''Man muss grad' bleiben im Leben''
Heute ist Dora Prinz beinahe 90 Jahre alt. Sie wohnt in einem kleinen Haus, nur zwei Kilometer von dem Weiler entfernt, in dem sie geboren wurde. Besitzt eine Waschmaschine, einen Kühlschrank, einen Gasherd - doch ihre Stube heizt sie immer noch mit einem Ofen. Sie ist keine, die ihr Herz auf der Zunge trägt. Aber eine, die genau hinsieht und ihre Meinung hat. Man muss grad' bleiben im Leben, sagt sie.
In Herlazhofen an der Dorfstraße führt ein Weg hinaus zur alten Mühle, zwischen Weiden entlang, auf denen Allgäuer Braunvieh grast, das ferne Glockengeläut eine leise Musik. Regnet es, riecht die Erde würzig; scheint die Sonne, glänzt das Gras.
In einem kleinen Wald hinter der Mühle gabelt sich der Weg, ein Schild weist hinaus und in die Viehweid. Sanfte Hügel zu beiden Seiten. Höfe, die sich in die Mulden schmiegen.
"Meine Heimat… - ich bin alle Sonntage hier rausgelaufen. - Ein bissele klopft’s."
Am 22. Juli 1919 wurde Dora Prinz in der Viehweid geboren, einem winzigen Weiler im Württembergischen Allgäu, so genannt, weil die Herlazhofener Bauern hier draußen einst ihr Vieh zusammentrieben. Sie war das erste Kind vom Prinz Josef und der Stöckle Elisabeth, die ein halbes Jahr zuvor geheiratet hatten. 1920 kam ein Bruder zur Welt, der bald darauf starb, 1921 wurde die Frida geboren, 1923 die Monika, schließlich der Sepp.
"Wir waren bettelarm."
"Wir hatten ungefähr 23 Morgen Land, sechs Kühe und zwei Gäule. Oder einen Gaul und einen Ochsen. Hühner und Sauen – meist zwei Sauen, eine zum Verkaufen und eine zum Schlachten."
Die Eltern ließen sie auf den Namen Viktoria taufen; doch alle nannten sie immer nur Dora. Als Älteste passte sie auf die Geschwister auf, hütete das Vieh (denn damals hatten die Weiden noch keine Zäune), sie klaubte Steine vom Acker (damit die Erwachsenen mähen konnten), setzte Kartoffeln, Rüben, suchte Reisig im Wald. Als sie zehn war oder zwölf, lehrte der Vater sie das Melken. Jeden Abend lud sie die Kannen auf einen Wagen, zog ihn ums Haus, folgte dem Weg am Ostufer des Hinterweihers entlang, vorbei am Wegkreuz mit dem Heiland, an dem verwitterten Wegweiser, durch den Wald vor zur Mühle, zur Dorfstraße und den Hügel hinauf zur Käserei.
"Unser Nachbar, der Mahler-Bauer, hat 16 Kinder gehabt, die haben auch alle müssen helfen. Ein anderer Nachbar hat 24 Kinder gehabt. Drei oder vier Kühe – und 24 Kinder. Manchmal sind welche zu uns gekommen zum Übernachten."
Die Mutter und der Vater waren immer da, wenn ein Nachbar Hilfe brauchte. Zu helfen, sagt Dora, das hab ich daheim fürs Leben gelernt.
Sie selbst ging sieben Jahre zur Schule, half dann daheim den Eltern. Bis eines Tages im Frühjahr 1936 ein Fuhrwerk durch die Viehweid eilt:
"Die Frau Stöckle auf dem Nachbarhof hat ein Kind gekriegt und in Ottmannshofen, hinter Leutkirch, da hat auch eine Bäuerin ein Kind gekriegt. Die Hebamme ist von dort in die Viehweid gekommen. Die hat man ja mit dem Fuhrwerk geholt, und meist hat mein Vater sie geholt, denn er hat ein Ross gehabt. Der Stöckle-Bauer hat kein Ross gehabt. Der hätte Kühen einspannen müssen, um die Hebamme zu holen, und das tut man ja nicht."
