Manchmal ist es ein Abschied für immer

Von Peter Kujath |
Mancherorts ist im Gebiet der japanischen Dreifachkatastrophe der Schutt der Häuserreste beiseite geräumt, sind die Menschen in behelfsmäßige, schnell errichtete neue Wohneinheiten gezogen. Ein Jahr nach Tsunami, Erdbeben und Reaktorhavarie kehrt Leben in Teile der Katastrophenregion zurück.
An jedem 11. eines Monats heulen die Sirenen, wird mit Glockenschlägen der Toten und Vermissten gedacht. Das gilt zumindest für die Präfekturen Iwate, Miyagi und Fukushima. Denn die waren von dem schweren Erdbeben und vor allem dem verheerenden Tsunami am 11. März 2011 besonders betroffen. Im restlichen Teil Japans ist weitgehend Alltag eingekehrt. Ein Thema beschäftigt aber direkt oder indirekt alle Menschen.

Am 11. Februar hatte der Literaturnobelpreisträger, Kenzaburo Oe, erneut zu einer großen Demonstration gegen die Atomkraft in Tokio aufgerufen. Nach Angaben des Veranstalters versammelten sich aber gerade einmal 12.000 Menschen.

"Ich habe mich entschieden, an dieser Demonstration teilzunehmen, weil es mich wirklich frustriert zu hören, dass die Regierung von Premierminister Noda dabei ist, zu entscheiden, Kernkraftwerke wieder ans Netz zu nehmen. Nicht einmal ein Jahr nach der Atomkatastrophe und obwohl die Bewohner in Fukushima noch immer unter der Strahlenbelastung leiden. Ich kann es kaum glauben."

Nach den letzten Meinungsumfragen spricht sich mehr als die Hälfte der japanischen Bevölkerung für eine Abkehr von der Atomkraft aus. Allerdings gibt es nur wenige Befürworter eines sofortigen Ausstiegs.

"Ich möchte Ihnen als Premierminister von Herzen danken für ihre Aufopferung und ihre Entschlossenheit. Sie haben pausenlos unter harten Bedingungen daran gearbeitet, die nukleare Katastrophe unter Kontrolle zu bringen."

Nach seinem Amtsantritt Anfang September 2011 besuchte Japans Regierungschef, Yoshihiko Noda, die Präfektur Fukushima und das havarierte, durch Wasserstoff-Explosionen zerstörte Atomkraftwerk. Am 16. Dezember gab er offiziell bekannt.

"Heute hat die Task-Force, die ich leite, getagt und festgelegt, dass eine Kaltabschaltung durchgeführt wurde. Damit ist die Gefahr einer weiteren Explosion ausgeschlossen."

Experten halten allerdings den Begriff der Kaltabschaltung im Zusammenhang mit einem Atomkraftwerk, das eine mehrfache Kernschmelze erlebt hat, für unangebracht. Professor Hajimu Yamana, der Vorsitzende der Kommission zur Stilllegung des AKWs Fukushima 1, räumt deshalb ein.

"Ich kann verstehen, dass die Bürger und auch die Medien ein ambivalentes Gefühl zu dem Begriff Kaltabschaltung haben. Es ist auch keine Kaltabschaltung im normalen Sinn eines funktionierenden Atomkraftwerks. Aber im Vergleich zur Situation nach dem Unfall hat sich die Lage deutlich verbessert. Der Druck und die Temperatur blieben lange hoch, aber jetzt ist das Kühlwasser weit vom Siedepunkt entfernt. Im Vergleich zu den ersten Monaten hat sich sicher viel getan."

Auch wenn man davon ausgeht, dass von den Reaktorblöcken und den dazugehörigen Abklingbecken mit den gebrauchten Brennstäben keine unmittelbare Gefahr mehr ausgeht, bleibt dennoch viel zu tun. Die ausgetretene Radioaktivität hat vor allem die unmittelbare Umgebung der Anlage verseucht und Teile der Präfektur Fukushima in Mitleidenschaft gezogen. Sogenannte Hotspots, Plätze mit erhöhter Radioaktivität, waren aber auch im Norden Tokios zu finden.

