"Man muss nicht über die jetzige Wirtschaftsproblematik schreiben"

Richard Kämmerlings und Helmut Böttiger im Gespräch mit Katrin Heise · 16.03.2011
"Mein Anspruch an Literatur, die heute entsteht, ist, dass sie mir etwas über das Heute sagt", sagt Richard Kämmerlings, Literaturkritiker der Tageszeitung "Die Welt" und Autors des Buches "Das kurze Glück der Gegenwart". Hingegen betont DKultur-Kritiker Helmut Böttiger, Literatur müsse jenseits des Zeitgeistes Aussagewert haben.
Katrin Heise: Nichts gilt als veralteter als die Zeitung von gestern, beim heutigen Schnelldurchlauf der Nachrichten haben die News von gestern heute schon Archivcharakter. Gilt das eigentlich ähnlich für die Literatur oder sind Kriterien wie gegenwartsbezogen überhaupt aussagekräftig oder gar ein Maßstab für gute Literatur? Darüber lässt sich diskutieren und das will ich tun mit Richard Kämmerlings – seit Herbst vergangenen Jahres Literaturkritiker der Tageszeitung "Die Welt", vorher war er bei der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" – und mit dem Essayisten, Schriftsteller und Literaturkritiker hier im Deutschlandradio Kultur, mit Helmut Böttiger. Schönen guten Tag, die Herren!

Richard Kämmerlings: Guten Tag!

Helmut Böttiger: Guten Tag!

Heise: Herr Kämmerlings, in Ihrer Literaturgeschichte "Das kurze Glück der Gegenwart", da formulieren Sie den Anspruch, dass Literatur nur dann bedeutsam ist, wenn sie etwas über die Gegenwart aussagt. Wie definieren Sie eigentlich gegenwärtig, heißt das für Sie, dass beispielsweise Facebook, Twitter, iPhone4, irgendwie so was darin vorkommen muss?

Kämmerlings: Gegenwartsliteratur bedeutet zunächst mal für mich eben nicht einfach nur Literatur, die in der Gegenwart entsteht oder in der Gegenwart geschrieben wurde, sondern die sich tatsächlich mit den Problemen der Gegenwart beschäftigt, die versucht, die Strukturen unserer Gegenwart, unserer Zeit, die wirtschaftlichen, die sozialen, auch die technischen Strukturen zu durchdringen und dafür Erzählformen zu finden. Hier muss ich vorausschicken, dass ich natürlich davon ausgehe, dass Literatur nicht primär ein Unterhaltungsmedium, sondern ein Erkenntnismittel ist.

Heise: Und die Gegenwartserkenntnis bezieht sich dann eben vor allem auf das, was in der Gegenwart gerade eine Rolle spielt, und da lohnt nicht der Blick zurück?

Kämmerlings: Es ist völlig klar, dass in der Gegenwart ja auch die Geschichte eine Rolle spielen kann, ganz klar, und es gab sicher Phasen in der deutschen Literatur, wo natürlich die deutsche Vergangenheit eines der zentralen Themen war und auch sein sollte. Aber mein Anspruch an Literatur, die heute entsteht, ist, dass sie mir etwas über das Heute sagt.

Heise: Und was passiert mit der Gegenwartsliteratur von heute dann übermorgen?

Kämmerlings: Die große Literatur bleibt groß. Natürlich sind die Klassiker deswegen Klassiker, weil sie unter anderem ihre Zeit so in Geschichten gefasst haben, dass sie auch heute noch lesenswert sind. Die Frage ist nur, warum soll ich überhaupt Literatur von heute lesen, wenn es so viele tolle Bücher von früher gibt, warum lese ich nicht nur Klassiker? Und da gerät die Gegenwartsliteratur in einen gewissen Rechtfertigungsdruck.

Heise: Sehen Sie den auch, Herr Böttiger, diesen Rechtfertigungsdruck, gegenwärtig sein zu müssen?

Böttiger: Also das kommt darauf an, wie man Gegenwart definiert. Da fängt es ja dann an spannend zu werden. Ich glaube, dieser Gegenwartsimpetus, der wurde jetzt aktuell durch die Popliteratur sehr stark gesteigert, wir haben sehr viele Fans des Schriftstellers Rainald Goetz, zu denen ich mich durchaus auch zähle, der diese akute Gegenwart, den extatischen Moment, die Feier des Augenblicks in den Mittelpunkt rückt, und da kann ich durchaus mitgehen. Nur wenn man dann Gegenwart weiter fassen möchte, was ist Literatur, die in der Gegenwart stattfindet und sagen wir in 50 Jahren noch etwas über unsere Gegenwart ausdrückt, dann fällt es mir relativ schwer, da so konkrete Formen dafür zu finden. Es hat viel mit der Sprache zu tun, wie die Gegenwart durchdrungen wird, und ein Punkt ist mir da schon auch wichtig, wenn man die jüngere Geschichte der bundesdeutschen Gegenwartsliteratur anschaut – die berühmten Beispiele, Günter Grass, "Die Blechtrommel", das war im Grunde 20 Jahre geschrieben, nachdem die Ereignisse stattgefunden hatten, über die verhandelt wurde, das ist kein Roman über das Jahr 1959, oder nur bedingt von der Inhaltsebene, sondern es geht um den Krieg und den Nachkrieg. Genau so Uwe Johnsons "Jahrestage", Peter Weiss "Ästhetik des Widerstands". Also es braucht eine Zeit, um unmittelbare Zeitgeschichte, auch Zeitstimmungen in Literatur zu überführen, weil Literatur ist eine Transformation in Sprache. Und da müsste man über jedes einzelne konkrete Werk sprechen, wie das funktioniert.

