Mangelware Spitzenkraft

Von Reinhard Mohr |
Keine Angst: Der Name Obama wird hier und heute nur ein einziges Mal ausgesprochen. Und das auch nur deshalb, weil er die große Ausnahme ist: eine Spitzenkraft wie aus dem Nichts. Eben noch ein nahezu unbekannter Provinzpolitiker und nun der 44. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Wer hier den größtmöglichen Gegensatz herausstellen wollte, müsste einfach "Kurt Beck" sagen. Dann aber, bitte, nie wieder.
Deutsche Spitzenpolitiker wie der kurzzeitige SPD-Vorsitzende haben eine seltsame Eigenschaft: Jahrzehntelang steigen sie mühsam auf in Partei und Staat, dann sind sie jahrzehntelang oben, wenigstens in Rheinland-Pfalz; schließlich sind sie noch für ein paar Jahrzehnte elder statesmen und beliebte Talkgäste bei Sandra Maischbergers Fernseh-Altersheim. Mathematisch kann das zwar nicht hinhauen, aber es kommt einem so vor. Will sagen: Sie sind eine ganze Menschen-Ewigkeit auf der politischen Bühne, so lange, bis die Erwähnung ihres Namens ausreicht, um einen satirischen Effekt zu erzielen. Sie sind zum nationalen Inventar geworden, meist übergewichtige Immobilien auf zwei Beinen, die es auch den mittelmäßigen Kabarettisten leicht machen, sichere Lacher abzuräumen.

Noch merkwürdiger ist, dass selbst Spitzenkräfte wie Hubertus Heil, Sigmar Gabriel oder Ronald Pofalla, die gar nicht so lange im politischen Geschäft sind, dem interessierten Publikum schon wie Dinosaurier vorkommen. Sie sind gerade mal in ihren Vierzigern, wirken aber längst wie wandelnde Mumien ihrer selbst.

Das wahre Rätsel aber offenbart sich, wenn sozialdemokratische Spitzenkräfte wie aus dem Nichts auftauchen, dann aber auch binnen weniger Monate wieder verglühen, ohne ihr Ziel überhaupt erreicht zu haben: Das ist der Ypsilanti-Faktor. Die Hessen nennen es auch den Andrea-Graben. Eine Art Orkus der rasenden Zeitgeschichte. Immer schneller verschlingt er alles, was nach oben drängt. Und schon kommt der nächste an die Reihe: Thorsten Schäfer-Gümbel aus Gießen-Land, der allerneuste Spitzenkandidat der hessischen SPD. Thorsten Schäfer-Gümbel – ein Name, den man sich merken muss. So hätte es jedenfalls Loriot gesagt. Ein Name mit Klang. Fast so wie Müller-Lüdenscheid oder Schmitt-Vockenhausen.

Die altehrwürdige Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist derzeit das augenfälligste Beispiel für ein Phänomen unserer Zeit: Den akuten Mangel an qualifiziertem Spitzenpersonal. Als im September am schönen Schwielowsee der bärtige Pfälzer endgültig versenkt wurde, blieb der SPD nichts anderes übrig, als den 68 Jahre alten Franz Müntefering aus der Kiste zu holen. Wer sonst hätte den Job des SPD-Chefs machen sollen? Andrea Nahles? Auch für das inoffizielle Amt des SPD-Kanzlerkandidaten blieb buchstäblich nur ein einziger Mann übrig: Außenminister Steinmeier, der Schröder-Vertraute mit dem Charisma eines stellvertretenden Referatsleiters. Vom obersten Kanzlerberater schaffte er es bis an die Spitze des Auswärtigen Amts, doch ihm fehlt bis jetzt jede authentische Massentauglichkeit, jene politische street-credibility des geborenen Alpha-Tiers, ohne die es auf Dauer nicht geht. Auf Wahlkampfveranstaltungen müht er sich redlich, den rauen Schröder-Sound in die geölte Beamtenkehle zu legen, aber das gepresste Gebrüll im verschwitzten Hemd wirkt am Ende eher unfreiwillig komisch.

Allerdings: Kritik wirkt müßig, solange es keine Alternative gibt. Tabula rasa, wohin man blickt. Es wächst nichts nach – außer Karriere-Knaben mit Bügelfalte und ehrgeizigen jungen Frauen, die aber, siehe Andrea Nahles, auch noch mit fast vierzig Jahren keine überzeugende Figur machen. Auch bei CDU und FDP ist das kaum anders: Merkel und Westerwelle scheinen wie festgetackert an ihren Chefposten. Dahinter lauert Mittelmaß. Und Bayerns CSU war nach dem Wahldebakel heilfroh, dass sie mit dem "Maverick" Horst Seehofer, auch schon Ende fünfzig, wenigstens noch ein letztes Reserverad mit alpinem Allwetterprofil aus der Garage holen konnte.

Haben die Alten am Ende also den Nachwuchs blockiert? Womöglich traumatisiert? Oder sind öffentliche Spitzenposten in Politik, Wirtschaft und Kultur einfach zu aufreibend und anstrengend geworden, zu wenig lohnend? Zu schwierig und verantwortungsvoll?

Auch auf anderen Gebieten scheint das so. Jüngst beklagte Thea Dorn, dass ihre Fernsehgespräche mit Martin Walser & Co. in der Regel ergiebiger seien als mit den dreißig- und vierzigjährigen Schriftstellern. Tatsächlich staunt man, wie wenig da nachkommt an leidenschaftlicher Streit- und Selbstbehauptungslust, wie wenig Verve pulst in den Äderchen der Generation Golf.

Vom Sport über Popmusik bis zum Fernsehen, ob Franz Beckenbauer oder Günther Netzer, Dieter Bohlen oder Udo Lindenberg, ob Thomas Gottschalk, Günter Jauch oder Harald Schmidt – die alten Spitzenkräfte sind auch deshalb nicht unterzukriegen, weil kein Junger an den Gitterstäben rüttelt und laut ruft: "Ich will hier rein!"

Apropos: Gerhard Schröder ist auch gerade mal 64. Da ist doch noch was drin – spitzenkraftmäßig.


Reinhard Mohr: geboren 1955, schreibt für Spiegel Online. Zuvor war Mohr langjähriger Kulturredakteur des "Spiegel". Weitere journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Buchveröffentlichungen u. a.: "Das Deutschlandgefühl", "Generation Z" und "Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern".