Marburger Bund verteidigt hohe Gehaltsforderungen der Ärzte

Rudolf Henke im Gespräch mit Christian Rabhansl und Ulrich Ziegler · 07.02.2009
Der Vorsitzende der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, Rudolf Henke (CDU), hält die hohen Tarifforderungen der Klinikärzte von durchschnittlich neun Prozent in den Verhandlungen mit den Ländern für angemessen. Mit einem Ärztestreik rechnet Henke derzeit allerdings nicht: "Wir glauben, man kann sich am Verhandlungstisch einigen."
Deutschlandradio Kultur: Die Warnstreiks im öffentlichen Dienst nehmen zu. Straßenbahnfahrer, Polizisten, Lehrer und Klinikpersonal legen die Arbeit nieder. Herr Henke, streiken demnächst auch die Ärzte an den Uni-Kliniken?

Rudolf Henke: Wir denken im Augenblick nicht an Streik. Wir glauben, man kann sich am Verhandlungstisch einigen. Das ist auch die vernünftigste Form, Tarifverhandlungen zu Ende zu bringen.

Deutschlandradio Kultur: Wie wollen Sie sich denn einigen?

Henke: Ja, neun Prozent mehr für die einfachen Ärzte, acht Prozent mehr für die Fachärzte und die Oberärzte. Sehr entscheidend ist die Frage Ost-West-Angleich. Es ist einfach nicht einzusehen, dass - nachdem in allen kommunalen Krankenhäusern der Angleich erfolgt ist, auch bei den privaten Trägern erfolgt ist -, dass dieser Ost-West-Angleich immer noch auf sich warten lässt.

Und dann gibt’s natürlich das Kapitel der Ärzte, die nicht direkt am Patienten tätig sind, sondern die sich vorklinischen Fächern widmen - Anatomie, Physiologie - oder die besondere Aufgaben in der Lehre und Forschung wahrnehmen. Die möchten wir gerne in den Tarif einbezogen sehen. Das ist jedenfalls ein Tarifziel.

Deutschlandradio Kultur: Sie nennen neun Prozent. Das ist relativ viel im Vergleich zu anderen Kräften im Krankenhaus, denken wir ans Pflegepersonal. Haben die Ärzte denn so viel mehr verdient?

Henke: Ein Arzt, der an einem kommunalen Krankenhaus arbeitet, kriegt im Januar 2009 acht Prozent mehr als im Januar 2008. Jetzt kann man natürlich sagen, irgendwann war mal dieser Tarif mit den Ländern, den der Marburger Bund ausgehandelt hat, sehr wettbewerbsstark, sehr konkurrenzfähig. Im Jahr 2006, als wir das vereinbart haben, war das auch so. Aber inzwischen ist ja wenig dazu gekommen. Und der Vergleich zeigt, dass die Krankenhäuser schon versuchen, um gut qualifizierte Ärzte miteinander zu konkurrieren. Deswegen müssen wir dafür sorgen, dass die Universitätskliniken mit anderen Klinikgruppen mithalten können.

Deutschlandradio Kultur: Das ist schon in Ordnung, aber das Komische ist doch: Ver.di verhandelt für das Pflegepersonal, für die Krankenschwestern, Sie für diese kleine elitäre Gruppe der Ärzte. Warum kämpfen Sie nicht Seit’ an Seit’ mit ver.di zusammen?

Henke: Wir sind ja keine kleine elitäre Gruppe, sondern wir sind halt Menschen, die eine andere Aufgabe, eine andere Funktion wahrnehmen. Dadurch sind wir ja nicht irgendwie mehr wert oder beanspruchen das. Aber Ausbildung, Qualifikation, Karrierewege, auch die Dauer des Studiums, das schlägt sich natürlich nieder. Das ist ja auch in den ver.di-Tarifen immer so vorgesehen gewesen.

Die Geschichte war, dass im Jahre des Herrn 2005 ver.di eine Politik betrieben hat, die für unsere Mitglieder nicht tragbar war. Obwohl sie einen Auftrag hatten, auch für uns zu handeln, hätten damals deren Vereinbarungen zu erheblichen Einbußen im Einkommen der Ärzte geführt. Dann haben die Ärzte gesagt, also, da müssen wir jetzt aussteigen. Das müssen wir alleine versuchen. Das ist dann 2006 gelungen. Und jetzt ist das so.