"Die Hebamme hat vermittelt: Sie hat gesagt, auf dem Hof in Ottmannshofen sucht der Bauer ein Mädle zum Helfen."
"Ich hab gesagt: Probieren kann man es. Probieren kann man alles! Hab ja auch das meiste hingekriegt."
Sie schaut herausfordernd. Nickt. Ihre Augen klar und blau wie der Himmel über den Hügeln an einem Sommertag.
Am 11. April 1936, dem Freitag vor Palmsonntag, dem sogenannten Schmerzhaften Freitag, läuft Dora mit der Mutter früh zur Messe. Danach packt sie etwas Wäsche und ihr Gebetbüchlein zusammen, schnallt den Koffer auf den Gepäckträger, und Mutter und Tochter machen sich auf den Weg. Eine radelt, die andere läuft zu Fuß. Zwei Kilometer hinüber nach Herlazhofen, vier Kilometer durch die flachen Wiesen bis nach Leutkirch, drei hohe Hügel hinauf nach Ottmannshofen. Noch nie war Dora allein so weit fort von daheim.
"Ich bin nicht traurig gewesen, mein Elternhaus zu verlassen. Eher neugierig."
"Probieren kannst du es, hab ich mir gesagt. Ein anderer Hof – andere Leute, andere Sitten."
Du musst nicht fort, sagt die Mutter noch. Doch die Tochter weiß: Bin ich fort, hockt daheim ein Esser weniger am Tisch.
Der fremde Bauer mustert das Mädchen. Will wissen, ob es als Magd etwas taugt. Stellt Fragen.
"Freilich: Wie alt dass ich bin, was ich kann?
Wie alt ich bin, hat er gefragt, und was ich kann?"
"Lernen kann man alles, hab ich gesagt."
Der Bauer ist skeptisch. Dora ist 16 und nur einen Meter vierzig groß; als Kind hat sie die Englische Krankheit gehabt, Rachitis, und ist nur langsam gewachsen.
"Ja, ja, ich bin klein, hab ich gesagt, aber oho. Schließlich hat er gesagt: Wir probieren es, wir werden ja sehen. Zehn Reichsmark im Monat tät ich kriegen. Kurz danach hab ich schon in den Stall müssen, Kühe melken."
Die Mutter steigt aufs Rad und fährt heim, allein.
73 Jahre ist das her. Heute ist Dora Prinz Rentnerin. Wohnt lange schon in Herlazhofen, in einem Haus mit roten Fensterläden, am Fuß der Kirche. Im Schuppen im Garten steht noch immer eine Sense; gemäht hat sie gern und mit über 70 Jahren noch an Sensen-Mähwettbewerben teilgenommen (und gewonnen). Hinterm Haus, den Hügel hinab, Weite, Wiesen. Hier und da duckt sich eine Scheune, an der Kreuzung nach Leutkirch leuchtet weiß eine Feldkapelle. In der Ferne die Berge.
Im Haus neben der Tür ein Wandteller: Ein guter Gast ist niemals Last. In der Stube Kanapee, Tisch, Pendeluhr, rote Vorhänge. Der Herrgottswinkel mit der Muttergottes, Blumen und einem Bild von Papst Benedikt. In der Küche stehen ein Kühlschrank, ein Gasherd, sie besitzt eine Waschmaschine – doch heizen tut Dora immer noch mit einem Ofen.
Mit steifen Fingern zerreißt sie Papier, stopft es in den dunklen Schlund, greift nach einem Reisigbündel, schiebt es hinterher.
Sie richtet sich auf. Draußen scheint die Sonne. Trotzdem, sagt sie, eine gute Stube muss immer warm sein.
Ein wenig vorgebeugt läuft sie zum Tisch, setzt sich ans Kopfende. Sitzt da, schaut aufmerksam, wartet auf die nächste Frage. Sie ist keine, die ihr Herz auf der Zunge trägt. Aber eine, die genau hinsieht und ihre Meinung hat. Und die gelernt hat, sich zu behaupten.
"Der Bauer in Ottmannshofen hat eine Obermagd gehabt.
Schläge hab ich keine gekriegt, aber böse ist sie gewesen. Unschöne Worte hat es gegeben. Und ich hab alle Arbeit machen müssen, für die sie sich zu schade gewesen ist – die Güllegrube leeren, Mist auf den Äckern ausbringen, strenge Arbeit."
