Mangel an Ambiguitätstoleranz

Der fatale Wunsch nach Eindeutigkeit

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"Warum bist du anders?": Graffiti auf einer Wand
Vielen Menschen macht Diversität Angst, sie polemisieren gegen die Vielfältigkeit. © imago/JOKER/Karl-Heinz Hick
Eine Analyse von Astrid von Friesen · 10.10.2019
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Andere Meinungen? In der Regel falsch! Wissenschaftliche Erkenntnisse? Nutzlos, weil umstritten! Therapeutin (*) Astrid von Friesen diagnostiziert einen gesellschaftlichen Mangel: Mehrdeutigkeiten und Widersprüche auszuhalten. Doch der sei heilbar.
"Wir sind besser als ihr, weil ihr nicht so seid wie wir. Nur wir haben Recht, alle anderen haben Unrecht und müssen entwertet und bekämpft werden", so die vielfache Meinung. Es scheint, als würden immer mehr Menschen einen nicht zu bändigenden Wunsch haben, unreflektiert Meinungen, Ideen und lineare Denkweisen spontan heraus zu powern und ihre sofortige Umsetzung einzufordern. Am sichtbarsten natürlich bei Twitter, Facebook oder in den Kommentarspalten. Ein Freund-oder-Feind-Denken, das nichts dazwischen duldet.

Fähigkeit Mehrdeutigkeiten auszuhalten

Offensichtlich leiden größere Teile der Bevölkerung unter einem Mangel an Ambiguitätstoleranz. Das meint die Fähigkeit, Mehrdeutigkeiten, Widersprüche, andere Sichtweisen auszuhalten und selbst in kulturell oder sozial unbekannten Situationen wohlwollend und un-aggressiv zu reagieren.
Ambiguitätstoleranz lernen wir, wie alle Gefühlsausprägungen, in der frühesten Kindheit. Ein Baby kommt mit einem primären Narzissmus auf die Welt und will versorgt werden; ansonsten schreit es mit seiner geballten Macht und Wut. Erst allmählich lernt es, dass auch die beste Mutter nicht immer verfügbar oder einfühlsam reagiert. Es muss also Liebe und Hass bezogen auf Andere sowie in sich selbst aushalten, woraus sich eine starke, kreative Persönlichkeit entwickeln kann, die in Stresssituationen die Welt nicht in "Gut und Böse" spalten muss und sich nicht permanent verfolgt fühlt.
Ambiguitäten auf der sozialen Ebene auszuhalten ist eine reife, erwachsene Position von "sowohl-als auch", denn jeder Mensch, jede Situation, jede Gesellschaft hat sowohl positive als auch negative Anteile. Demokratische Gesellschaften sind hoch komplex und abhängig davon, dass unterschiedliche Interessengruppen Kompromisse schließen. Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit, andere Bedürfnisse wohlwollend zu akzeptieren sowie die Realität nicht emotional verzerrt, vielmehr faktenorientiert wahrzunehmen.

Diversität macht Angst

In der Gesellschaft wird die im Kern auf mangelndem Selbstwert beruhende Überzeugung: "Ich habe immer Recht, ich bin besser" durch den Gruppendruck der Gleichgesinnten verstärkt. Das grenzenlose Internet, der mangelnde Halt in ex-und-hopp-Familien, sowie in ständig umstrukturierten Organisationen verunsichert viele Menschen derart, dass sie ihre Fähigkeit, differenziert zu denken verlieren. Ist ihre Ambiguitätstoleranz instabil, müssen sie sich innerlich schützen und fordern dann nur noch simple Botschaften, reine Gruppen, saubere Unterscheidungen, klare Verhältnisse und eindeutige Grenzen.
Diesen Menschen macht Diversität Angst. Sie polemisieren gegen die Vielfältigkeit und wüten gegen die Homosexuellenehen oder das dritte Geschlecht, obwohl es ihnen nichts nimmt und sie persönlich gar nicht tangiert. Sie genießen ihren Urlaub im Ausland, aber Ausländer zu Hause werden zu Feinden erklärt.
Ambiguitätstoleranz ist also für unsere Demokratie essenziell: Man muss unterschiedliche Interessen aushalten und mühsam errungene Kompromisse. Es ist wichtig, dass die Mehrheit diese Fähigkeit besitzt und trainiert, um der Unsicherheit des Lebens, der Unberechenbarkeit der Zukunft mit innerer Toleranz zu begegnen.

Vorurteile können dahin schmelzen

Ist ein Ambiguitätstoleranzdefizit heilbar? Toleranz generell wird früh im Kind angelegt, aber auch ein Erwachsener kann zumindest sein Repertoire an zugewandtem Interesse erweitern, und zwar in Situationen, in denen seine Emotionen sowie sein Gehirn gleichermaßen involviert sind, wenn zum Beispiel der Sohn eine wunderbare ausländische Frau heiratet. Oder wenn man in Gesprächsforen unmittelbar vom Leid und von der Biografie einer abgelehnten Gruppe menschlich nah und authentisch erfährt. Dann können Vorurteile dahinschmelzen, dann können Blickwinkel sich verändern!

Astrid von Friesen ist Diplom-Pädagogin, Gestalt-, Trauma- und Paartherapeutin in Dresden und Freiberg, sie unterrichtet an der TU Freiberg und macht Lehrerfortbildung und Supervision. Gemeinsam mit Gerhard Wilke veröffentlichte sie zuletzt das Buch: "Generationen-Wechsel – Normalität, Chance oder Konflikt? Für Familien, Therapeuten, Manager und Politiker".

Astrid von Friesen
© dpa / picture alliance / Matthias Hiekel
*Redaktioneller Hinweis: Wir haben die Berufsbezeichnung spezifiziert.
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