Deutschlandradio Kultur: Sie sagen, die Ärzte haben eine andere Funktion. In der Tat, wenn ich operiere, kann ich durch einen Streik ein ganzes Krankenhaus lahmlegen. Das können andere Berufsgruppen nicht unbedingt. Die können sich da nicht so durchsetzen, sitzen nicht an so einem langen Hebel. Sagen Sie dann den anderen in der Klinik: Pech gehabt?

Henke: Wenn Anästhesieschwestern zum Beispiel streiken, dann passiert auch nix mehr. Wenn Menschen, die meinetwegen in der Blutbank tätig sind, streiken, dann können Sie auch nicht mehr den Operationsbetrieb und die Patientenversorgung machen. Ich glaube nicht, dass das jetzt irgendwie eine besondere Rolle ist, dass wir die Einzigen wären, die sagen können, wenn dein starker Arm es will, stehen alle Räder still. Das ist nicht so.

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie machen es. Und beispielsweise die Krankenschwestern tun es nicht, auch nicht das Pflegepersonal.

Henke: Wir haben das einmal 2006 gemacht, weil wir dort in einer existenziellen Auseinandersetzung waren. Im Übrigen wissen, glaube ich, auch die Menschen im Pflegepersonal sehr genau, dass natürlich auch die Ärzte in den Krankenhäusern unersetzbar sind. Denn, wenn wir die Leistungen nicht erbringen, aus denen die Krankenhäuser die Erlöse erzielen, dann ist es auch schlecht für alle anderen.

Deutschlandradio Kultur: Ist der Trend nicht gefährlich? Bei den Lokomotivführern sehen wir das, bei den Piloten. Diese Abspaltung wird, so sagt es zumindest Herr Bsirske, unterm Strich irgendwann auch gefährlich, weil sie nicht mehr einheitlich verhandeln können.

Henke: Einheitlich verhandeln? Dann müsste man ja umgekehrt auch verlangen, dass alle Arbeitgeber zusammengeschlossen werden und dass wir uns nicht mit 15 verschiedenen Arbeitgeberorganisationen rumplagen müssten. Dann müsste man halt sagen, es dürfen überhaupt nur zwei große Blöcke miteinander verhandeln, alle zusammengeschlossenen Arbeitgeber, alle zusammengeschlossenen Arbeitnehmer. Wo ist dann die in der Verfassung gewährleistete Koalitionsfreiheit? Tarifautonomie bedeutet, selbst bestimmen zu können, wer einen vertritt. Dann kann nicht einer kommen und sagen, egal, was wir machen, ihr müsst dulden, dass wir euch vertreten.

Deutschlandradio Kultur: Sie halten sich also für schlagkräftiger, wenn Sie alleine verhandeln?

Henke: Wir haben den Auftrag der Mitgliedschaft, das zu machen. Wir haben ja lange Zeit eine sehr enge Kooperation mit der deutschen Angestelltengewerkschaft und damals den heute in der Tarifunion des Beamtenbundes organisierten Verbänden und Gewerkschaften gehabt. Es gibt eine 60-jährige Geschichte, in der wir unterschiedlich vorgegangen sind. Wir haben immer auch Bereiche gehabt, in denen wir alleine verhandelt haben. Zum Beispiel mit manchen privaten Krankenhausträgern hat der Marburger Bund außerhalb dieser Tarifgemeinschaften verhandelt.

Als die DAG dann mit der ÖTV zusammengeschlossen zu ver.di wurde, haben wir halt feststellen müssen, dass die Positionen nicht mehr in allen Tariffragen übereinstimmten. Das ist kein Grund dafür, sich jetzt ewig gegenseitig zu schelten, aber man muss es zur Kenntnis nehmen. Wenn dann Tarifautonomie und Selbstbestimmung und Koalitionsfreiheit einen Sinn haben soll, und das ist ja eine Grundvoraussetzung, dann sage ich: Wir tun der Tarifautonomie, wir tun der Gewerkschaftsbewegung einen Dienst, wenn es uns gelingt, 30 Prozent Ärzte zusätzlich für gewerkschaftliche Organisiertheit zu gewinnen.

