María Cecilia Barbetta: "Nachtleuchten"

Ein Roman wie ein Panoramabild

Eine Epoche voller Unruhe beschreibt die 1972 in Argentinien geborene María Cecilia Barbetta in ihrem Roman "Nachtleuchten" und folgt dabei einem Kosmos von Erinnerungen.
María Cecilia Barbetta zeigt dem Leser ein kunterbunt gemischtes, suburbanes Städtchen, in dem das Leben seinen Gang geht. © imago/imagebroker; Fischer-Verlage
Von Dirk Fuhrig · 16.08.2018
In "Nachtleuchten" erzählt María Cecilia Barbetta vom Leben in einer argentinischen Stadt in den politisch konfliktreichen 1970er Jahren. Im Sog der Erinnerung gelingt der Autorin eine großartig geschriebene Hommage an die Gemeinde Ballester und ihre Bewohner.
Buenos Aires, Anfang der 70er-Jahre. Eine Epoche voller Unruhe und der Radikalisierung zwischen Links und Rechts. 1973 kehrte Juan Perón triumphal aus dem spanischen Exil zurück, er wurde zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt, starb jedoch wenige Monate später. Bald darauf, 1976, übernahmen die Generäle die Macht und überzogen das Land sieben Jahre lang mit ihrer repressiven Diktatur.
María Cecilia Barbetta wurde 1972 geboren und hat diese zerrissene Zeit vor der argentinischen "Machtergreifung" als kleines Mädchen erlebt. Sie wuchs in Ballester auf, der Gemeinde im Großraum Buenos Aires, die sie zum Schauplatz dieses Romans gemacht hat. Sie hat ihn – wie schon ihr erfolgreiches Debüt "Änderungsschneiderei Los Milagros" aus dem Jahr 2008 – auf Deutsch geschrieben. Seit mehr als 20 Jahren lebt María Cecilia Barbetta in Berlin.

Frömmigkeit, Aberglaube, soziale Spaltungen

Die Autorin schildert die Gegensätze, die ihre Heimatstadt Ballester im Nordwesten von Buenos Aires damals prägten: Zum einen die traditionelle Frömmigkeit, kultiviert in der katholischen Schule "Santa Ana". Der Aberglaube, symbolisiert in einer Holzmadonna, die in der Dunkelheit strahlt – und zwar, wie sich am Ende herausstellt, weil sie mit einer Nachtleuchtfarbe bestrichen ist; daher auch der Romantitel "Nachtleuchten". Die sozialen Spaltungen zwischen Mittelschicht und einigen Villenbesitzern. Die multikulturelle Atmosphäre in dem Einwandererviertel, die sich in der Kfz-Werkstatt mit dem schönen Namen "Autopia" einstellt. Oder der Frisörsalon "Ewige Schönheit" mit seinem geschwätzigen Personal.
María Cecilia Barbetta zeigt dem Leser ein kunterbunt gemischtes, suburbanes Städtchen, in dem das Leben seinen Gang geht, während die große Politik immer nur wie ein leichter Hauch vorbeizustreifen scheint. Die gesellschaftlichen Umwälzungen und die mitunter brutalen Kämpfe zwischen dem rechten und linken Lager, auch innerhalb der peronistischen Partei, kündigen sich im Text nur untergründig und punktuell an. Und auch fast nur in den Gesprächen der Betreiber und Angestellten der "utopischen" Autoschlosserei, die den Mittelteil des Buchs bilden. Oder in der Perspektive einiger Hobby-Journalisten, die einen Lokalanzeiger bestücken.
Mehr als für das politische Geschehen interessiert sich die Erzählerin für die persönlichen Eigenarten der Bewohner von Ballester und für die Namen der unzähligen essbaren Stücke vom Rind, die man in Argentinien auf den Grill wirft. Oder für die verführerischen Cremeschnittchen, die in den Konditoreien von Buenos Aires locken.

Orte, politische Geschichte und Alltag in allen Facetten

Die Welt, in die uns María Cecilia Barbetta einführt, ist die der südamerikanischen Romantradition, eine breit auserzählte Menschen- und Sittenbeschreibung, in äußerster Feinheit und Ausgiebigkeit ausgeleuchtet. Orte, politische Geschichte und Alltag verknüpft sie zu einem dichten, labyrinthischen Geflecht, mit zahllosen Akteuren. Die Geografie der Stadt ist wie ein Raster, in das sie alltägliche Ereignisse einfügt. So ähnlich hat sie es auch bereits in der "Änderungsschreinerei Los Milagros" gemacht. Man fühlt sich dabei unweigerlich an die Methode des französischen Nobelpreisträgers Patrick Modiano erinnert, für dessen Romane die Straßen und Gebäude von Paris das innere Gerüst bilden.

María Cecilia Barbetta entwirft einen Kosmos aus Erinnerungen, der sich immer wieder verzweigt und keinem stringenten Erzählfaden folgt. Das Buch gleicht einem breitflächigen Gemälde, das ständig weitergemalt wird. Man mag bedauern, dass die politisch-gesellschaftliche Ebene darin so sehr als Nebensache behandelt wird. Auch ist es verblüffend, wie wenig man von der Autorin selbst in diesem Text spürt, obwohl doch ganz offensichtlich sehr viele autobiografische Elemente darin vorhanden sind. Die Sprache wirkt in dieser Hinsicht merkwürdig distanziert. Das macht es nicht ganz leicht, in diese Romanwelt einzutauchen.
Dennoch: "Nachtleuchten" ist stilistisch herausragend, es ist eine großartig geschriebene Hommage an die Stadt Ballester und ihre Bewohner. Eine Feier der Ausschmückung und Abschweifung, in komplexen Sätzen, gelegentlich unterbrochen von sprachspielerischen, grafischen Einschüben. Eine anspruchsvolle Lektüre für Liebhaber des literarischen Groß-Panoramas.

María Cecilia Barbetta: Nachtleuchten
Fischer, Frankfurt 2018
528 Seiten, 24 Euro

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