Heise: Wie lange ist bei Ihnen die Transformationsphase, die Sie dann der Literatur zubilligen?

Kämmerlings: Das kann man natürlich nicht mit dem Rechenschieber machen. Ich gebe Ihnen völlig recht natürlich, dass gerade die Nachkriegsliteratur – das habe ich ja vorhin auch gesagt – sich ganz primär natürlich mit der Vergangenheit, natürlich mit der unmittelbar drängenden und auch in den 50er-, 60er-Jahren noch extrem unaufgearbeiteten Vergangenheit beschäftigt hat, ganz klar. Aber natürlich, nach 89, nach dem 11. September, nach den Finanzkrisen der Nullerjahre gibt es auf einmal eine andere Erkenntnislage vielleicht auch über bestimmte Themen der Gegenwart, in dem Fall jetzt vielleicht der aktuellen Phase das Thema der Technik, Umgang mit Technik in der Gegenwart. Und ich glaube, dass Literatur natürlich nicht unmittelbar innerhalb von Monaten oder wenigen Jahren, aber doch insgesamt darauf reagieren sollte.

Heise: Denn direkt reagieren Essays, reagieren Feuilletons, reagieren einfach die kürzeren Formen.

Böttiger: Also interessant wird es bei der Frage, wo sich Literatur von Journalismus unterscheidet, und Journalismus lebt von den Themen, lebt von den Stoffen, Literatur lebt von der Sprache, mit dem bestimmte Stoffe umgesetzt werden. Und wenn ich jetzt gucke, was ist bedeutende Gegenwartsliteratur, dann stellt sich die Frage: In der Gegenwart kann man oft darüber relativ wenig aussagen, das entscheidet sich erst zehn, 20 Jahre später, wenn man sich noch an bestimmte Bücher erinnert. Und das ist eine Durchdringung der Problematik, die im Moment in der Luft liegt, mit Sprache. Wenn ich Autoren wie jetzt Wolfgang Hilbig oder Reinhard Jirgl nenne, dann leben die von bestimmten Stoffen, aber viel mehr von Grunderfahrungen der Existenz, die in eine Sprache überführt werden, die unmittelbar gegenwärtig sind. Man kann nicht mehr erzählen wie im 19. Jahrhundert, das ist auch jetzt eine Ideologie von bestimmten Journalisten, dass man realistisch platt erzählen müsse, dass man einen Stofffüller haben müsse, dass man einen Familienroman erzählen müsse. – Darum geht es überhaupt nicht, es geht darum, dass die Sprache das Bewusstsein des Menschen in der Gegenwart widerspiegelt. Und die Sprache – darauf liegt für mich der Hauptakzent –, das hat sehr viel mit dem Auseinanderbrechen der Wahrnehmung zu tun, mit dem Auseinanderbrechen der früher gewohnten Welterklärungen, und dafür muss der einzelne Text etwas finden. Und ich würde da weniger auf die konkreten Themen und Stoffe abheben, sondern wie der Autor eine zeitgemäße Sprache entwickelt.

Kämmerlings: Aber woran kann ich diese Zeitgemäßheit dann festmachen? Von Sprache kann man reden, man kann natürlich auch von Formen oder Erzählstrukturen reden – der Maßstab, um die Zeitgemäßheit von solchen Sprachstilen zum Beispiel zu bemessen, kann aber nur ein bestimmter Stoff sein, denn alle Sprachstile sind gewissermaßen eigentlich alle gleichwertig, wenn man sie nicht mit bestimmten Problemen der Gegenwart verknüpft und sagt, für diese ... Jetzt mal konkret zu reden: Um die Wirtschaftskrisen darzustellen, kann ich nicht mehr so erzählen, wie das vielleicht ein Tolstoi noch konnte, sondern da muss ich in die Strukturen reingehen, da muss ich irgendwie auch die Sprache dieser Systeme aufgreifen, abwandeln, ins Leere laufen lassen. Und das heißt, der Maßstab für die Aktualität einer Sprache ist dann wiederum der Stoff.

Heise: Herr Kämmerlings, geben Sie doch mal ein Beispiel, welche Bücher entsprechen diesen Ihren Kriterien?