Deutschlandradio Kultur: Dieser Dienst für die Gewerkschaftsbewegung sah im Jahr 2006 bei der letzten Einigung so aus, dass sich der Marburger Bund im Nachhinein gerühmt hat, vier, fünf Prozent mehr herausgekämpft zu haben als ver.di. Sieht also das Prinzip so aus? Ver.di verhandelt und dann satteln Sie noch drauf?

Henke: Man kann sich die Realität ja nicht so schnitzen, wie man sie sich vielleicht gewerkschaftstheoretisch wünscht. Vielleicht hätte ich sogar auch viel dafür übrig, dass alle zusammen. Aber das setzt dann voraus, dass man sich auch über Positionen so verständigt, dass nicht die mit einem etwas höheren Einkommen immer was abgeben sollen. Denn das muss man über das Steuersystem regeln. Man kann nicht Sozialpolitik in der Leistungsvergütung machen.

Deutschlandradio Kultur: Also gehen wir davon aus, gute Löhne für Ärzte ist die eine Sache. Die andere Sache ist, dass wir ständig steigende Kosten im Gesundheitswesen haben - Frage der Finanzierung. Gibt es noch Einsparpotenziale, wo Sie sagen könnten, ja, diese Tarifforderungen sind gerechtfertigt, weil sie auch gegenfinanziert sind?

Henke: Wir haben natürlich eine jetzt etwas andere Situation nach dem Krankenhausfinanzierungsreformgesetz, als sie noch am Anfang letzten Jahres herrschte. Damals haben die Krankenhäuser einen Zuwachs erwartet, der unter 0,2 Prozent liegen sollte. Inzwischen hat ja auch der Bundesgesetzgeber die Situation neu bewertet und hat wenigstens anerkannt, dass man die Tarifentwicklung - nicht nur für die Ärzte, sondern natürlich auch für das Pflegepersonal, auch für das technische Personal, das gesamte Krankenhauspersonal - abbilden muss in der Refinanzierung.

Deswegen sind die Krankenhäuser heute ein Stück besser gestellt, als sie es Anfang 2008 und erst recht Ende 2007 waren. Ich meine, man darf den Menschen auch nicht zu viel vormachen. Ich glaube, wir werden auch weiterhin erleben, dass die Kosten im Gesundheitswesen eher steigen als sinken.

Deutschlandradio Kultur: Sie sehen also kein Einsparpotenzial?

Henke: Ich sehe überall Einsparpotenziale, wo man mit Intelligenz an die Verbesserung von Systemen rangeht. Ich glaube zum Beispiel, dass wir - was die Frage der Kooperation von stationärer und ambulanter Versorgung angeht - immer noch erst am Anfang der notwendigen Entwicklung stehen.

Deutschlandradio Kultur: Interessanterweise wird in Deutschland mehr Geld für das Gesundheitswesen ausgegeben als in manch anderen OECD-Ländern. Stellt sich die Frage: Doktern wir insgesamt zu viel an den Patienten herum?

Henke: Ich glaube, dass wir schon manchmal die Patienten zu fragmentiert versorgen. Früher war das im Krankenhaus so, dass man einen Patienten 14 Tage, drei Wochen da hatte. Und in dieser Zeit ist ja nicht nur die Behandlung der Krankheit, die ihn hingeführt hat, passiert, sondern es ist ja auch ein Dialog in Gang gekommen, der vielleicht zu einer Neuorientierung im Verständnis von Gesundheit und Krankheit geführt hat und der vielleicht auch eine Veränderung in der Lebensauffassung vermittelt hat.

Wenn ich heute längst entlassen bin, bevor ich überhaupt wieder den Raum habe, solche Gespräche zu führen, dann ist vielleicht auch ein Stück Anleitung zum klugen Verhalten im eigenen Leben in gesundheitlicher Hinsicht auch verloren gegangen. Und die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte schildern uns Krankenhausärzten, dass ihre Zeit auch immer karger wird und dass der einzelne Patientenkontakt sich immer mehr auf eine bestimmte Funktion und Dienstleistung konzentriert - also, die berühmte Drei-, Vier-, Fünfminutenmedizin. Davon machen wir dann viel mehr.

Manchmal wäre es vielleicht klüger, statt einen Patienten viermal drei Minuten zu sehen, ihn einmal für eine Viertelstunde zu sehen und sich dann etwas mehr Zeit zu nehmen für ein wirklich begegnendes Gespräch.

