"Man muss sich als Mensch bewähren"

Von Volkhard App |
Tomi Ungerer kann mittlerweile auf ein umfangreiches Lebenswerk zurückblicken. Auf mehr als 40.000 Zeichnungen und in rund 150 Büchern hat er seine kritische Weltsicht festgehalten. An Schaffenskraft hat Ungerer dennoch nicht eingebüßt: Derzeit arbeitet er an einem neuen Buch und plant ein Ungerer-Museum.
"Diese furchtbare Traurigkeit! Ich bin ein furchtbar trauriger Mensch. Diese Menschen, diese Gewalt, diese Gier! Alles ist extrem geworden."

Aber diese Trauer über den Zustand der Welt hat ihn offenbar nicht gelähmt, ein gehöriges Maß an Wut muss ihn angetrieben haben – sonst wäre diese unglaubliche Produktivität nicht zu erklären. Auf mehr als 40.000 Blättern und in rund 150 Büchern hat er seine böse zugespitzten Diagnosen festgehalten: mit unbelehrbaren Militärs, die buchstäblich über Leichen gehen, mit monströsen Repräsentanten der so genannten feinen Gesellschaft und Alltagsmenschen, die in der brutalen Ehehölle gestrandet sind. Manches, was er mit dem Stift, mit lockerem Federstrich, dunklen Pinselpartien und gelegentlich auch in frechen Collagen dargestellt hat, wirkt genialisch hingeworfen:

"Man hat mich schon den ‚Schnellkünstler Ungerer’ genannt. Bei mir geht es sehr schnell. Wenn ich einmal die Skizze habe, verstehen Sie, das ist die eine Sache. Aber es kann passieren, dass ich dann dasselbe Motiv wieder auf das Papier werfe, 30 bis 40 Mal. Bei mir ist es fast eine Not und eine Sklaverei: ich habe einfach zu viele Ideen. Ich muss es einfach tun. So, wie man jeden Tag auf die Toilette geht, so muss ich täglich viele Zeichnungen erledigen."

Nach der Ursache für seine Politisierung muss man nicht lange suchen, erlebte Ungerer doch als Kind im heimischen Elsaß den Einmarsch der Deutschen. Die Sensibilität für politische Anmaßung und schamlose Gewalt hat er sich bewahrt, zeigte sich rebellisch, auch nachdem er 1956 nach New York übergesiedelt war, wo er als Werbegrafiker und Kinderbuchgestalter Erfolg hatte – aber eben auch gegen den Vietnamkrieg protestierte.

"What now?" steht in großen Buchstaben auf einem gemalten Blatt: in einer blutigen Lache liegt ein toter Vietnamese mit aufgerissenem Mund, im Hintergrund die Silhouette eines GI. Mit solch plakativen Attacken konnte man ebenso wenig "everybody’s darling" werden wie mit der schonungslosen Demaskierung der amerikanischen Partyschickeria, die er zur Kenntlichkeit entstellte. Von der Kluft zwischen arm und reich über die Diskriminierung Schwarzer bis zur Umweltverschmutzung und dem technischen Wahn, sich die Erde untertan zu machen. Ungerer wurde nicht müde, Trauer und Wut in Linien und Flächen zu verwandeln. "Pessimistische Weltsicht" heißt der Vorwurf, mit dem er immer wieder konfrontiert worden ist:

"Nicht nur pessimistisch, sondern realistisch. Und wenn man realistisch ist, dann ist man pessimistisch. Man hätte nach dem Krieg fast sagen können, es sei der Anfang. Und man sagte damals schon, es sei der Anfang vom Atomzeitalter. Das ist vorbei, jetzt kommen wir ins genetische Zeitalter – stark manipuliert von Zauberlehrlinge, in den Finanzen, in der Politik und andernorts. Aber was unsere Kinder von uns bekommen, sieht nicht so schön aus: Weltverschmutzung, Ökologieprobleme, verschmelzende Pole, die neuen Krankheiten. Die Natur hat Rache genommen. Irgendwie sind wir hier am Ende."

