Mark Gevisser: "Die pinke Linie"

Wer alles zum "Wir" gehört

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Buchcover zu "Die pinke Linie"
Spannend und hochreflexiv: Mark Gevissers Buch "Die pinke Linie". © Deutschlandradio / Suhrkamp
Von Marko Martin · 19.04.2021
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Der südafrikanische Essayist Mark Gevisser beschreibt nicht nur die weltweiten Kämpfe um sexuelle Selbstbestimmung und Geschlechtsidentität, sondern sondiert auch die Konflikte und Widersprüche der gegenwärtigen Identitätspolitik.
Was ist eine "pinke Linie"? Der südafrikanische Essayist Mark Gevisser definiert sie in seinem gleichnamigen Buch, das soeben in deutscher Übersetzung erschienen ist, als ein "Grenzgebiet des Menschenrechtsdiskurses, das die Welt in den ersten zwei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts auf eine gänzlich neue Art teilt und beschreibt".

Menschenschicksale rund um die Welt

Um es gleich vorab zu sagen: Dieses (inklusive Fußnoten) über sechshundertseitige Werk hat nichts gemein mit jenen zu Büchern aufgeblasenen Hashtags, Tweets oder Blog-Einträgen, die seit einiger Zeit so manches Verlagsprogramm auf vermeintlich progressive Weise füllen. Mark Gevisser, 1964 in Kapstadt geboren, kennt die Nuancen zwischen schwul, lesbisch, nicht-binär oder trans zu gut, um in schrille Polemik gegen eine vermeintlich "weiß-westlich-kapitalistisch dominierte Heteronormativität" abzudriften.
Stattdessen beschreibt er mit der Verve des Reporters und dem Feingefühl eines Schriftstellers Menschenschicksale rund um die Welt. Da ist etwa die Transfrau aus Malawi, die nach einer inoffiziellen Heirat mit einem Mann aus ihrem Land fliehen musste und sich nun in einem südafrikanischen Township mehr schlecht als recht durchschlägt. Da ist ein lesbisches Pärchen aus Russland und die Geschichte ihres Sohnes oder das Schicksal junger Inderinnen, die nicht in traditionelle Geschlechterrollen hineinpassen.

Westliche Einflüsse

Wobei – und auch das ist eine Stärke dieses ebenso spannenden wie hochreflexiven Buchs – sich der Autor hier gleichsam ins Wort fällt und skrupulös nachfragt. Denn war es nicht so, dass in Indien, aber auch in Indonesien und sogar in den muslimisch geprägten Gegenden Nigerias und Senegals seit jeher die Existenz eines "dritten Geschlechts" (ganz zu schweigen von nicht-benannter Homosexualität) toleriert worden war, nun jedoch ein gewisser westlich-aktivistischer Definitionsfuror das Gefüge durcheinanderbringt – oft zu Ungunsten der Betroffenen? Gleichzeitig strahlen im Westen mühsam erkämpfte Errungenschaften, wie etwa das verfassungsmäßig garantierte Recht auf gleichgeschlechtliche Ehen, weltweit aus und ermutigen nun überall Menschen, sich vernehmlich bemerkbar zu machen.

Armut und Ausbeutung

Anders als etwa die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht in ihrem aktuellen Buch "Die Selbstgerechten" insinuiert, besteht dabei kein Widerspruch zwischen den Kämpfen für sexuelle Emanzipation und der Sensibilität für sozial bedingte "hard facts". Wo nämlich Armut und Ausbeutung herrschen, so Gevissers empirisch beglaubigte Wahrnehmung, ist es auch um die Rechte der Minderheiten schlecht bestellt - und vice versa.
Zu einem undifferenzierten Lobgesang auf den liberalen Westen wird das Buch dabei in keiner Zeile. Denn auch für Verfolgte aus anderen Teilen der Welt, die es als staatlich anerkannte Geflüchtete nach Amsterdam oder Toronto geschafft haben, besteht keine Garantie für ein ab nun per se glückliches Leben. Die pinke Linie ist auch hier eher als Zickzack zu verstehen, und selbst fortschrittlichste Gesetzgebung wird niemals die persönliche Tragik von Einsamkeitserfahrungen oder Trennungsschmerz aufheben können.
Genau davon zu erzählen, ohne sich in enigmatischer Begrifflichkeit oder zänkischer Shitstorm-Rhetorik zu verlieren, ist eine immense Herausforderung - Mark Gevisser hat sie in seinem Buch auf ebenso präzise wie empathische Weise beeindruckend gemeistert.

Mark Gevisser: "Die pinke Linie. Weltweite Kämpfe um sexuelle Selbstbestimmung und Geschlechtsidentität"
Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Heike Schlatterer
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021
655 Seiten, 28 Euro

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