Marcel Proust: "Die Entflohene"

Reclam mit seinem ganz eigenen Proust

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Der französische Schriftsteller Marcel Proust schuf mit seinem siebenteiligen Werk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" ein monumentales Meisterwerk des Romans des 20. Jahrhunderts. © picture-alliance / dpa / Ullstein
Von Rainer Moritz · 25.06.2016
Ganz alt der Titel, ganz neu die Übersetzung, ebenso die Anordnung und die Auswahl dieses Proust-Textes "Die Entflohene". Der Dichter selbst war über sein unveröffentlichtes und ungekürztes Manuskript hingestorben, so dass immer wieder neue Bearbeitungen erscheinen. Die Reclam-Version nun überzeugt.
"Mademoiselle Albertine ist gegangen!" – mit diesem Ausruf der Bediensteten Françoise setzt der sechste, vorletzte Band von Marcel Prousts Romanzyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" ein. Er zieht den Schlussstrich unter die – im fünften Teil "Die Gefangene" beschriebenen – Bemühungen des Ich-Erzählers seine Zweifel an der Aufrichtigkeit seiner Geliebten Albertine dadurch zu minimieren, dass er jeden ihrer Schritte zu überwachen sucht. Im Rückblick heißt es: "Man wird sich erinnern, dass ich den Entschluss, mit Albertine zusammenzuleben und sie sogar zu heiraten, gefasst hatte, um sie zu beaufsichtigen, zu wissen, was sie tat, sie zu hindern, ihre Angewohnheiten mit Mademoiselle Vinteuil wiederaufzunehmen."
Proust-Leser wissen es: Mit dem Stichwort Vinteuil ist jener Themenstrang des Lesbianismus benannt, der die Gedanken des Erzählers ständig okkupiert. Nie scheint er Klarheit darüber zu erlangen, ob Albertine ihn mit Frauen betrog, sei es im verzweigten Pariser Parc des Buttes-Chaumont, sei es in den Duschbädern des Strandbades Balbec. "Die Entflohene" ist der Roman eines Liebenden, der das Objekt seiner Begierde mit ihrem Abschied (und dann ihrem überraschenden Tod) Schritt für Schritt verblassen sieht. Der Prozess eines mählichen Vergessens beginnt.

Albertine nachspüren

Zwar reicht anfangs selbst die Nachricht von Albertines Tod keineswegs aus, um das Nachspüren von Albertines wahren Beweggründen zu beenden. Im Gegenteil: Noch einmal setzt der Erzähler alle Hebel in Bewegung, um Albertines verborgenem Liebesleben auf den Grund zu gehen. Was er erfährt, ist erschütternd und stellt alles zuvor Geglaubte auf den Kopf. Nach und nach jedoch verschwimmt Albertines Bild, bis hin zum Stadium der Gleichgültigkeit. Verschiedene Stationen – darunter die Wiederbegegnung mit Gilberte Swann und eine Venedig-Reise mit der Mutter – lassen die immer wieder aufflackernde Eifersucht des Erzählers zur Ruhe kommen, rücken Albertine endgültig in den Hintergrund.
"Die Entflohene" rekurriert, in einem markant nüchternen Tonfall, ständig auf Motive und Themen, die Proust in den vorangegangenen fünf Teilen ausgebreitet hatte, und lässt alle Gewissheiten obsolet werden. Wie sich das soziale Gefüge vermischt und plötzlich "unmögliche" Ehen geschlossen werden, so zeigt sich dem Erzähler, dass die scheinbar unvereinbaren Gegenden, die mit den Namen Swann und Guermantes verbunden waren, in Wahrheit zusammengehören.
Die Editionsgeschichte dieses sechsten Bandes ist hoch komplex. Bis wenige Tage vor seinem Tod im November 1922 arbeitete Proust in gewohnt chaotischer Weise am Typoskript seines "manuscrit au net". Zu einem Ende brachte er diese Arbeit nicht. 1925 gab sein Bruder, der Mediziner Robert Proust, postum den Band unter dem Titel "Albertine disparue" heraus – ein eigenmächtig erstelltes Kunstprodukt, das versuchte, den fragmentarischen Charakter des Textkonvoluts zu kaschieren. Für immenses Aufsehen unter den Proust-Forschern sorgte ein Fund im Jahr 1986 – der Fund einer von Proust stark gekürzten Fassung des "Entflohenen", das sogenannte "kurze Typoskript".

Interpretatorisch höchst bedeutsame Änderungen

Bis zuletzt arbeitete Proust daran fieberhaft, ohne dass eindeutig wäre, wohin genau seine Streichungen, Umgruppierungen und zum Teil interpretatorisch höchst bedeutsamen Änderungen führen sollten. Es entbrannte ein heftiger Streit unter den Proust-Editoren; in Frankreich erschienen seit 1987 zahlreiche Neuausgaben, herausgegeben unter anderem von Nathalie Mauriac, Jean-Yves Tadié (in der neuen Pléiade-Ausgabe) und Jean Milly. Kein Text ist identisch mit dem anderen, jeweils mit guten, trefflich zu debattierenden Gründen. Kein Text darf in Anspruch nehmen, "Fassung letzter Hand" zu sein.
Auch Bernd-Jürgen Fischer, der für Reclam die "Recherche" in bewundernswertem Alleingang neu übersetzt und dafür nun den alten, von der ersten Übersetzerin Eva Rechel-Mertens gewählten Titel "Die Entflohene" reanimiert hat, hatte Entscheidungen zur Anordnung und Auswahl zu treffen, die er in Nachwort und Anmerkungen begründet. Es empfiehlt sich indes auf jeden Fall, auch den mit Reclam konkurrierenden, 2001 erschienenen Suhrkamp-Band "Die Flüchtige" zu konsultieren und den Ausführungen des Herausgebers Luzius Keller zu folgen.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 6: Die Entflohene.
Übersetzung und Anmerkungen von Bernd-Jürgen Fischer, Reclam Verlag, Stuttgart 2016, 478 Seiten, 32,95 EUR

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