Mark Jones: „1923. Ein deutsches Trauma“

Wie die Deutschen die Krisenspirale hinabtrieben

06:54 Minuten
Cover zu Mark Jones' Buch "1923. Ein Deutsches Trauma".
© Propyläen Verlag

Mark Jones

Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz

1923. Ein deutsches Trauma Propyläen Verlag, Berlin 2022

384 Seiten

26,00 Euro

Von Arno Orzessek  · 12.09.2022
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Mark Jones beleuchtet die deutsche "Krisenspirale" des Jahres 1923. Die Weimarer Republik wankt unter den Attacken diverser Gegner, aber fällt nicht. Die große Geschichte und die Menschen, die sie alltäglich erlebten: "1923" wird beiden gerecht.
Um es flapsig zu sagen: "1923" gelesen, "1923" zugeklappt und verwundert gewesen. Und zwar darüber, dass die Weimarer Republik 1924 überhaupt noch existiert hat und die oft verklärten "Goldenen Zwanziger" beginnen konnten, die bis zur Weltwirtschaftskrise fünf Jahre später andauerten.
Denn die "Krisenspirale", wie Autor Mark Jones sie nennt, die sich am 11. Januar 1923 mit der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen zu drehen begann, drehte sich bis in den späten Herbst hinein unerhört kräftig.

Annus horribilis

Beispiellose Hyperinflation, wirtschaftliche Lähmung, Massenarbeitslosigkeit, Verarmung, Hunger, das deprimierende Gefühl nationaler Demütigung, separatistische Bestrebungen, Putschversuche von links und von rechts, offener Antisemitismus, notorische Straßenkämpfe, Gewalt, Morde, heikle Notlösungen seitens wechselnder Regierungen in Berlin: Der Untertitel des Buches "Ein deutsches Trauma" ist keine künstliche Stilisierung und Jones nicht der erste Historiker, der das Jahr 1923 als "annus horribilis" der Weimarer Republik identifiziert.
Menschen stehen im Jahr 1923 Schlange an einer Ausgabe für Fleisch.
Armut und Lebensmittelknappheit prägen das Deutschland von 1923. Menschen stehen Schlange, um Essen zu erhalten.© picture alliance / United Archives
Gleich einer düsteren Ouvertüre beleuchtet Jones zunächst den Mord an Walter Rathenau im Sommer 1922, in dessen Folge die Republik am "Scheideweg" stand. Ansonsten ordnet er jeden Themenkomplex einem Monat zu, angefangen mit "Januar: Französische Invasion". Das täuscht eine steife Ordnung vor, spielt im multiperspektivischen Durchgang durch den ganzjährigen Problemparcours aber keine Rolle. 

Geschichtsbild revidieren

Rasch fällt auf, dass Jones' Blick nicht an der Hauptstadt klebt. Wer die Weimarer Republik bis dato als diffusen Hintergrund der TV-Serie "Babylon Berlin" betrachtet hat, wird umlernen müssen. Neben der Besetzung des Ruhrgebiets sorgten die Bestrebungen um eine eigenständige Rheinische Republik für maximale Unruhe.
Auch Bayerns Landesregierung zündelte an der staatlichen Einheit und ging verdächtig freundlich mit der aufstrebenden NSDAP um. Nicht umsonst wurde München zum Schauplatz des gescheiterten Novemberputsches unter Adolf Hitler und Erich Ludendorff. Vielerorts bereiteten sich Kommunisten auf die ersehnte Revolution vor.

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In internationaler Perspektive konzentriert sich Jones auf Frankreich und geht mit Regierungschef Raymond Poincaré streng ins Gericht: Er habe durch Sturheit im Ruhrgebiet nichts für sein Land herausgeholt, während die gegängelten Deutschen irgendwann sogar in London Verständnis fanden. Von den USA, dem mächtigsten Kriegsgewinner, ist kaum die Rede - ein Mangel. 

Gegängelte Deutsche

Hin und wieder folgt Jones dem hegelianischen Muster "Große Männer machen Geschichte" und vernachlässigt darüber Institutionelles, Verträge und Gesetze. Doch zugleich ist er dank der Auswertung von Zeitungsartikeln, Protokollen, Tagebüchern und Briefen nahe bei den Menschen aller Schichten.
Er schildert den Hunger (und den Geruch) von Kindern restlos verarmter Familien, er beschreibt die Vergewaltigungen deutscher Frauen durch französische Soldaten bestürzend eindringlich, er kennt die Waffen und die Toten der Straßenkämpfe - und schreibt so in der Tat eine Geschichte, die "von den Wunden und dem Schmerz, von den Schreien und Hilferufen [nicht] gesäubert" ist.
Es ist ein packenden Buch mit einem irritierenden Epilog: Jones zieht populistische Parallelen zwischen Hitlers Bierkellern und den Sozialen Medien. Und er fordert Deutschland dazu auf, 2023 den 100. Jahrestag des "Sieges der Demokraten" zu feiern. Dabei gäbe es bestenfalls "keine Niederlage" zu feiern.  
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