Margaret Atwood

Die wasserlose Sintflut

Porträt der kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood mit einer Glaskugel in der Hand, 2021.
Margaret Atwood schaut in die Zukunft - und sie warnt vor dem, was sie sieht. © Getty Images / Leonardo Cendamo
Von Harald Brandt · 29.10.2022
Die 1939 geborene Schriftstellerin Margaret Atwood gehört zu den großen Stimmen unserer Zeit. In ihrem Werk warnt sie vor politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die das Ende von Demokratie und Menschenrechten bedeuten könnten.
In ihrer MaddAddam-Trilogie entwirft Margaret Atwood ein düsteres Zukunftsszenario vom Untergang der menschlichen Spezies. Haupterzähler im ersten Teil "Oryx und Crake", ist Jimmy-Schneemensch, einer der wenigen Überlebenden einer künstlich erzeugten Pandemie, die zum Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation geführt hat. Schneemensch ist der Name, den er sich für die Craker gegeben hat, eine neue, im Labor erzeugte menschenähnliche Spezies. Schneemensch ist für sie eine Art Prophet, der die Verbindung zu ihrem Erzeuger, dem Biowissenschaftler Crake aufrechterhält.

Optimierung und Zerstörung

In einem Vortrag in der Townhall von Seattle 2010 erläutert Margaret Atwood die Besonderheiten der neuen Spezies: "Die Crakers wurden gentechnisch so verändert, daß sie viele der Probleme vermeiden, die uns plagen. Und weil sie nicht aggressiv sind, sah sich ihr Schöpfer gezwungen, uns loszuwerden, denn diese Menschen hätten gegen uns keine Chance gehabt. Sie brauchen keine Kleidung, also tragen sie auch keine. Sie haben einen eingebauten Sonnenschutz, eine gute Sache. Sie haben ein eingebautes Insektenschutzmittel, was noch besser ist, und sie haben zusätzliche Sohlen an den Füßen."
"Erinnerst du dich an die Notlage der Zahnärzte, nachdem diese neue Mundspülung auf den Markt gekommen war, die Zahnbelagsbakterien durch freundliche Bakterien ersetzte, die sich in derselben ökologischen Nische ansiedelten, nämlich in deinem Mund? Auf einmal brauchte niemand mehr Füllungen, und viele Zahnärzte gingen bankrott."
"Und?"
"Du brauchst also mehr Kranke. Oder – und das läuft vielleicht auf dasselbe hinaus – mehr Krankheiten. Neue und andere. Richtig?«
"Klingt plausibel", sagte Jimmy nach einer Pause. Es klang wirklich plausibel. "Aber entdecken sie nicht dauernd neue Krankheiten?"
"Nicht entdecken", sagte Crake. "Sie erzeugen sie."

Makellosigkeit versus Unvollkommenheit

"Jedes Mal, wenn die Frauen auftauchen, ist Schneemensch von neuem verblüfft. Sie weisen alle bekannten Farben auf, vom tiefsten Schwarz bis zum weißesten Weiß, sie sind unterschiedlich groß, aber jede von ihnen ist bewundernswert wohlgeformt. Jede hat strahlende Zähne und die glatteste Haut. Keine Fettwülste um die Taille, keine Ausbuchtungen und Dellen, keine Orangenhaut an den Schenkeln. Kein einziges Körperhaar, nichts Buschiges. Sie sehen aus wie retuschierte Fotomodelle oder Reklamefotos für teure Fitnessprogramme. Vielleicht ist das der Grund, weshalb diese Frauen in Schneemensch nicht den geringsten Anflug von Begehren wecken. Es waren die Fingerabdrücke der Unvollkommenheit, die ihn einst angerührt haben, die kleinen Webfehler: das asymmetrische Lächeln, die Warze neben dem Nabel, das Muttermal, der blaue Fleck. Das waren die Stellen, nach denen er suchte, auf die er den Mund legte. Wollte er damit Trost spenden, die Wunde küssen, um sie zu heilen? Mit Sex war immer ein Stück Melancholie verbunden. Nach der Wahllosigkeit seiner Jugend hatte er traurige Frauen bevorzugt, zarte und zerbrechliche Wesen, Frauen, die verletzt worden waren und die ihn brauchten. Er liebte es, sie zu trösten, sie erst zärtlich zu streicheln, sie zu beruhigen. Sie ein bißchen glücklich zu machen, wenn auch nur für einen Moment."

