"Man muss doch irgendwann den Hals voll genug haben"
In der Diskussion um zu hohe Managergehälter hat die evangelische Landesbischöfin von Hannover, Margot Käßmann, mehr Bescheidenheit gefordert. Bei der Spanne zwischen Löhnen für normale Arbeit und Spitzengehältern von Managern seien "die Relationen verloren" gegangen, sagte die Theologin.
Deutschlandradio Kultur: Die Weihnachtsglocken läuten in den Einkaufszentren. Der Einzelhandel freut sich über den Umsatz auch an verkaufsoffenen Adventssonntagen. Frau Käßmann, gibt es denn noch so etwas wie eine besinnliche Vorweihnachtszeit?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Jedenfalls plädiere ich dafür, dass die Menschen noch zur Besinnung kommen. Wenn wir so weitermachen, dann wird das Ganze irgendwann zu einem "Winterwohlfühlfest" und keiner weiß mehr, was da überhaupt gefeiert wird. Die Engel weisen darauf hin, dass den Hirten verkündet wurde, dass ein Kind geboren ist. Das Licht soll darauf hinweisen, dass Christus das Licht der Welt ist. Viele haben das längst vergessen. Wir brauchen Besinnung. Deshalb bin ich auch gegen verkaufsoffene Adventssonntage.
Deutschlandradio Kultur: Wie steuern Sie dagegen?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Ich kann sagen, in Niedersachsen ist zumindest an Sonntagen geschlossen. Wir versuchen jetzt auch die Berliner Kirche dabei zu unterstützen, dass sie Verfassungsbeschwerde einlegt.
Deutschlandradio Kultur: Glauben Sie, dass Sie damit wieder mehr Menschen in die Kirchen bringen?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Das ist sicher nicht das erste Ziel bei der Aktion, Adventssonntage verkaufsfrei zu halten. Ich denke, wir müssen als Kirche einen Ort der Beheimatung für die Glaubensfragen bieten, dass Menschen den Eindruck haben, da muss ich hingehen, das tut meiner Seele gut, tut mir gut, das ist wichtig für mein Leben.
Deutschlandradio Kultur: Mit dem Glauben ist das so eine Sache. Einer Umfrage zufolge sagt fast jeder dritte Deutsche, er glaube an das Göttliche in sich. Schockiert Sie eigentlich so was?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Das schockiert mich nicht. Das ist ja ein typisches Phänomen unserer Gesellschaft, dass Individualität ganz stark zählt. In so einer Gesellschaft versucht auch jeder für sich zurecht zu basteln, was Glaube ist. Nur ist das Christentum eine Gemeinschaftsreligion. Da geht es um ein bestimmtes Buch, einen bestimmten Glauben und nicht um einen diffusen Gottesbegriff. Der christliche Gott ist sehr konkret. Das ist unser religiöses Angebot, das wir in diese Gesellschaft einbringen.
Deutschlandradio Kultur: Also, es ärgert Sie dann zumindest, wenn jeder sagt, ich glaube an das Göttliche in mir?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Ich finde das eher beunruhigend, weil das sehr gefährlich werden kann. Wenn bei mir alles zerbricht und ich mit meinem Leben nicht mehr zurecht komme, dann wird das Göttliche in mir sehr schnell zu einer Schimäre. An der kann ich mich jedenfalls nicht festhalten in schwierigen Zeiten.
Deutschlandradio Kultur: Ein anderes Ergebnis der genannten Studie dürfte Sie freuen. Es sind mehr Menschen religiös, als man gemeinhin annimmt. Aber immer mehr Bürger, die sich selbst als religiös bezeichnen, glauben ohne die Kirche auskommen zu können. Die Religiosität kommt also den Kirchen nicht zugute. Machen Sie die falschen Angebote?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Das denke ich nicht. Ich fände es ganz merkwürdig, wenn wir jetzt versuchen unsere Gottesdienste irgendwie fetzig zu machen in kleinstteiligen Angeboten, damit sie den Menschen entgegen kommen - also jeder Gottesdienst mit Videoclip oder alles ganz locker. Das finde ich eine Anbiederung, die auch keinen Sinn macht. Wir sollten schon mit unserem Angebot, so wie es ist, dastehen und die Menschen einladen, unsere Gottesdienste sind für alle offen, uns natürlich bemühen den Menschen nahe zu kommen. Luther hat gesagt, "dem Volk aufs Maul schauen". Das heißt, hören, was Sache ist, was die Menschen umtreibt. Aber es heißt nicht, den Menschen nach dem Mund reden.