Deutschlandradio Kultur: Wie können wir das erreichen?

Henke: Wir können das nur dadurch erreichen, indem wir die Einflüsse derer, die in den Segmenten tätig sind, auch auf Vergütungsstrukturen wieder stärken. Das muss jetzt im Ohr eines niedergelassenen Arztes richtig illusionär klingen, weil der im Augenblick das krasse Gegenteil vorgesetzt bekommt. Der Bund definiert irgendeinen Beitragssatz bundesweit und einheitlich. Anschließend wird das dann auf die verschiedenen Länder runter verteilt.

Und die Einflüsse, die der Einzelne dann auf das Aushandeln seiner Selbstverwaltung haben kann, sind relativ bescheiden. Da ist im Moment viel Frust und Ohnmacht unterwegs. Ich glaube, wenn man da jetzt kommt und sagt, wir müssen da die Autonomie und die Freiräume stärken, kriegen Sie Applaus dafür, aber politisch - muss man sagen - kriegt man das, jedenfalls in der jetzigen Legislaturperiode mit den jetzigen Akteuren, nicht hin.

Deutschlandradio Kultur: Wenn wir mal grundsätzlich werden, es ist ja interessant. Immer mehr Menschen gehen zum Arzt, machen ihren Besuch dort, vor allen Dingen montags, wie wir in den jüngsten Statistiken nachlesen können. Stellt sich die Frage: Gehen die Leute tatsächlich zum Arzt oder geht es um was ganz anderes, wenn die montags zum Arzt gehen, um möglicherweise einfach Kontakt zu haben? Läuft da grundsätzlich was falsch?

Henke: Einmal ist es ja montags so, dass jemand, der Erkrankungen, Symptome, Beschwerden, die Samstag aufgetreten sind, Freitagabend aufgetreten sind, Sonntag aufgetreten sind und die er geschoben hat, dann halt am ehesten wieder in den Routinebetrieb reinbringen kann, wenn er eben Montag zum Arzt geht. Deswegen wird ein Stück weit das, was sich von Freitag bis Sonntag entwickelt hat, dann auch abgearbeitet. Denn wir halten ja auch alle Patientinnen und Patienten an, am Wochenende nur mit ernsthaften Störungen zu kommen.

Gleichwohl haben Sie natürlich damit recht, dass Menschen, die heute ja in den Großstädten sehr häufig als Singles leben, auch ältere Menschen, die sehr vereinsamt in ihren Wohnungen leben - der Ehepartner ist gestorben oder hat einen verlassen und dann sitzt man da alleine in einer Wohnung. Der Bekanntenkreis schmilzt vielleicht nach und nach auch durch Todesfälle. Ja, dann sucht man irgendwo Kontakte.

Ich glaube schon, dass die Funktion - etwa von Kirchengemeinden, von Pfarrern, Pastoren, Kaplänen, mit denen man gesprochen hat - heute ein kleines bisschen auch von den Ärztinnen und Ärzten übernommen wird. Mindestens ist das die Erwartung. Und dann findet man diese gewünschte sprechende Medizin nicht in dem Umfang vor, wie man sich danach sehnt, aber man hat wenigstens vielleicht welche aus dem gleichen Viertel, aus dem Quartier, aus dem Kiez gefunden und mit denen sich mal austauschen können.

Deutschlandradio Kultur: Das mag menschlich nachvollziehbar sein. Aber wenn jetzt nach neuesten Zahlen die Deutschen im Durchschnitt 18 Mal im Jahr zum Arzt gehen, können wir uns das leisten aus Menschlichkeit oder müssen wir da was tun?

Henke: Ich habe ja eben schon mal gesagt, dass wir manchen Besuch vielleicht dann ertragreicher machen könnten, wenn er länger dauern würde. Wir haben aber natürlich mit dem Ruf nach Wettbewerb und Ökonomisierung und Wirtschaftlichkeit und betriebswirtschaftlichem Denken, das wir jetzt den Ärzten über Jahre eingebläut haben, auch erreicht, dass dann natürlich auch geguckt wird: Wie kann ich denn die Kosten meines Betriebs decken? Wie komme ich dazu, dass ich mein Personal bezahlen kann?