Fruchtbarkeit und Überbevölkerung - Die Frau als Gebärmaschine

1985 veröffentlich Margaret Atwood ihren dystopischen Roman "The Handmaid's Tale – Der Report der Magd", in dem sie ein totalitäres Amerika beschreibt, das Frauen als Gebärmaschinen benutzt und unterdrückt.
Buchcover von "The Handmaid's Tale" von Margaret Atwood.
"The Handmaid's Tale" von Margaret Atwood© Vintage Classics
In einem Café in Frankfurt spricht die Amerikanistin Eva-Sabine Zehelein über die Aktualität dieses Buches, das Margaret Atwood weltweit bekannt gemacht hat: „Ihr Werk zeichnet sich ja oft dadurch aus, dass sie sehr genau beobachtet, das, was im Jetzt passiert und dann die Frage stellt: Was wäre wenn? Und schreibt das dann fort und projiziert es in ein Zukunftsszenario, und in diesem Fall ein sehr dystopisches. Und 'Handmaid's Tale' ist genau das. Sie hat ihre Zeit beobachtet und gedacht: 'Was wäre, wenn sich ein totalitäres Regime installieren würde ... wenn es die Frauen erfolgreich unterdrückt, wenn es sie aus dem öffentlichen Leben verbannt, wenn es ihnen ihren Namen entzieht, wenn es ihre Rechte entzieht und auch ihrer Rechte auf körperliche Selbstbestimmung beraubt.'“ Das Thema Fruchtbarkeit und Überbevölkerung ist sowohl in "The Handmaid's Tale" als auch in der Trilogie zentral.

Genlabor Afrika oder "Das Jahr der Flut"

In ihrem Dokumentarfilm "Genlabor Afrika –  Die Geschäfte des Bill Gates" zeigen Jean-Baptiste Renaud und Lila Berdugo die Macht von Milliardären und Konzernen auf. Im Programmtext von ARTE heißt es:
„Lobbyisten, Philanthropen und Geschäftsleute plädieren für den Einsatz von Gentechnik in Afrika. Diskret und gegen kritische Stimmen gefeit, tüfteln Forscherinnen und Forscher an der genetischen Veränderung von Maniokpflanzen oder Mücken zur Lösung des Malariaproblems. (…) 'Genlabor Afrika – Die Geschäfte des Bill Gates' öffnet die Tore zur schönen neuen Welt des Philantrokapitalismus, in der Wohltätigkeit und Geschäftemacherei keine Gegensätze mehr sind, Gentechnik als Hungerhilfe getarnt wird und öffentliche Investitionen im Dienste privater Interessen stehen."
Ein ähnliches Szenario entwirft Atwood in ihrem Roman "Das Jahr der Flut", wo Tobys Mutter, nachdem sie die Vitaminpräparate "HelthWyzer" regelmäßig einnimmt, schwer erkrankt. "Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, meine Liebe", sagte Pilar, "dass deine Mutter vielleicht ein Versuchskaninchen war?" Hier wird deutlich, wie sehr Atwoods speculative fiction heute schon keine Spekulation mehr ist, sondern Realität.

Wie entsteht Utopie?

In dem Artikel "Wie Utopie entstand" denkt Margaret Atwood über die Einbettung utopischer Themen in die abendländische Tradition nach: "Die Utopie beziehungsweise Dystopie als Form entsteht offenbar nur in monotheistischen oder wie bei Platon auf der Idee des Guten fußenden Kulturen mit einer linearen, zielorientierten Zeitvorstellung."
Porträtzeichnung von dem griechischen Philosoph Platon, ca. 1783.
Im Hintergrund jeder modernen Utopie stehen Platons Ideen© imago images / Cinema Publishers
In polytheistischen Kulturen mit einem zirkulären Zeitverständnis entsteht sie anscheinend nicht. Warum sollte man die Gesellschaft verbessern oder sie sich auch nur verbessert vorstellen, wenn sich alles im Kreis dreht wie Wäsche in der Waschmaschine? Und wie ließe sich überhaupt eine "gute" Gesellschaft im Unterschied zu einer "schlechten" definieren, wenn man gut und schlecht als zwei Seiten derselben Medaille betrachtet?
Die jüdisch-christliche Tradition hingegen hat als linearer Monotheismus – ein Gott und ein roter Faden von der Genesis bis zur Offenbarung – viele fiktionale Utopien hervorgebracht und eine ganze Reihe von Versuchen, die schöne Vorstellung auch auf Erden zu verwirklichen, vom Wagnis der Pilgerväter – "Wir werden sein wie die Stadt auf dem Berge, wie das Licht der Welt" – bis hin zum Marxismus.
Im Marxismus wird Gott durch die Geschichte als Determinante ersetzt und das neue Jerusalem durch die klassenlose Gesellschaft, aber dass die Zeit zwingend Veränderung bringt, und zwar in Richtung Vollkommenheit, wird hier wie dort postuliert. Im Hintergrund jeder modernen Utopie lauern Platons Staat und die Johannesoffenbarung, und moderne Dystopien sind gern von verschiedenen literarischen Versionen der Hölle beeinflusst, vor allem von denen von Dante und Milton, die wiederum auf die Bibel zurückgehen, diese unentbehrliche Quellensammlung der abendländischen Literatur.