"Ich bin entschieden, alles daran zu setzen, dass die Menschen, die gezwungen waren ihre Häuser zu verlassen, in ihre Heimat zurückkehren und wieder ein eigenständiges Leben führen können. Der Schlüssel dafür ist, die Gegend, die von der Atomkatastrophe betroffen ist, sorgfältig zu dekontaminieren. Die Regierung wird dafür ein großes Budget und viele Arbeitskräfte bereitstellen. Wir haben bereits 464 Milliarden Yen für die Säuberungsarbeiten freigegeben. Mit dem Haushalt im nächsten Jahr werden es insgesamt mehr als eine Billion Yen sein."

Trotz der Beteuerungen des japanischen Premierministers dauert das für die Betroffenen viel zu lang. Auch die Entschädigungszahlungen durch Tepco sind nur langsam angelaufen. All diese Kosten machen den angeblich so billigen Atomstrom wesentlich teurer. Bis Mitte des Jahres will die Regierung ein neues Energiekonzept vorlegen, in dem Wind, Solar und Geothermik eine größere Rolle spielen werden, aber AKWs wird es in Japan wohl weiterhin geben. Die Sicherheitsvorkehrungen sollen zwar verbessert werden, und eine unabhängige Kontrollinstanz ist mittlerweile geschaffen worden, dennoch bleibt Futabas Bürgermeister Katsutaka Idogawa, dessen Stadt das havarierte AKW Fukushima 1 beherbergt, skeptisch:

"Tepco ist eine schlechte Firma. Ich hatte schon vor dem Unfall immer wieder gefordert, dass mehr Geld und Personal für die Sicherheitsmaßnahmen aufgewendet werden müssen. Aber es hieß immer nur, es ist alles in Ordnung, kein Problem. Ein Unfall kann nicht vorkommen. Und dann ist eben doch geschehen."

Blicken wir ein Jahr zurück. Am 11. März um 14.46 Uhr ereignete sich im Pazifik etwa 100 Kilometer vor der japanischen Nordost-Küste ein Erdbeben der Stärke 9,0. Es war das schwerste Beben seit Beginn der Aufzeichnungen. Die Erschütterungen waren in der gesamten östlichen Hälfte Japans zu spüren. Deshalb heißt es offiziell auch: Higashi Nihon Daishinsai, große Erdbebenkatastrophe Ostjapan. In Tokio schwankten die Hochhäuser, wurden die Züge angehalten und 3,5 Millionen Pendler mussten zu Fuß nach Hause gehen oder saßen in der japanischen Hauptstadt fest. Dennoch waren die Schäden des Erdbebens gering im Vergleich zu dem, was dann folgte.

"Vom Hubschrauber heraus kann man sehen, wie das Meer 1,5 Kilometer ins Landesinnere fließt. Der Tsunami nimmt Wohnhäuser, Autos, Felder einfach mit sich. Auch große Häuser und Autos werden hinweggeschwemmt."

Der Tsunami erreichte an einigen Stellen eine Höhe von über 20 Metern, verwüstete ganze Städte und lies von den Häusern am Meer oft nicht viel mehr zurück als die Grundmauern. Mehr als 15.000 Menschen kamen ums Leben, über 3000 werden noch vermisst. Um sich ein Bild zu machen, was sich verändert hat, wieweit der Wiederaufbau vorangekommen ist, nimmt man am besten den Shinkansen, den japanischen Schnellzug von Tokio nach Morioka im Norden, mietet sich dort ein Auto und fährt die Pazifikküste entlang zurück nach Fukushima, der Hauptstadt der gleichnamigen Präfektur.