Deutschlandradio Kultur: Aber alle machen Angebote. Es gibt unterschiedliche soziale Träger, kirchliche Träger. Was ist das Spezifische, wo Sie sagen, unser Angebot ist einmalig und es lohnt sich dafür zu engagieren? Was ist anders an der Evangelischen Kirche als bei all den anderen?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Zum ersten ist es beim christlichen Glauben anders als bei allen anderen Angeboten, dass wir überzeugt sind, Gott ist in die Welt gekommen. Und wir haben einen Glauben, der sagt, das Leben endet nicht mit dem Tod, sondern das ist ein Weg auf Gott hin, der keine Sackgasse ist, die mit dem Sterben an ihr Ende kommt. Also, das ist erst mal der christliche Glaube. Bei der Evangelischen Kirche finde ich das Großartige, was sie medial allerdings schwerer vermittelbar macht, dass alle mitgestalten können. Da gibt es nicht einen oder eine, die sagen, wie die Sache zu laufen hat, sondern wir sind eine Kirche der Vielfalt, in der Synoden, normale Gemeindeglieder vor Ort mitbestimmen, wie Kirche aussieht. Kirche ist nicht die Bischöfin oder der Bischof.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem sagt jeder Sechste, der in Deutschland zurzeit Mitglied einer Kirche ist, er sei nicht religiös. Schaffen Sie es nicht mehr Religiosität zu vermitteln?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Das denke ich schon. Wenn Sie sehen, dass zwei Drittel der Bundesbürger einer Kirche angehören, ist das keine Minderheit in unserem Land. Das sind natürlich weniger als früher. Wir müssen uns bemühen, dass Menschen überhaupt noch wissen, was sie glauben. Das denke ich. Glaubensvermittlung ist von zentraler Bedeutung. Früher wusste jeder, was das Christkind ist. Heute denken manche, dieser merkwürdige Mensch in einem roten Anzug mit weißem Bart hätte irgendwas mit Weihnachten zu tun. Das ist nur Coca-Cola-Werbung. Ich glaube, wir müssen den Menschen wieder beibringen, es geht ums Christkind und was das bedeutet, was im Lukas-Evangelium steht. Dass im Land der Reformation, in dem zum ersten Mal die Bibel in die deutsche Sprache übersetzt wurde, überhaupt in die Sprache der Menschen, so viele überhaupt nicht wissen, was in diesem Buch steht, das macht mich echt fassungslos.
Deutschlandradio Kultur: Wie erklären Sie sich, dass so viele sagen, ich bin zwar in der Kirche, aber ich bin nicht religiös? Liegt das daran, dass man einfach, auch wenn man nicht glaubt, eben in der Kirche ist, weil die Nachbarn sind drin, die Familie ist drin und man möchte da eben dazu gehören?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Sicher ist in vielen Bereichen – gerade in Westdeutschland – Mitglied der Kirche zu sein auch Teil des gesellschaftlichen Lebens. Ich wünsche mir aber natürlich, dass die Menschen, die bei uns Mitglied in der Kirche sind, auch wissen warum und was sie glauben. Aber die Menschen selbst müssen sich natürlich auch auf den Weg machen. Das ist nicht etwas, was von oben einseitig kommen kann. Ich glaube, dass gerade in einer Zeit, die so stark ökonomistisch bestimmt ist, wo der Mensch immer nur noch zum Konsumenten wird, die Sehnsucht nach einem tieferen Halt im Leben auch wieder größer wird.