Die Krankenhäuser sind ja alle, ob in kirchlicher Trägerschaft, ob in privater Trägerschaft, ob in kommunaler Trägerschaft, ebenfalls betriebswirtschaftlich umgeformt worden gegenüber früher. Das waren früher mal soziale Einrichtungen, karitative Einrichtungen. Heute sind es ja Dienstleistungsunternehmen, wenn auch besonderer Art, aber es sind Unternehmen geworden. Dann agieren sie halt auch so. Das bedeutet, sie versuchen die Dienstleistung, die ihre Kernaufgabe ist, in immer kürzerer Zeit an eine möglichst große Zahl von Menschen heranzubringen und dafür den Erlös zu erzielen.

Das ist in Teilen keine Arzt-Patienten-Beziehung mehr, sondern teilweise ist das bereits eine Dienstleistungslieferanten-Kunden-Beziehung geworden. Ich halte das für die Medizin und für die gesundheitliche Entwicklung für schlecht, aber man darf es den Beteiligten nicht vorwerfen, weil es das Ergebnis einer gewollten Umformung hin zu immer mehr Wirtschaftlichkeit ist. Ich glaube, da ist manches auch zur fixen Idee geworden. Und wir sehen jetzt die Risiken und Nebenwirkungen, über die Arzt und Apotheker zwar aufgeklärt haben, aber keiner hat es geglaubt.

Deutschlandradio Kultur: Herr Henke, Sie sind ja nicht nur Arzt, sondern Sie sind auch Politiker, sitzen im Landtag von NRW für die CDU und kandidieren auch demnächst für den Bundestag. Wenn wir uns das Gesundheitswesen insgesamt anschauen, vernachlässigen wir eigentlich die Prävention? Wenn wir uns angucken, dass wir zu viele Dicke in Deutschland haben, dass wir uns zu wenig bewegen, müssen wir, wenn wir über Gesundheit reden, den Hebel nicht ganz woanders ansetzen oder zumindest den Schwerpunkt verlagern?

Henke: Wenn ich beschreiben müsste, wo eigentlich eine wirklich Finanzmittel einsparende große Innovation in der Gesellschaft im Gesundheitsbereich möglich ist, dann würde ich sagen, das ist eine viel stärkere Durchdringung unserer Verhaltensweisen mit präventiven Überlegungen. Ob man das dann Prävention nennen muss, weiß ich nicht so genau, aber wir bewegen uns zu wenig. Wir achten nicht richtig auf den Ausgleich zwischen Belastung und Entlastung. Wir haben eine sehr unorganisierte Schlafkultur in breiten Teilen der Gesellschaft.

Ich glaube schon, dass das kein Feld ist, das allein Ärzte, Krankenpflegepersonal, Krankenhäuser, Arztpraxen regeln und angehen könnten, aber zu sagen, dass viele, viele Krankheiten auch ein Ergebnis von zuvor früher, vor 20 Jahren getroffenen Entscheidungen und eingeschliffenen Verhaltensweisen sind oder dass das mindestens einen Beitrag dazu leistet, ist ja nicht unehrlich, sondern schlicht und ergreifend wahr.

Deutschlandradio Kultur: Jetzt haben Sie das Problem umrissen. Wie sieht die Lösung des Politikers Henke aus?

Henke: Die Lösung sieht so aus, dass wir die Zielgruppen, die sich diesen präventiven Überlegungen am meisten entziehen, besonders aufsuchen und erreichen müssen. Das geht in Teilen über die Bildungseinrichtungen - Schulen, Kitas. Da aber auch die Eltern gebraucht werden, glaube ich, dass auch ein Weg richtig ist, solche präventiven Ansätze dann von den Kindern ausgehend mit den Eltern etwa im Familienzentrum zu entwickeln. Also brauchen wir eine Umgestaltung der Kitas zu Familienzentren, in denen die familienorientierten Dienstleistungen zusammengeführt werden können.

Dann, glaube ich, dass Sie für die mittlere Generation die Chancen und Möglichkeiten nutzen müssen, die auch die betriebliche Gesundheitsförderung bietet. Und was die Senioren angeht, wird man alle kommunikativen Ansätze - Seniorenzentren - nutzen müssen, bis auch hin zu Sport, der in die Altenheime gehört.