Als "pervers und subversiv" wurde Ungerer einst auf dem Gymnasium bezeichnet, das er ohne Abitur verließ. Ein Freigeist ist er geblieben:
"Ich bin meine eigene Heimat. Mein Taschentuch ist meine Fahne", so sagte er.
Nicht nur Cartoonisten wie Saul Steinberg zählen zu seinen künstlerischen Traditionen, mit Blick auf die alptraumhafte Verdichtung seiner Motive und die sarkastische Gesellschaftskritik kommt gleich ein ganzes Künstlerspektrum zwischen Goya und George Grosz in Frage.

Aber da gibt es neben dem garstigen Ungerer auch noch den eher beschaulichen: Selbst anheimelnde Zeichnungen nach der Natur hat er zu Papier gebracht, die Heimat skizziert - und viele Menschen lieben seine herrlich colorierten Illustrationen in Kinder- und Liederbüchern. Und doch scheint in seinem Werk der düstere Kosmos aus Sex und Gewalt übermächtig.

Ungerer sorgte für Skandale: mit dem Buch "Fornicon" und den dort zur Schau gestellten Sexmaschinen, kopulierenden Leibern und Sado-Maso-Phantasien rief er um 1970 Feministinnen auf den Plan:

"‚Fornicon’ war ein Buch für Feministinnen. Die hatten das auch ganz gut kapiert. Aber dann komme ich nach Deutschland, und Alice Schwarzer – also bitte ... Ich habe meine Zeichnungen so hart zugespitzt, was kann noch härter sein? Wie haben es schon: im Fernsehen."

Als "Wanderer zwischen heiler und geiler Welt" hat er sich mal bezeichnet. Viele hatten Probleme mit diesen drastischen Darstellungen und mancher Kurator hat sie selbst bei großen Ungerer-Retrospektiven weitgehend ausgespart. Gegen den Vorwurf, gezeichnete Pornographie zu publizieren, konnte er sich wehren. Weniger unangenehm ist ihm das Prädikat, ein "Erotomane" zu sein:

"Ein Erotomane ist jemand – und das bin ich -, der seine Phantasien in der Realität ausspielt. Mit einer Partnerin oder manchmal zweien – falls die dasselbe Vergnügen daran haben. Und mich interessieren die Phantasien der anderen Leute genauso wie meine. Es ist ein Austausch von Phantasien."

In all der von ihm gezeichneten und gepinselten Wollust aber ist der Tod allgegenwärtig: eine üppig proportionierte Frau präsentiert auf einem Blatt statt ihrer Brüste zwei Totenschädel, ein anderes Weib wird im Sarg von Skeletten durch die Landschaft getragen. Allegorien in der Nachfolge mittelalterlicher Totentänze beherrschen viele seiner Bilder. Umgekehrt ist im Reich des Todes die Wollust präsent, wobei zum Beispiel ein Skelett mit erigiertem Knochen wieder zu einer Geschmacksfrage wird, wie sooft bei Ungerer.

Heute mag er altersmilde wirken - vom kanadischen Neuschottland führte sein Weg vor drei Jahrzehnten nach Irland, wo er Schafe züchtet. Aber künstlerisch produktiv ist er noch immer - zurzeit plant er ein Ungerer-Museum in seiner Vaterstadt Straßburg und bereitet ein Buch vor: die "Geschichte eines kleinen schwarzen Jungen, der seine Einsamkeit bekämpft". Das Ouevre, das er bisher vorgelegt hat, reicht mit seiner unglaublichen Trefferquote, mit all den sarkastischen, absurden und morbiden Pointen ohnehin schon für mehrere Künstlerleben. Wahrscheinlich hat es in seiner Arbeit neben Trauer und Verzweiflung über den Zustand der Welt immer auch ein sinnstiftendes Moment von Hoffnung gegeben:

"Man muss sich als Mensch bewähren. Man muss es einfach probieren, ein bisschen Stolz an seiner ‚Menschheit’ zu haben."