Der Bauer merkt bald, dass Dora klein ist, aber arbeitet wie ein Knecht. Heu mäht und Getreide, eggt, sät, Ferkel holt und Kälber. Zu Nikolaus fragten die Bauern ihre Dienstboten, ob sie noch ein Jahr blieben; wenn ja, durften sie die Geschenke behalten, die sie zu Weihnachten und zum Namenstag bekommen hatten: Kleidung, Bettwäsche, Heiligenfiguren. Wenn nicht gingen sie zu Mariä Lichtmess, dann endete das Bauernjahr und alle Dienstboten bekamen eine Woche Urlaub.
"Ich hab gesagt: Ich bleib, wenn die Obermagd geht. Wenn sie bleibt, geh ich. Schließlich ist sie gegangen. Sie hat geheiratet."
Auf vier Höfen arbeitete Dora Prinz zwischen 1936 und 1958 als Magd. Ein Bauer traute ihr nichts zu, ein anderer war jähzornig, einer schlug und stritt den ganzen Tag. Knechte lagen faul im Gras und rauchten, und Dora machte ihre Arbeit mit. Sie beugt sich vor, fixiert ihr Gegenüber. Wenn man schafft, sagt sie, zeigt sich immer, ob man was taugt.
"Weißt, was man früher gesagt hat? Da, wo man zuerst heult oder es einem gar nicht gefällt, da bleibt man am längsten. Kommt Zeit, kommt Rat."
Anderntags in der Viehweid.
Der Hof der Eltern ist ein Wohnhaus, ein Anbau vermietet, der alte Stall ein Lager für Brennholz. Doch der Riedle-Hof am Ufer des Hinterweihers, der seit Jahren Moorbad heißt und eine Badeanstalt und einen Campingplatz hat, der wird noch betrieben.
Ein Kalb schleckt über Doras Hand, fast sieht es aus, als wolle es sie verschlingen. Dora lacht.
Tiere hat sie immer gemocht.
"Ich hab lieber einem Kälble in die Augen geschaut als manchem Bauern. Wenn ein Bauer jähzornig gewesen ist und geschimpft hat, bin ich oft in den Stall gegangen zu den Kälbern."
Der junge Riedle-Bauer läuft vorbei, ruft Grüß dich, Dora. Er ist der Enkel vom alten Riedle-Bauern, der in Kindertagen ihr Nachbar war. Damals haben die Bauern abends Weihwasser im Stall verspritzt – das brachte Glück. Hab ich als Magd auch getan, sagt sie. Hat auch funktioniert. Sie zwinkert.
Es ist Melkzeit. Klein und auf ihren Stock gestützt steht die ehemalige Magd am Stalltor und schaut zu. Wer geschickt war, sagt sie, der hat fünf oder sechs Kühe in einer Stunde geschafft. Und schaut auf ihre Hände.
"Heut hab ich keine Kraft mehr in den Fingern. Ich kann sie auch nicht mehr so bewegen. Ich kann die Zitzen nicht mehr gut greifen und drücken."
Ihr halbes Leben hat sie Kühe versorgt, hat sieben Tage die Woche morgens und abends gemolken, gefüttert, gemistet.
Wie viele Kühe ich in meinem Leben gemolken hab?
"Das fragst mich was …"
Hinterm Stall steht die Sonne über den Bäumen, das Wasser des Weihers schillert dunkel. Eine Landschaft, sanft und friedlich. Eine Gegend, die sich selbst genügt, die alles zu haben scheint, nichts braucht.
Und die in langen Wintern so rau wird, monatelang unter Schnee begraben liegt, starr vor Frost, karg und unzugänglich.
Daheim heizt Dora wieder ein. Bei ihrem ersten Bauern blieb sie zwei Jahre, wechselte dann auf einen Hof in Herlazhofen, blieb lange dort, wechselte noch einmal, und als nach dem Tod der Mutter die Schwester heiratete, um den elterlichen Hof zu übernehmen, ihr Bräutigam aber nur fort konnte von dem Bauern, bei dem er Knecht war, wenn er jemanden an seiner Stelle brachte, verdingte Dora sich ein weiteres Mal als Magd. Ja, sagt sie, ich hab viel gearbeitet. Bitterkeit? Nein.