Deutschlandradio Kultur: Kommen wir noch zu einem anderen Aufreger. Das ist der Gesundheitsfond. Den gibt es seit dem ersten Januar. Keiner ist richtig glücklich. Keiner wollte ihn irgendwie haben. Trotzdem ist er da. Läuft irgendwas besser mit diesem Gesundheitsfond als zu Zeiten, als es ihn nicht gab?

Henke: Ich habe bisher nur die Meldung gehört, er läuft genauso gut wie vorher, was das Geldverteilen angeht. Die Aufsicht hat erklärt, ja, das Geld kommt tagespräzise bei den Kassen an. Aber wir haben ja doch damit jetzt eine gewaltige Politisierung der gesundheitlichen Versorgung, weil es einen einheitlichen Beitragssatz gibt, der im Bund definiert wird, weil es keine Spielräume für örtliche Krankenkassen gibt, diesen Beitragssatz zu senken oder zu erhöhen.

Sie müssten Zusatzbeiträge erheben, wenn sie höherwertige Dienste anbieten wollen. Da trauen sich alle, mit denen ich rede, nicht ran, weil sie sagen, ja, das wird von den Menschen als Strafe empfunden. Das dürfen wir gar nicht machen, dann laufen die uns weg. Beitragssenkungen sind bei vielen aber auch nicht in der Welt, weil die Kassen ja sagen, eigentlich hätten wir 15,8 Prozent Beitrag gebraucht. Jetzt kriegen wir 15,5 Prozent Beitrag. Das reicht uns gar nicht.

Ich glaube, wir haben damit eine starke Konzentration des gesundheitspolitischen Geschehens auf den Bund erlebt. Und alle, die irgendwelche Klagen haben, werden sie in Zukunft in Berlin bei der Bundesregierung, beim Bundestag verhandeln, weil man das alles auf diesen Beitragssatz beziehen wird. Ich glaube, dass man damit peu à peu Subsidiarität und dezentrale Entscheidung oder Basisorientierung, wie immer man das nennen soll, eher infrage stellt und an den Rand drängt.

Deutschlandradio Kultur: Sie wollen in den Bundestag. Gehen wir mal davon aus, Sie sitzen im Herbst im Bundestag. Was ändern Sie dann?

Henke: Ich glaube, man hat jetzt diesen Gesundheitsfond da. Bevor der wieder politisch abgeschafft wird, muss sich schon sehr viel verändern. Gut, es kann ja neue Koalitionskonstellationen geben. Dann wird man, glaube ich jedenfalls, wenn sich eine andere, eine schwarz-gelbe Koalition bildet, wieder gucken müssen, wie man mehr Dezentralität hinkriegt. Wo kann man beispielsweise Aufgaben von dem jetzt neu gebildeten Spitzenverband Bund der Krankenkassen wieder auf die Landesverbände der Krankenkassen übertragen?

Die gleichen Menschen, die noch vor zwei Jahren dafür argumentiert haben, den Gesundheitsfond zu lassen, werden in zwei Jahren, wenn man über ihn und seine Fortdauer diskutiert, sagen: Ja, aber jetzt haben wir alles etabliert, jetzt lassen wir ihn doch mal da.

Deutschlandradio Kultur: Das klingt aber so, als wollten Sie, wenn Sie denn in den Bundestag kommen, gerne das alles rückgängig machen, wieder abwickeln.

Henke: Ja, alles rückgängig machen, getroffene Entscheidungen macht man nicht einfach rückgängig. Und rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln ist auch etwas, was nicht politische Realität ist. Wir haben aber Felder anderswo in der Gesellschaft, wo etwa mit der Föderalismusreform auch eine Neuaufteilung von Aufgaben zwischen Bund und Ländern, also zentralen und dezentralen Bereichen, unternommen worden ist und damit auch eine Verbesserung erzielt worden ist.

Ich werbe zum Beispiel sehr dafür, dass wir im Bereich der integrierten Versorgung, wo jetzt viele Verträge zusammenbrechen, weil die Anschubfinanzierung nicht mehr da ist, dass wir im Bereich dieser besseren Harmonisierung zwischen stationär und ambulant auch mit Vertragsmodellen, die regional ausgehandelt werden, Impulse für die Bundesebene geben. Dann sieht der Bund vielleicht auch, dass er nicht alles regeln kann.

