Marie-Antoinette und Marie Namenlos in Paris

Von Frieder Reininghaus · 29.03.2008
Um eine verschwendungssüchtige Königin und eine gefühlsechte Geliebte drehen sich zwei neue Inszenierungen in Paris: Robert Carsen hat sich dem Leben und Sterben von Marie Antoinette gewidmet, Christoph Marthaler präsentiert die Liebesgeschichte zwischen Frank Wozzeck und einer Zugewanderten. Auch wenn beide den Namen Marie tragen hatte ihr Leben wenig viel gemein.
Beide hießen Marie. Nicht lange nacheinander erschienen sie auf der Bühne des wirklichen Lebens, kurz vor beziehungsweise nach der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Doch lässt sich ihr Leben unterschiedlicher kaum denken.

Die eine kam als Prinzessin des Hauses Habsburg auf die Welt. Mit vierzehn Jahren avancierte sie zur Dauphine von Frankreich, bald darauf an der Seite Ludwigs XVI. zur Königin. Sie wurde für ihre Verschwendungssucht und ihre Libertinage bekannt. Ihr schreckliches Ende als "Witwe Capet" unterm Fallbeil provozierte bei manchen Schadenfreude, weit mehr aber ein keineswegs nur politisch motiviertes Mitgefühl.

Von der andern wissen wir nur den Vornamen und dass es ihr nicht gelang, eine "honette Person" zu werden. Von Anfang bis zum allzu frühen Ende reichte es bei ihr kaum zum Nötigsten. Als ihr die Kehle durchgeschnitten wurde, hinterließ sie einen etwa sechsjährigen Knaben: das Pfand der im bedrängten Leben allzu sehr beschädigten Liebe zu Franz Wozzeck.

Der Opernregisseur Robert Carsen arrangierte im Grand Palais an den Champs Elysées eine opulente Ausstellung zum rauschenden Leben und gewaltsamen Sterben der Marie-Antoinette. In drei "Aufzügen" (Sektionen) zeigte er die Gnade der erlauchten Geburt und der frühen Verwertung auf dem hochadligen Heiratsmarkt, die Faszination von Reichtum und Glamour, Repräsentation und Personenkult, die Selbstverständlichkeit einer apolitischen weiblichen Selbstverwirklichung an einem der politischen Knotenpunkte des Ancien régime - und er zeigte dies weitgehend aus der Königs- und Hofmaler(innen)perspektive. Fasziniert von "denen da oben".

Für das Kontrastprogramm und "Marienverehrung" ganz anderer Art sorgte Christoph Marthaler in der Opéra Bastille mit Alban Bergs "Wozzeck". Fast zu nobel intoniert Simon Keenlyside die Titelpartie. Als "Stadtsoldat", ursprünglich Wachmann und Dienstbote in Georg Büchners Vormärzzeit, trägt er in Anna Viebrocks Ausstattung eine Armbinde mit der Aufschrift "Security" überm durchgeschwitzten Bundeswehrpullover. Er ist also ein Wachmann geblieben, der als Versuchskaninchen einer medizinischen Testreihe und mit diversen anderen Dienstleitungen das unterm Existenzminimum liegende Grundeinkommen aufbessert.

Also kellnert er in einer Mehrzweckhalle, halb Kantine, halb Festzelt für die schnapsgetränkte Kirmes. An gut einem Dutzend Kantinentischen ergeben sich wie selbstverständlich die unterschiedlichen Kontroversen mit und um Wozzeck. Der baumlange, gewaltig prollende und mit Irokesenschnitt imponierende Tambourmajor Jon Villars stößt den Klavierspieler, der die ganze Zeit rechts vorn auf seinen Einsatz bei der Bühnenmusik wartet, einmal beiläufig vom Stuhl. Sonst gibt es keine massiven Anzeichen von Gewalt.

Das ist konsequent: Das Terroristische der beengten Verhältnisse, das bei Büchner unausgesprochen blieb, wird von Marthaler zu keinem Zeitpunkt drastisch gezeigt, Es ist stillschweigend omnipräsent - im Gebaren des massigen Mediziners (Roland Bracht), dank des ohrenbetäubenden Humors eines lebensecht aussehenden Bundeswehrhauptmanns (Gerhard Siegel), und insbesondre in der ganz alltäglichen Frontstellung der Paare und Passanten gegen den Außenseiter Wozzeck.

Dessen Lebensteilzeitpartnerin Marie zeigt Angela Denoke als gefühlsechte junge Frau, die augenscheinlich aus Osteuropa zuwanderte. Schnörkellos singt sie die Partie, lässt die Lustmomente funkeln und macht das gebannte Starren auf das finale Verhängnis zum atemberaubenden Ereignis. Dass Bühnengeschehen und musikalischer Fluss wie aus einem Guss wirken, ist in hohem Maß der Umsicht und den Dosierungen von Sylvain Cambreling zuzuschreiben. Das Orchestre de l’Opéra National liefert unter seinen Händen ein Muster an Homogenität, Klangsensibilität und charakteristisch wechselnden Einfärbungen: Hohe Kunst der kleinsten Übergänge.

Das Marthaler-Team hat großes Theater mit den kleinen Leuten auf die größte der Pariser Bühnen gebracht. Ohne alles Geschmäcklerische. Ohne Berührungsängste gegenüber den sozialen Niederungen: mit liebevoller Zuwendung zu "denen da unten".

Alban Berg: Wozzeck
29.3. bis 19.4.2008
Opéra National de Paris
Regie: Christoph Marthaler

Marie Antoinette
15.3. bis 19.4.2008
Grand Palais Paris
Von Robert Carson