Die bekannte und beliebte Girl-Band AKB 48 tourte im verganghenen Sommer durch die zerstörte Region im Nordosten. Ihr Nummer eins-Hit "aze wa fuiteiru" (Der Wind weht) wurde innerhalb von einer Woche mehr als eine Million Mal verkauft. Dabei geht es um die Verzweiflung, aber auch um die Bemühungen des Wiederaufbaus.

Tohoku, wie das nordöstliche Japan genannt wird, ist nur dünn besiedelt. Berge, Natur, Reisanbau im Landesinneren und Fischerei an der Küste prägen das Leben. Die Region erwirtschaftet nur etwa vier Prozent des japanischen Bruttoinlandsprodukts. Aber es gibt dort einige wichtige Zulieferbetriebe. Als deren Produktion durch das Erdbeben ausfiel, hatte das Auswirkungen auf einen großen Teil der japanischen Wirtschaft.

Mittlerweile laufen die Förderbänder wieder, sind auch die Ausbesserungsarbeiten an der Shinkansen-Strecke abgeschlossen. Mit dem Hayabusa, dem Hochgeschwindigkeitszug, schafft man die 535 Kilometer lange Strecke von Tokio nach Morioka in 2 Stunden und 17 Minuten. Die rund 80 Kilometer bis zum Meer dauern mit dem Auto fast genauso lang.

Die Straße ist eng und führt durch zahlreiche Täler. Die Häuser hier haben teilweise noch immer Planen auf den Dächern, weil Dachziegel zum Ausbessern fehlen und die Handwerker wegen der vielen Aufträge nicht hinterherkommen. In Miyako wirkt das Leben normal, bis man sich dem Hafen nähert.

"Am 11. März um etwa 14. 50 Uhr konnte man die Tsunami-Warndurchsage hören. Daher waren wir in dem Gebäude hier in das 5. oder 6. Stockwerk gegangen. Wir sind jetzt hier im 5. Aus dieser Richtung ist das Wasser gekommen und immer höher gestiegen."

Katsunori Konari steht auf dem Balkon des Rathauses von Miyako. Direkt davor verläuft die 10 Meter hohe Tsunami-Mauer, die stehen geblieben ist, den Wasser-Massen aber nicht Einhalt gebieten konnte. Die Bilder der Schiffe und Autos, die über die Mauer schwappten, gingen um die Welt. 525 Menschen starben in Miyako, mehr als 7000 leben in Containern.

"Die Stadt Miyako hat den Betroffenen keine Wohnungen zugelost, sondern versucht, die Menschen in den bestehenden Nachbarschaftlichen Gruppen in die Anlagen mit den vorübergehenden Häusern einzuweisen. Die meisten waren damit einverstanden und auch zufrieden mit dieser Lösung."

Wie Ine Okura und Kikuno Hoshiba. Die beiden Frauen sind schon über 70 Jahre alt Ine Okura blieben nur die Kleider am Leib, alles andere verschlang das Meer. Für den Verlust ihres Hauses hat sie eine Million Yen, knapp 10.000 Euro, an staatlicher Entschädigung erhalten.

"Es heißt, wir dürfen hier zwei Jahre ohne Miete leben. Aber zwei Jahre sind viel zu kurz für uns. Wir sind ja bereits ziemlich alt und genügend Geld haben wir auch nicht. Wir können unsere Häuser nicht wieder aufbauen und wir haben auch keine Angehörigen mehr. Wir haben also keine andere Chance, als über die zwei Jahre hinaus hier wohnen zu bleiben."

Im gemeinsamen Aufenthaltsraum machen sich die meist älteren Menschen gegenseitig Mut, aber insgesamt ist die Stimmung gedrückt.