Deutschlandradio Kultur: Aber mit dieser Art der Finanzierung, wie wir sie im Moment erleben, was den Gesundheitsfonds betrifft, sind Sie einverstanden? Oder träumen Sie von der Kopfpauschale?

Henke: Ja, die Kopfpauschale ist nicht kommunizierbar in der deutschen Gesellschaft, weil die Kopfpauschale mit dem gewaltigen Problem verbunden ist, dass man den Menschen erklären möchte, der Betriebsleiter bezahlt den gleichen Krankenkassenbeitrag in Summe wie das Personal an der Pforte ihn bezahlt. Bei den bekannten Einkommensunterschieden wissen wir, dass das kein attraktives Konzept für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist. Ich glaube, dass diese Debatte, die wir da 2005 bei der letzten Wahl erlebt haben, sehr dazu beigetragen hat, dass es keine schwarz-gelbe Koalition gab, sondern dass wir jetzt diese schwarz-rote Koalition haben.

Das Kernelement, was richtig war an dieser Pauschaldebatte, ist: Wenn Sie ein Leistungsversprechen geben, müssen Sie die Finanzmittel aufbringen, um das Leistungsversprechen zu erfüllen. Das muss versicherungsmathematisch vorauskalkuliert werden. Ich plädiere nicht für eine Pauschale, schon gar keine Kopfpauschale. Ich plädiere dafür, dass wir Leistungsversprechen in den Finanzierungswegen abbilden und uns stärker deswegen dem Versicherungssystem annähern als einem reinen Fürsorgesystem, in dem nur Transfer betont wird.

Jedes System kann sein Versprechen nur halten, wenn das durch künftige Beitragseinnahmen gedeckt ist. Das Hauptproblem bei uns ist, und das werden wir in der Krise, die kommt, sehr merken, die Orientierung auf Löhne, Gehälter, Lohnersatzeinkommen als zentraler Einnahmequelle. Und wir merken gerade an dem Konjunkturprogramm der Bundesregierung, dass sofort, wo es am Arbeitsmarkt etwas kritisch wird, jetzt auch gesagt wird, da müssen wir halt mit Steuermitteln ran.

Deutschlandradio Kultur: Im Herbst wollen Sie in den Bundestag. Sie kandidieren im Wahlkreis Aachen. Und Ihre Gegenkandidatin ist die bisherige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Wollen Sie ihr nur den Wahlkreis abnehmen oder auch das Ministeramt?

Henke: Nein, um Gottes Willen. Also, wir wollen jetzt mal die Kirche im Dorf lassen. Jemand, der seit 20 Jahren verbandliche Erfahrungen im Gesundheitswesen hat, der sich darüber ärgert, dass die spezifische Blickweise der Ärztinnen und Ärzte in der Politik zu wenig reflektiert wird, weil er glaubt, dass die Ärzte immer noch den Patientinnen und Patienten am nächsten sind, der jetzt im 14. Jahr im Landtag NRW arbeitet, der hat seiner örtlichen Partei gesagt: Ja, wenn ihr einen Bundestagskandidaten sucht, dann bin ich dazu bereit.

Es wird auch nicht nur um Gesundheitspolitik gehen. Die Menschen haben doch in der jetzigen Zeit nicht nur Gesundheitspolitik im Kopf. In Wirklichkeit haben die Leute Angst um Arbeitsplätze. Sie wollen Krisenbewältigung haben. Sie wollen, dass die Finanzströme wieder in Gang kommen. Sie wollen, dass die Banken erfolgversprechenden Unternehmen Kredite geben. Sie wollen, dass das Konjunkturprogramm der Bundesregierung, der schwarz-roten Bundesregierung erfolgreich ist. Und dann wollen wir mal sehen, was die Aachenerinnen und Aachener dazu sagen.

Ich glaube, nicht mal die Bundesministerin für Gesundheit leitet aus dem Aachener Wahlergebnis einen Anspruch ab, ob sie Bundesministerin für Gesundheit bleibt.

Deutschlandradio Kultur: Also, wir sehen, da redet nicht nur der Mediziner, sondern auch der Generalist als Politiker. Herr Henke, herzlichen Dank für das Gespräch.

Henke: Bitte sehr.