Kämmerlings: Also wenn wir beim Thema Wirtschaft bleiben, halte ich zum Beispiel einen Roman wie "Wenn wir sterben" von Ernst-Wilhelm Händler für ein sehr gelungenes Beispiel, mit den Strukturen unserer wirtschaftlichen Gegenwart umzugehen. Der ist 2004 erschienen und das ist ein Roman, der im Grunde die Intrigen auf der Führungsetage von einem großen Unternehmen darstellt, aber gleichzeitig in seiner Form gewissermaßen diese Struktur in der Wirtschaft selber abbildet, weil er sich andere Sprachstile, andere Formen der Literatur einverleibt, wie ein Unternehmen sich kleinere Unternehmen einverleibt, wie Unternehmen fusionieren. Das wäre für mich so ein Paradebeispiel, wo man sieht, wie ein bestimmter Stoff eine neue Form erzwingt und diese Form dann eben genau deswegen zeitgemäß ist.

Heise: ist Ihnen, Herr Böttiger, das zu kurzfristig gedacht?

Böttiger: Also zufällig fand ich diesen Roman von Ernst-Wilhelm Händler auch sehr gut, also den habe ich auch sehr positiv besprochen, es ist für mich ein herausragendes Buch auch der letzten Jahre. Aber wenn ich da allgemeine Formeln dafür finden müsste, dann würde ich weitergehen. Mir fällt zum Beispiel auf, dass ... Im Theater stellt sich da überhaupt nicht die Frage, da geht es immer um die Themen Liebe, Tod, das ist seit der griechischen Antike der Fall. Das ist, Theater ist die Urform von Literatur. In Literatur geht es im Grunde auch um wenige existenzielle Themen, die in der jeweiligen Zeit bestimmte Noten annehmen. Deswegen würde ich sagen, man muss nicht über die jetzige Wirtschaftsproblematik, über den Trend zur Monopolisierung der Finanzmärkte schreiben, um ein bleibendes Werk der Gegenwartsliteratur zu schaffen. Ich könnte – um das ein bisschen zu dynamisieren – sagen, dass einer der besten Autoren für mich der letzten Jahre Wilhelm Genazino ist. Der schreibt über Dinge, die in den 50er-, 60er-Jahren passiert sind, der schreibt über grundlegende Gefühle zwischen Menschen, die eine Form von Zeitlosigkeit haben. Aber man merkt, dass das unmittelbar heute geschrieben worden ist. Und dieser Punkt, das finde ich den interessanten: Es sind Probleme, die wir kennen, die die grundlegenden Paradoxien überhaupt als Mensch zu existieren darstellen, aber man merkt, dass das heute geschrieben ist. Und wie das funktioniert, ist das Spannende.

Heise: Für Sie eher Erinnerungsliteratur?

Kämmerlings: Nein, natürlich gibt es Literatur, die zeitlose Probleme darstellt, die zeitlose menschliche, ich sage mal die Conditio Humana darstellt, das bestreite ich gar nicht. Und natürlich kann man Genazino lesen, man kann dann aber genau so gut auch fragen, warum lese ich da nicht gleich Joseph Conrad oder Proust oder Tolstoi ...

Böttiger: ... na also das sind die größten Autoren, die es gibt, Proust! ...

Kämmerlings: ... nein also ich meine, die Lebenszeit ist knapp und die Lesezeit, und mit zeitlosen Problemen kann ich mich natürlich mit den Klassikern wunderbar beschäftigen. Um noch mal auf das Theater zurückzukommen: Gerade das Theater zeigt doch gerade, dass es nötig ist, diese alten Texte immer wieder neu zu inszenieren. Sonst bräuchte ich es doch gar nicht, sonst müsste ich doch gar nicht jedes Jahr eine neue "Antigone" und einen neuen Shakespeare auf die Bühne stellen, dann könnte ich doch auch die Inszenierung der 60er-Jahre einfach immer wieder von vorne zeigen!

Böttiger: Ja aber es geht immer um dieselben Themen, gerade bei diesen grundlegenden Stoffen. Aber wenn Sie Proust sagen –da muss ich schon eine ganz gegenwärtige Leseerinnerung sagen –, den habe ich zufällig in den letzten Sommern gelesen, alle Bände in drei Sommern, und das gehört zu meinen schönsten Leseerfahrungen. – Und weshalb: Weil Proust vor 100 Jahren im Grunde die Dinge geschrieben hat, die uns heute auch noch angehen, es gibt in dem letzten Band bei Proust wunderbare Diagnostiken der damaligen Gegenwart, die auch die heutige Gegenwart betreffen, es sind essayistische Reflexionen darüber, dass Literatur nicht abbilden kann, dass sie nicht das nur wiedergeben muss, was in der unmittelbaren Gegenwart in der Luft liegt, sondern die Gegenwart durchdringen. Wenn viele Gegenwartsliteraturen das heute ernst nehmen würden und Proust kennen würden, dann müssten wir uns mit 90 Prozent der Gegenwartsproduktion gar nicht erst befassen.