"Die Verbundenheit unter einander ist zwar groß. Aber es hat sich bis jetzt nur so wenig geändert. Das Haus ist zu klein, man kann alles hören, was die Nachbarn machen. Wir kommen oft in den Gemeinderaum, um etwas Stress abzubauen und miteinander zu sprechen. Es ist auch ein Jahr danach noch nicht klar, wo wir später wohnen können. Das macht es für uns so schwer. Wir wissen einfach nicht, wie es weitergehen wird."

Die Stadtverwaltung bemüht sich, aber die Entscheidungsprozesse sind langwierig, die Abstimmung mit der Zentral- und Präfekturregierung manchmal mühsam, räumt Katsunori Konari ein.

"Für die Betroffenen sind zwei Dinge das Wichtigste: die Wohnbedingungen und der Arbeitsplatz. Ich wünsche mir, dass uns der Staat hier mehr unterstützt."

Entlang der Küste im Nordosten Japans bietet sich auch ein Jahr danach ein trostloser Anblick. Von den einstigen Häusern stehen nur mehr die Fundamente, die die Natur bereits zurückerobert hat. Der Schutt ist in großen Sammelstellen zusammengetragen. Dort wird er nach brennbar und nicht brennbaren Stoffen getrennt. Aber es wird noch Jahre dauern, bis diese Lager abgebaut und aufgelöst sein werden.

Die Stadt Kesenuma ist als Fischerei-Zentrum bekannt. Etwa 1000 der 70 Tausend Einwohner starben durch den Tsunami. Sumio Saito hatte dort eine kleine Fabrik, bis der 11.März kam.

"Ich habe versucht, noch etwas von meiner Ausrüstung zu retten, aber da war nichts mehr. Der Tsunami hat einfach alles hinweg geschwemmt. Das, was ich gefunden habe, gehörte zu anderen Fabriken oder Autos. Es war einfach nichts mehr übrig."

31 Menschen verarbeiteten in Sumio Saitos Fabrik Fisch, den er in ganz Japan verkaufte. Saikichi-Shoten heißt seine Firma, die er wieder aufbauen will. Nach einem Jahr wird jetzt im Hof seines Hauses eine kleine Fertigungshalle errichtet. 16 Millionen Yen, etwa 160.000 Euro, hat Saito an Subventionen vom Staat erhalten. Den Rest musste er mit privaten Mitteln finanzieren.

Die großen Schiffe, die der Tsunami aus dem Hafenbecken in Kesenuma an Land gespült hatte, sind mittlerweile wieder im Wasser und werden repariert. Aber auch ein Jahr danach sehen einige Bereiche des Hafens aus wie eine Ruinenlandschaft. Krähen haben sich in den zerstörten Häusern eingerichtet und der Geruch lässt vermuten, dass sie in den vergangenen 12 Monaten reichlich Nahrung finden konnten.)

"In der Stadt Kesenuma gibt es nur sehr wenig ebenen Grund, auf dem man arbeiten kann. Und diese flachen Stellen sind stark vom Tsunami betroffen gewesen. Außerdem hat sich der Boden um bis zu 50 Zentimeter abgesenkt. Dennoch gibt es nur ganz wenige, die Kesenuma verlassen wollen. Die meisten wollen hier wieder neu anfangen, weil wir alle eine starke Bindung an unsere Heimat haben. Mich beruhigt das und es freut mich. Das Meer hat uns ja lange Zeit reichlich beschenkt und mit seinen Gaben erlaubt, unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Vor einem Jahr hat uns das Meer - wie soll ich sagen - an seine andere Seite erinnert. Aber jetzt ist es ruhig, sieht es wieder friedlich aus. Wir wollen hier bleiben. Die Menschen sind offen und lebenslustig. Ich denke, es wird alles wieder gut."

Südlich von Kesenuma in Minami-Sanriku kann man sich das nur schwer vorstellen. Der Ort gehört wie Rikuzentakata zu denen, die beinahe vollständig ausgelöscht wurden. Der Anblick der nivellierten Landschaft, der platt gemachten Wohnsiedelungen, der wenigen verbliebenen Stahlskelette wiederholt sich und lässt leicht vergessen, dass damit persönliche Schicksale verbunden sind wie das von Miki Endo.