"Das ist vorbei. Mir geht’s heut gut.
Die Arbeit merk ich doch heut nicht mehr! Außer meine Hände …
Sonst bin ich sehr zufrieden."
Manchmal, räumt sie ein, wenn ein Bauer gebrüllt und geschlagen hat, wär sie gern in einem Mauseloch verschwunden.
"Hast immer gehorchen müssen. Aber einmal, bei zweiten Bauern, der oft launisch gewesen ist, da hab ich doch gesagt: Wenn du so weiter machst, geh ich."
"Den ganzen Tag hat er im Rathaus gehockt, weil er auch Bürgermeister gewesen ist, und wenn er heimgekommen ist und nicht alle Arbeit erledigt war, hat er mit mir geschimpft. Nie mit den Knechten! Weil er Angst gehabt hat, die Mannsbilder laufen ihm davon."
"Dann bin ich heim!"
Ihre Augen blitzen. Und Stolz liegt in ihrem Gesicht.
"Keine Woche bin ich daheim gewesen, da ist er angekommen: Dora, du musst helfen. Und wenn’s bloß im Tagwerk ist. Im Tagwerk hab ich’s dann besser gehabt, dann hat er nicht mehr geschimpft – sonst wär ich am nächsten Tag gar nicht mehr gekommen. Da hab ich ein Druckmittel gehabt. Ja, da muss man schlau sein …"
Sie sitzt auf ihrem Stuhl und schaut unverwandt. Sagt nichts weiter. Nur der Ofen knistert und die Uhr tickt. Woher sie das Selbstbewusstsein hatte?
"Ich hab immer gewusst, ich kann jederzeit heim zu den Eltern.
Nur verdien ich dann kein Geld."
Eigenes Geld zu verdienen, das war ihr wichtig.
"Ich wollt auch was werden, und ich bin auch was geworden! Wenn ich auch nicht groß war."
Geheiratet hat sie nie. Doch, doch, Bewerber gab es, sagt sie. Und lächelt.
"Ich war ja auch heikel.
Es gab so viele Bauern, die hatten nur eine Frau und einen Ochsen zum Schaffen.
Da wär ich auch bloß Magd gewesen. Nein, da bin ich lieber allein gewesen."
1957 hatte Dora einen Unfall, fiel bei der Heuernte vom Wagen und brach sich einen Wirbel. Im Jahr darauf kündigte sie. Sie wollte nicht länger Magd sein.
"Es ist mir verleidet worden. Ich hab genug gehabt! Nicht einmal am Sonntag frei!"
Sie findet Arbeit in einer Baumschule. Hat fortan, mit fast 40 Jahren, am Wochenende frei, bekommt Urlaub, und wann immer es stürmt und schneit, verrichtet sie ihre Arbeit im Trockenen.
"Und kein Stall. Vor allem kein Stall mehr! Nur Bäumchen."
Ein Lächeln. Und dieser unverwandte, direkte Blick. Würde liegt darin. Und Schalk.
"Was ich tät, wenn ich noch einmal jung wär?
Dann tät ich mir einen Eisenbahnwagen kaufen oder einen Wohnwagen. In dem würd ich wohnen. Dann würd ich keine Miete zahlen, nur ein bisschen Platzgebühr, und viel Geld sparen. Ich würd alles kaufen, was man zum Leben braucht und Sonntags auf der faulen Haut liegen."
"Ab und zu wär’s schön, mal mit den Rössern zu fahren, Kühe zu hüten, Schweine zu misten. Das tät ich schon ab und zu gern. Und die restliche Zeit?"
"Schlafen!"
Vor kurzem ist Dora Prinz 90 Jahre geworden. Sie und ihre jüngste Schwester haben alle überlebt. Die Monika wohnt noch im Elternhaus in der Viehweid, und sonntags besucht Dora sie. Sie läuft den Weg hinaus zur Mühle, durch den Wald und am Ufer des Weihers entlang, vorbei am Wegweiser und am Wegkreuz mit dem Heiland, nicht mehr zu Fuß, sie lässt sich fahren. Doch wenn sie die sanft geschwungenen Hügel sieht, die Höfe, die sich in die Mulden schmiegen – dann klopft ihr Herz.
