Margaret Atwood: "Das Herz kommt zuletzt"

Neues von der Meisterin der Dystopie

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In Margaret Atwoods neuem Roman leben die braven Bürger freiwillig im Gefängnis. © Foto: picture alliance / dpa / Britta Pedersen, Buch-Cover: Piper-Verlag
Von Marten Hahn · 27.06.2017
Wenn Banden das Land terrorisieren, dann lebt es sich am sichersten im Gefängnis. Finden jedenfalls die Bürger von Concilience in Margaret Atwoods neuem Roman und begeben sich freiwillig dort hinein. "Ein wunderbar absurdes Buch", urteilt unser Rezensent Marten Hahn.
Stan und Charmaine zögern nur kurz. Dann entscheidet sich das junge Paar für ein Leben in der Stadt Concilience, auch wenn der Alltag dort ungewöhnlich strukturiert ist: Einen Monat verbringen die Bewohner in Freiheit, einen im Knast. So gibt es wenigstens jeden zweiten Monat flauschige Handtücher und ein eigenes Dach über dem Kopf. Vor den Toren der Stadt hingegen, im Rest der USA, wütet eine Wirtschaftskrise. Es herrschen Arbeits- und Obdachlosigkeit, Banden terrorisieren das Land.
Aber Margaret Atwood wäre nicht Margaret Atwood, würde die Situation nicht auch in ihrem neuen Roman "Das Herz kommt zuletzt" schnell kippen. Die vermeintliche Lösung der Krise – die Kombination aus Arbeitsknast und bürgerlicher Idylle – wird zum Albtraum. Nicht nur weil im Gefängnis Häftlinge verschwinden.

Wenn vermeintliche Normalität ins Unmenschliche kippt

Die kanadische Autorin, geboren 1939, hat sich im Lauf ihrere langen Karriere einen Namen als Meisterin der Dystopie gemacht. Nun gibt es da draußen mittlerweile so viele übermächtige Technologien und zwielichtige Machthaber: Auch wenig zielsichere Autoren treffen mit dystopischem Geraune im Moment oft ins Schwarze. Aber kaum jemand tut das seit Jahrzehnten so intelligent wie Margaret Atwood - und ohne dabei den Humor zu verlieren.
Dafür wird Margaret Atwood in diesem Herbst mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Der Stiftungsrat des Börsenvereins ehrt Atwoods "politisches Gespür und ihre Hellhörigkeit für gefährliche unterschwellige Entwicklungen und Strömungen." Sie zeige, "wie leicht vermeintliche Normalität ins Unmenschliche kippen kann".
Nicht ganz unschuldig an der Ehrung dürfte Donald Trump sein. Die Politik des US-Präsidenten lässt Atwoods Werk noch einmal prophetisch leuchten. Ihr Klassiker "Der Report der Magd" aus dem Jahr 1985, der vom Wandel der USA hin zu einer frauenfeindlichen Theokratie erzählt, kletterte nach der US-Wahl in den Amazon-Bestsellerlisten nach oben. Dass der Roman dieses Jahr als TV-Serie verfilmt wurde, dürfte noch einmal zur Renaissance von Magaret Atwood beigetragen haben.

Wir Smartphone-Junkies und Amazon-Besteller

In "Das Herz kommt zuletzt" zielt sie nun erneut auf post-demokratische Strukturen. Das Stadt-Projekt Concilience sieht so aus, als hätte Apple ein schaurig-schönes Gesellschaftsmodell entworfen. Während das neue Leben außer Kontrolle gerät, fragt sich Stan: "Aber wer hat ihn denn eingesperrt und isoliert? Er sich doch selbst. Eine Vielzahl kleiner Entscheidungen. Die Reduktion seines Ich auf eine Zahlenkolonne, von Fremden gespeichert, von Fremden kontrolliert." Und so schreibt Atwood wie alle Science-Fiction-Autoren nicht über eine Gesellschaft in der fernen Zukunft, sondern über uns, im Hier und Jetzt. Uns Smartphone-Junkies und Amazon-Besteller. Uns Google-Maps-Navigatoren und Facebook-Voyeure.
Weil Atwood aber nicht nur belehren, sondern auch unterhalten will, peppt sie das Ganze mit der bewährten Mischung aus Sex, Lügen und Videos auf. Stan und Charmaine verfallen ihren Tauschpartnern, dem Paar, das in ihrem Haus wohnt, während die beiden ihre Zeit im Gefängnis absitzen. Atwood macht so aus einem Roman über eine Welt in Scherben einen Roman über eine Ehe in Scherben. "Das Herz kommt zuletzt" ist ein wunderbar absurdes Buch über Technologie - und über sexuelle Obsessionen.

Margaret Atwood: "Das Herz kommt zuletzt"
Aus dem Englischen von Monika Baark
Piper-Verlag, München 2017
400 Seiten, 22,00 Euro

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