"Miki-san, die Zuständige bei der Feuerwehr für die Tsunami-Warnungen, hörte nicht auf mit ihren Durchsagen. Auch als die Welle bereits zu sehen war, forderte sie über Lautsprecher die Bewohner auf, die Region zu verlassen. Zum Schluss befahl ihr Chef ihr, sich in Sicherheit zu bringen. Sie ging wie die anderen auf das Dach und überließ die letzte Warnung ihm. Sie alle sind ums Leben gekommen."

Miki Endo hatte ein Jahr zuvor geheiratet, war mit ihrem Ehemann in ein Haus gezogen und hatte die Stelle bei der Stadt angetreten. Sie wollte unbedingt in Minami-Sanriku bleiben, um in der Nähe ihrer Eltern zu leben.

"Ich habe gebetet, dass sie doch noch lebend gefunden wird und hatte so gehofft.
Ich fühle mich zu diesem zerstörten Gebäude hingezogen. Und ich habe fast das Gefühl, meine Tochter würde hier auf mich warten. Dabei weiß ich, dass ich nichts mehr tun kann, um sie zu finden."

In Ishinomaki, etwa 30 Kilometer von Minami-Sanriku entfernt, haben mehr als 10.000 Freiwillige im Laufe der ersten sechs Monate geholfen, den Schlamm wegzuschaufeln, die Trümmer beiseite zu räumen und die Wohnungen zu säubern, damit die Menschen wieder in ihr normales Leben zurückkehren können.

Ein Jahr danach sind die Freiwilligen in Ishinomaki deutlich weniger geworden. Aber in Teile der Stadt, in der über 5000 Menschen durch den Tsunami ums Leben gekommen sind, konnte auf diese Weise der Alltag zurückkehren.

"Seit dem 16. Juni haben wir wieder geöffnet. Vom Gefühl her bin ich halb optimistisch, halb ängstlich."

Toshio Mori ist in der neunten Generation Chef eines Soba-Ladens. Seit 150 Jahren gibt es das Nudel-Restaurant. Nach der Tsunami-Katastrophe vom 11. März wäre beinahe alles vorbei gewesen.

"Ich war nicht im Laden, als der Tsunami hereinbrach. Ich war unterwegs, meine Kinder von der Schule abzuholen. Mein ältester Sohn hat mir später erzählt, dass das Wasser eine Höhe von 2,40 Meter erreichte. Letztlich hatten wir Glück im Unglück. Andere Teile der Stadt waren noch viel schlimmer betroffen. Bei uns floss das Wasser nach drei Tagen wieder ab."

Den traditionellen Speicher im Hof des Hauses mussten sie abreißen. Das Dach sei erst einmal nur provisorisch repariert worden. Aber immerhin habe der Staat verbindliche Finanzzusagen gemacht. Was bleibt ist die Angst vor einem weiteren Erdbeben oder Tsunami, aber meint Toshi Mori am Ende:

"Wo in Japan man auch immer lebt, man kann den Erdbeben eigentlich nicht entkommen."

Angesichts der Lage Japans an der Nahtstelle verschiedener Erdplatten erstaunt es durchaus, dass die Regierung so konsequent auf die Atomkraft gesetzt hat. Für noch größeres Erstaunen, wenn nicht Entsetzen sorgt die Erkenntnis, wie schlecht das Land auf den Ernstfall einer nuklearen Katastrophe vorbereitet war. Katsutaka Idogawa, der Bürgermeister von Futaba in unmittelbarer Nähe des AKWs Fukushima 1, erinnert sich genau an den Tag der Evakuierung.

"Am 12. um 5 Uhr 44 habe ich von der Regierung den Evakuierungsbefehl erhalten, aber es gab keinen Hinweis wie oder wohin."