"Ein bissele klopft’s."
Hier ist sie geboren, hier gehört sie hin. Hier sind ihre Wurzeln, in diesem Boden.
"Das ist halt meine Heimat."
In einem kleinen Wald hinter der Mühle gabelt sich der Weg, ein Schild weist hinaus und in die Viehweid. Sanfte Hügel zu beiden Seiten. Höfe, die sich in die Mulden schmiegen.
"Meine Heimat… - ich bin alle Sonntage hier rausgelaufen. - Ein bissele klopft’s."
Am 22. Juli 1919 wurde Dora Prinz in der Viehweid geboren, einem winzigen Weiler im Württembergischen Allgäu, so genannt, weil die Herlazhofener Bauern hier draußen einst ihr Vieh zusammentrieben. Sie war das erste Kind vom Prinz Josef und der Stöckle Elisabeth, die ein halbes Jahr zuvor geheiratet hatten. 1920 kam ein Bruder zur Welt, der bald darauf starb, 1921 wurde die Frida geboren, 1923 die Monika, schließlich der Sepp.
"Wir waren bettelarm."
"Wir hatten ungefähr 23 Morgen Land, sechs Kühe und zwei Gäule. Oder einen Gaul und einen Ochsen. Hühner und Sauen – meist zwei Sauen, eine zum Verkaufen und eine zum Schlachten."
Die Eltern ließen sie auf den Namen Viktoria taufen; doch alle nannten sie immer nur Dora. Als Älteste passte sie auf die Geschwister auf, hütete das Vieh (denn damals hatten die Weiden noch keine Zäune), sie klaubte Steine vom Acker (damit die Erwachsenen mähen konnten), setzte Kartoffeln, Rüben, suchte Reisig im Wald. Als sie zehn war oder zwölf, lehrte der Vater sie das Melken. Jeden Abend lud sie die Kannen auf einen Wagen, zog ihn ums Haus, folgte dem Weg am Ostufer des Hinterweihers entlang, vorbei am Wegkreuz mit dem Heiland, an dem verwitterten Wegweiser, durch den Wald vor zur Mühle, zur Dorfstraße und den Hügel hinauf zur Käserei.
"Unser Nachbar, der Mahler-Bauer, hat 16 Kinder gehabt, die haben auch alle müssen helfen. Ein anderer Nachbar hat 24 Kinder gehabt. Drei oder vier Kühe – und 24 Kinder. Manchmal sind welche zu uns gekommen zum Übernachten."
Die Mutter und der Vater waren immer da, wenn ein Nachbar Hilfe brauchte. Zu helfen, sagt Dora, das hab ich daheim fürs Leben gelernt.
Sie selbst ging sieben Jahre zur Schule, half dann daheim den Eltern. Bis eines Tages im Frühjahr 1936 ein Fuhrwerk durch die Viehweid eilt:
"Die Frau Stöckle auf dem Nachbarhof hat ein Kind gekriegt und in Ottmannshofen, hinter Leutkirch, da hat auch eine Bäuerin ein Kind gekriegt. Die Hebamme ist von dort in die Viehweid gekommen. Die hat man ja mit dem Fuhrwerk geholt, und meist hat mein Vater sie geholt, denn er hat ein Ross gehabt. Der Stöckle-Bauer hat kein Ross gehabt. Der hätte Kühen einspannen müssen, um die Hebamme zu holen, und das tut man ja nicht."
"Die Hebamme hat vermittelt: Sie hat gesagt, auf dem Hof in Ottmannshofen sucht der Bauer ein Mädle zum Helfen."
"Ich hab gesagt: Probieren kann man es. Probieren kann man alles! Hab ja auch das meiste hingekriegt."
Sie schaut herausfordernd. Nickt. Ihre Augen klar und blau wie der Himmel über den Hügeln an einem Sommertag.
