in Leipzig oder eben in Berlin, die dieses Handbuch herausgegeben haben, unterstützt werden. Das scheint mir zentral. Aber jede Form der Aufklärung und jedes Geld, das dort hineingegeben wird, ist gut angelegt.
König: Aber haben Sie auch den Eindruck, dass zum Beispiel der muslimische Antisemitismus an unseren Schulen hinreichend diskutiert und in "aufgearbeitet" wird oder, auch dieses Beispiel hat Herr Broder angeführt, dass die SPD sich heute mit Hisbollah-Leuten auf Konferenzen trifft, oder auch die Tatsache, dass das Existenzrecht Israels immer wieder zur Disposition gestellt wird? Wird dafür wirklich genug getan, dagegen natürlich?
Markschies: Zum einen gibt es so wunderbare Provokateure wie Henryk Broder, die immer wieder auf die verborgenen oder eben leider nicht verborgenen Antisemitismen auf den linken, auf den rechten Antisemitismus aufmerksam machen. Wir haben in Berlin sehr ausführliche Diskussionen. Es werden glücklicherweise etwa auch interne muslimische Predigten oder interne muslimische Texte durch Zeitungen ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Wenn zusätzliches Geld investiert wird, dann kann sicher auch noch mal die Antisemitismusforschung, die viel mit Vergangenheit zu tun hat aus guten Gründen, noch stärker auf den sogenannten neuen Antisemitismus und insbesondere auf den in muslimischen Kreisen in diesem Land gerichtet werden. Da gibt es allgemein hohen Aufklärungsbedarf.
König: Wie soll man denn Nazigräuel gedenken? Ein Gespräch mit dem Präsidenten der Berliner Humboldt-Universität, mit Prof. Christoph Markschies. Herr Markschies, vielen Dank für das Gespräch! Und ich bitte noch mal um Entschuldigung für die immer mal wieder nicht ganz so gute technische Qualität.