Dilemma ohne Notausgang?

Wenn Konzerne und Milliardäre immer mehr Macht haben, wird die Wahrheit zu einem umkämpften Begriff, meint der deutsche Journalist Caspar Shaller bei seinem Interview mit Margaret Atwood in Toronto. Die Autorin antwortet ihm:

Ganz weit draußen, an den Rändern des politisch Vertretbaren, gibt es Wahnsinnige, die wollen die Wahrheit verschwinden lassen. Sie wollen aus einem politischen Kampf um die Deutungshoheit einen Kampf um die Wahrheit machen."

"Ist die Erde flach oder nicht? Schützen Impfungen Ihre Kinder vor Masern oder machen sie sie zu Autisten? Da landen wir wieder bei Orwell und dem Erinnerungsloch, in das wir alles verschwinden lassen sollen, was der Macht gefährlich werden kann: Ich werde die Geschichte anders erzählen, und du wirst der Version der Geschichte glauben müssen, die ich dir präsentiere. Denn ich habe die Macht dazu und die Kontrolle darüber. Und wenn du meiner Version der Geschichte nicht applaudierst, töte ich dich. Das kann man tun, wenn man Tyrann ist."

Die Rolle der Kunst

Was ist die Rolle der Kunst in einer Welt, die scheinbar nur noch von Kriegen und Umweltkatastrophen beherrscht wird. In ihrer Dankesrede zum Friedenspreis 2017 versucht Margaret Atwood darauf eine Antwort zu geben:
Margaret Atwood bei einer Pressekonferenz zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, 2017.
Margaret Atwood bei der Verleihung des Friedenspreises 2017© picture alliance / Arne Dedert
„Es gibt Hoffnung, es gibt Hoffnung: geniale Köpfe arbeiten bereits an Problemen wie diesen. Aber was soll man einstweilen als Künstler tun? Wozu überhaupt Kunst schaffen, in so verstörenden Zeiten? Was ist das überhaupt – Kunst? Warum sollten wir uns damit abgeben? Was macht man damit? Lernen, lehren, uns ausdrücken, die Realität beschreiben, uns unterhalten, die Wahrheit darstellen, feiern oder gar anklagen und verfluchen? Es gibt keine allgemeingültige Antwort. Seitdem der Mensch erkennbar menschliche Züge trägt, hat er Kunst geschaffen – Musik, Bilder, Theater – auch Rituale –, und Sprachkunst mitsamt dem Erzählen von Geschichten. Kinder reagieren auf Sprache und Musik, bevor sie selbst sprechen können: Die Fähigkeit scheint integriert zu sein. Die Kunst, die wir schaffen, ist spezifisch für die zugrunde liegende Kultur – für deren Standort, deren treibendes Energiesystem, deren Klima und Nahrungsquellen, und für deren Glaubensvorstellungen, die wiederum mit allem verbunden sind. Aber noch nie haben wir keine Kunst geschaffen."

Literatur:
Margaret Atwood: Oryx und Crake, Piper 2017
Margaret Atwood: Das Jahr der Flut, Piper 2017
Margaret Atwood: Aus Neugier und Leidenschaft, Piper 2017
Margaret Atwood: Der Report der Magd, Piper 1920

Eine Produktion von Deutschlandfunk/Deutschlandfunk Kultur 2022. Das Skript zur Sendung finden Sie hier.
Mehr zum Thema