Am 11. April 1936, dem Freitag vor Palmsonntag, dem sogenannten Schmerzhaften Freitag, läuft Dora mit der Mutter früh zur Messe. Danach packt sie etwas Wäsche und ihr Gebetbüchlein zusammen, schnallt den Koffer auf den Gepäckträger, und Mutter und Tochter machen sich auf den Weg. Eine radelt, die andere läuft zu Fuß. Zwei Kilometer hinüber nach Herlazhofen, vier Kilometer durch die flachen Wiesen bis nach Leutkirch, drei hohe Hügel hinauf nach Ottmannshofen. Noch nie war Dora allein so weit fort von daheim.
"Ich bin nicht traurig gewesen, mein Elternhaus zu verlassen. Eher neugierig."
"Probieren kannst du es, hab ich mir gesagt. Ein anderer Hof – andere Leute, andere Sitten."
Du musst nicht fort, sagt die Mutter noch. Doch die Tochter weiß: Bin ich fort, hockt daheim ein Esser weniger am Tisch.
Der fremde Bauer mustert das Mädchen. Will wissen, ob es als Magd etwas taugt. Stellt Fragen.
"Freilich: Wie alt dass ich bin, was ich kann?
Wie alt ich bin, hat er gefragt, und was ich kann?"
"Lernen kann man alles, hab ich gesagt."
Der Bauer ist skeptisch. Dora ist 16 und nur einen Meter vierzig groß; als Kind hat sie die Englische Krankheit gehabt, Rachitis, und ist nur langsam gewachsen.
"Ja, ja, ich bin klein, hab ich gesagt, aber oho. Schließlich hat er gesagt: Wir probieren es, wir werden ja sehen. Zehn Reichsmark im Monat tät ich kriegen. Kurz danach hab ich schon in den Stall müssen, Kühe melken."
Die Mutter steigt aufs Rad und fährt heim, allein.
73 Jahre ist das her. Heute ist Dora Prinz Rentnerin. Wohnt lange schon in Herlazhofen, in einem Haus mit roten Fensterläden, am Fuß der Kirche. Im Schuppen im Garten steht noch immer eine Sense; gemäht hat sie gern und mit über 70 Jahren noch an Sensen-Mähwettbewerben teilgenommen (und gewonnen). Hinterm Haus, den Hügel hinab, Weite, Wiesen. Hier und da duckt sich eine Scheune, an der Kreuzung nach Leutkirch leuchtet weiß eine Feldkapelle. In der Ferne die Berge.
Im Haus neben der Tür ein Wandteller: Ein guter Gast ist niemals Last. In der Stube Kanapee, Tisch, Pendeluhr, rote Vorhänge. Der Herrgottswinkel mit der Muttergottes, Blumen und einem Bild von Papst Benedikt. In der Küche stehen ein Kühlschrank, ein Gasherd, sie besitzt eine Waschmaschine – doch heizen tut Dora immer noch mit einem Ofen.
Mit steifen Fingern zerreißt sie Papier, stopft es in den dunklen Schlund, greift nach einem Reisigbündel, schiebt es hinterher.
Sie richtet sich auf. Draußen scheint die Sonne. Trotzdem, sagt sie, eine gute Stube muss immer warm sein.
Ein wenig vorgebeugt läuft sie zum Tisch, setzt sich ans Kopfende. Sitzt da, schaut aufmerksam, wartet auf die nächste Frage. Sie ist keine, die ihr Herz auf der Zunge trägt. Aber eine, die genau hinsieht und ihre Meinung hat. Und die gelernt hat, sich zu behaupten.
"Der Bauer in Ottmannshofen hat eine Obermagd gehabt.
Schläge hab ich keine gekriegt, aber böse ist sie gewesen. Unschöne Worte hat es gegeben. Und ich hab alle Arbeit machen müssen, für die sie sich zu schade gewesen ist – die Güllegrube leeren, Mist auf den Äckern ausbringen, strenge Arbeit."