Idogawa und seine Mitarbeiter gaben die Aufforderung weiter, organisierten Autos und Busse, um die Menschen wegzubringen. Zuerst fuhr man nur 20, 30 Kilometer nordwestlich nach Iitate und Namie, um dort in Turnhallen abzuwarten, bis man hoffentlich bald wieder zurück nach Haus kann. Wie man mittlerweile weiß, ging gerade in dieser Region besonders viel Radioaktivität nieder. Am 19. März entschied der Bürgermeister nach Saitama weiterzufahren. Ende März richtete man sich in einem ehemaligen Schulgebäude in Kazo ein, in dem ein Jahr danach noch immer einige Hundert der einstigen Bewohner von Futaba leben.

"Wir hatten damals gar nicht daran gedacht, dass es solche Simulationsmodelle wie Speedy gibt. Wir haben keine Informationen bekommen und waren mit den Rettungsmaßnahmen nach dem Tsunami beschäftigt. Aber wenn ich daran denke, dass meine Bürger im Stau standen und der radioaktiven Strahlung ausgesetzt waren, dann werde ich auf die Regierung richtig ärgerlich."

Der Druck der Öffentlichkeit führte Mitte April dazu, dass neben der 20 Kilometer-Sperrzone rund um das havarierte AKW Fukushima 1 auch ein Gebiet nordwestlich mit den Orten Iitate und Namie evakuiert wurde. Die Belastung dort liegt bis heute zum Teil deutlich über den 20 Millisievert pro Jahr, die als Grenzwert dienen. Aber es hätte durchaus Gründe gegeben, die Menschen früher in Sicherheit zu bringen. Generell wird vor allem die Schwerfälligkeit der japanischen Regierung und des Beamtenapparats kritisiert. Keiner wollte in der Krise etwas falsch machen und hat im Zweifelsfalle lieber abgewartet.

"Bei all den Entscheidungen wird unsere Meinung überhaupt nicht berücksichtigt. Es wird festgelegt und ist dann in den Zeitungen nachzulesen. So war das mit dem Zwischenlager wie mit der Einteilung der Gebiete in drei Bereiche entsprechend ihrer Strahlenwerte. Plötzlich hieß es, dass man mit einer Belastung von bis zu 20 Millisievert pro Jahr leben könne. Dabei sprach die Regierung vorher noch von einer Obergrenze von einem Millisievert."

Das Krisenmanagement der Regierung wird derzeit überprüft ebenso wie das Verhalten von Tepco.

In dem insgesamt 700-Seiten starken Dokument wird eine Reihe von Versäumnisse aufgelistet. Natürlich stehen in Bezug auf das havarierte AKW Fukushima 1 die zu niedrigen Tsunami-Mauern und die Platzierung der Diesel-Notstromgeneratoren im Keller der Anlage an oberster Stelle. Ferner wird die mangelnde Kommunikation zwischen dem Krisenstab im japanischen Kanzleramt, den Behörden und dem Betreiber Tepco gerügt. So beschäftigt sich die Kommission zur Stilllegung des havarierten AKWs Fukushima 1 mit den notwendig gewordenen, nächsten Schritten. Ihr Vorsitzender Hajimu Yamana sieht noch viel Arbeit auf alle Beteiligten zukommen.

"Unsere offizielle Schätzung geht davon aus, dass die Stilllegung bis zu 40 Jahre dauern wird. Allerdings fällt diese Zeitspanne für jeden Reaktor unterschiedlich aus. Wir gehen davon aus, dass es allein 20 Jahre dauern wird, bis man das Material mit entsprechendem, teilweise ferngesteuertem oder noch zu entwickelnden Equipment sichergestellt hat. Und dann werden noch einmal 20 Jahre vergehen, ehe die Anlage selbst entsorgt sein wird. Allgemein gesprochen also rund 40 Jahre."