Der Bauer merkt bald, dass Dora klein ist, aber arbeitet wie ein Knecht. Heu mäht und Getreide, eggt, sät, Ferkel holt und Kälber. Zu Nikolaus fragten die Bauern ihre Dienstboten, ob sie noch ein Jahr blieben; wenn ja, durften sie die Geschenke behalten, die sie zu Weihnachten und zum Namenstag bekommen hatten: Kleidung, Bettwäsche, Heiligenfiguren. Wenn nicht gingen sie zu Mariä Lichtmess, dann endete das Bauernjahr und alle Dienstboten bekamen eine Woche Urlaub.
"Ich hab gesagt: Ich bleib, wenn die Obermagd geht. Wenn sie bleibt, geh ich. Schließlich ist sie gegangen. Sie hat geheiratet."
Auf vier Höfen arbeitete Dora Prinz zwischen 1936 und 1958 als Magd. Ein Bauer traute ihr nichts zu, ein anderer war jähzornig, einer schlug und stritt den ganzen Tag. Knechte lagen faul im Gras und rauchten, und Dora machte ihre Arbeit mit. Sie beugt sich vor, fixiert ihr Gegenüber. Wenn man schafft, sagt sie, zeigt sich immer, ob man was taugt.
"Weißt, was man früher gesagt hat? Da, wo man zuerst heult oder es einem gar nicht gefällt, da bleibt man am längsten. Kommt Zeit, kommt Rat."
Anderntags in der Viehweid.
Der Hof der Eltern ist ein Wohnhaus, ein Anbau vermietet, der alte Stall ein Lager für Brennholz. Doch der Riedle-Hof am Ufer des Hinterweihers, der seit Jahren Moorbad heißt und eine Badeanstalt und einen Campingplatz hat, der wird noch betrieben.
Ein Kalb schleckt über Doras Hand, fast sieht es aus, als wolle es sie verschlingen. Dora lacht.
Tiere hat sie immer gemocht.
"Ich hab lieber einem Kälble in die Augen geschaut als manchem Bauern. Wenn ein Bauer jähzornig gewesen ist und geschimpft hat, bin ich oft in den Stall gegangen zu den Kälbern."
Der junge Riedle-Bauer läuft vorbei, ruft Grüß dich, Dora. Er ist der Enkel vom alten Riedle-Bauern, der in Kindertagen ihr Nachbar war. Damals haben die Bauern abends Weihwasser im Stall verspritzt – das brachte Glück. Hab ich als Magd auch getan, sagt sie. Hat auch funktioniert. Sie zwinkert.
Es ist Melkzeit. Klein und auf ihren Stock gestützt steht die ehemalige Magd am Stalltor und schaut zu. Wer geschickt war, sagt sie, der hat fünf oder sechs Kühe in einer Stunde geschafft. Und schaut auf ihre Hände.
"Heut hab ich keine Kraft mehr in den Fingern. Ich kann sie auch nicht mehr so bewegen. Ich kann die Zitzen nicht mehr gut greifen und drücken."
Ihr halbes Leben hat sie Kühe versorgt, hat sieben Tage die Woche morgens und abends gemolken, gefüttert, gemistet.
Wie viele Kühe ich in meinem Leben gemolken hab?
"Das fragst mich was …"
Hinterm Stall steht die Sonne über den Bäumen, das Wasser des Weihers schillert dunkel. Eine Landschaft, sanft und friedlich. Eine Gegend, die sich selbst genügt, die alles zu haben scheint, nichts braucht.
Und die in langen Wintern so rau wird, monatelang unter Schnee begraben liegt, starr vor Frost, karg und unzugänglich.
Daheim heizt Dora wieder ein. Bei ihrem ersten Bauern blieb sie zwei Jahre, wechselte dann auf einen Hof in Herlazhofen, blieb lange dort, wechselte noch einmal, und als nach dem Tod der Mutter die Schwester heiratete, um den elterlichen Hof zu übernehmen, ihr Bräutigam aber nur fort konnte von dem Bauern, bei dem er Knecht war, wenn er jemanden an seiner Stelle brachte, verdingte Dora sich ein weiteres Mal als Magd. Ja, sagt sie, ich hab viel gearbeitet. Bitterkeit? Nein.
"Das ist vorbei. Mir geht’s heut gut.
Die Arbeit merk ich doch heut nicht mehr! Außer meine Hände …
Sonst bin ich sehr zufrieden."
Manchmal, räumt sie ein, wenn ein Bauer gebrüllt und geschlagen hat, wär sie gern in einem Mauseloch verschwunden.
"Hast immer gehorchen müssen. Aber einmal, bei zweiten Bauern, der oft launisch gewesen ist, da hab ich doch gesagt: Wenn du so weiter machst, geh ich."
"Den ganzen Tag hat er im Rathaus gehockt, weil er auch Bürgermeister gewesen ist, und wenn er heimgekommen ist und nicht alle Arbeit erledigt war, hat er mit mir geschimpft. Nie mit den Knechten! Weil er Angst gehabt hat, die Mannsbilder laufen ihm davon."
"Dann bin ich heim!"
Ihre Augen blitzen. Und Stolz liegt in ihrem Gesicht.
"Keine Woche bin ich daheim gewesen, da ist er angekommen: Dora, du musst helfen. Und wenn’s bloß im Tagwerk ist. Im Tagwerk hab ich’s dann besser gehabt, dann hat er nicht mehr geschimpft – sonst wär ich am nächsten Tag gar nicht mehr gekommen. Da hab ich ein Druckmittel gehabt. Ja, da muss man schlau sein …"
Sie sitzt auf ihrem Stuhl und schaut unverwandt. Sagt nichts weiter. Nur der Ofen knistert und die Uhr tickt. Woher sie das Selbstbewusstsein hatte?
"Ich hab immer gewusst, ich kann jederzeit heim zu den Eltern.
Nur verdien ich dann kein Geld."
Eigenes Geld zu verdienen, das war ihr wichtig.
"Ich wollt auch was werden, und ich bin auch was geworden! Wenn ich auch nicht groß war."
Geheiratet hat sie nie. Doch, doch, Bewerber gab es, sagt sie. Und lächelt.
"Ich war ja auch heikel.
Es gab so viele Bauern, die hatten nur eine Frau und einen Ochsen zum Schaffen.
Da wär ich auch bloß Magd gewesen. Nein, da bin ich lieber allein gewesen."
1957 hatte Dora einen Unfall, fiel bei der Heuernte vom Wagen und brach sich einen Wirbel. Im Jahr darauf kündigte sie. Sie wollte nicht länger Magd sein.
"Es ist mir verleidet worden. Ich hab genug gehabt! Nicht einmal am Sonntag frei!"
Sie findet Arbeit in einer Baumschule. Hat fortan, mit fast 40 Jahren, am Wochenende frei, bekommt Urlaub, und wann immer es stürmt und schneit, verrichtet sie ihre Arbeit im Trockenen.
"Und kein Stall. Vor allem kein Stall mehr! Nur Bäumchen."
Ein Lächeln. Und dieser unverwandte, direkte Blick. Würde liegt darin. Und Schalk.
"Was ich tät, wenn ich noch einmal jung wär?
Dann tät ich mir einen Eisenbahnwagen kaufen oder einen Wohnwagen. In dem würd ich wohnen. Dann würd ich keine Miete zahlen, nur ein bisschen Platzgebühr, und viel Geld sparen. Ich würd alles kaufen, was man zum Leben braucht und Sonntags auf der faulen Haut liegen."
"Ab und zu wär’s schön, mal mit den Rössern zu fahren, Kühe zu hüten, Schweine zu misten. Das tät ich schon ab und zu gern. Und die restliche Zeit?"
"Schlafen!"
Vor kurzem ist Dora Prinz 90 Jahre geworden. Sie und ihre jüngste Schwester haben alle überlebt. Die Monika wohnt noch im Elternhaus in der Viehweid, und sonntags besucht Dora sie. Sie läuft den Weg hinaus zur Mühle, durch den Wald und am Ufer des Weihers entlang, vorbei am Wegweiser und am Wegkreuz mit dem Heiland, nicht mehr zu Fuß, sie lässt sich fahren. Doch wenn sie die sanft geschwungenen Hügel sieht, die Höfe, die sich in die Mulden schmiegen – dann klopft ihr Herz.
"Ein bissele klopft’s."
Hier ist sie geboren, hier gehört sie hin. Hier sind ihre Wurzeln, in diesem Boden.
"Das ist halt meine Heimat."