Deutschlandradio Kultur: Wie geht es eigentlich den Pastoren, wenn die an Weihnachten volle Häuser haben und im Januar wieder feststellen, da kommen nur noch die treuesten Mitglieder, um noch mal am Gottesdienst teilzunehmen? Ist das nicht auch frustig irgendwie?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Ich sehe das nicht als Frust, sondern als ganz große Chance. Wissen Sie, wenn Weihnachten jemand aus der Kirche herausgeht und sagt, das war jetzt ungeheuer wichtig und der Mann oder die Frau hat recht, ich brauche diese Zeit, um mich nicht selbst zu verlieren in meinem Leben, dann ist das vielleicht auch eine Einladung, im Januar oder Februar wiederzukommen. Es gibt in einer unserer Gemeinden den schönen Gemeindebrief. In dem steht drin: "Als Sie geboren wurden, brachte Sie Ihre Mutter. Als Sie geheiratet haben, brachte Sie Ihre Ehefrau. Wenn Sie tot sind, werden Ihre Freunde Sie bringen. Warum kommen Sie zwischendurch nicht mal ganz alleine vorbei?"
Deutschlandradio Kultur: Glauben Sie nicht, dass viele gerade an Weihnachten kommen, wie sie im Januar ins Theater gehen – ein Stück Folklore?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Ich denke nicht, dass das Folklore ist. Wenn Sie einen Gottesdienst halten, da kommen die Menschen dann einzeln, um Brot und Wein zu nehmen. Und in unserem Land gibt es nicht nur die Glücklichen, die eben mal kulturell noch in die Kirche gehen. Da gibt es viele Mühselige und Beladene, viele Menschen mit viel Kummer auf ihrer Seele, die in der Kirche auch Halt und Orientierung suchen – auch am Heiligen Abend. Da kommen nicht nur glückliche Familien, bei denen alles so ist, wie es im Fernsehen aussieht, sondern viele Einsame, viele auch mit Konflikten, viele auch mit Angst, dass es Streit gibt an diesem Abend, der so besonders sein soll. Ich denke, viele kommen schon und suchen Lebenszuspruch.
Deutschlandradio Kultur: Und dann passiert aber doch langfristig der Effekt, dass die Zahl der Mitglieder in der Evangelischen Kirche schwindet. Es werden immer weniger. Die Steuereinnahmen werden auch weniger, vielleicht abgebremst in den letzten Jahren, aber die Tendenz ist noch nicht umgekehrt. Was tun Sie, um diesem schwindenden Prozess etwas entgegen zu halten?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Zuerst einmal muss ich sagen, ich gehöre nicht zu denen, die jammern und sagen, alles ist ganz furchtbar, sondern ich sehe eher auf das, was wir haben, wie viele wir in unserer Kirche sind und wie groß die Aufgaben sind. Aber Sie haben natürlich recht, wir haben zurückgehende Kirchensteuereinnahmen und auch Mitgliederzahlen, jetzt nicht mehr so sehr durch Austritte, sondern durch die demographische Entwicklung. Es werden weniger Kinder geboren und weniger Kinder in christlichen Familien erzogen. Bei uns ist es so, dass wir gesagt haben, wir müssen unseren Haushalt sanieren. Aber das darf nicht heißen, dass wir keine Akzente setzen. Wir haben in der Hannoverschen Landeskirche beispielsweise Gebäude verkauft, viele Gebäude, Tagungsgebäude, weil wir gesagt haben, wir wollen in Menschen investieren, die Pfarrer vor Ort stärken. Ich denke, dass das die stärkste Seite der Kirche ist, wenn ein Pastor, eine Pastorin vor Ort eine lebendige Gemeinde prägt. Da haben wir einen Akzent gesetzt. Und die Evangelische Kirche in Deutschland befindet sich in einem Reformprozess, bei dem sie sagt, wir müssen Leuchtfeuer - der Begriff ist sehr umstritten - setzen. Ich finde das schon richtig, an ein paar Punkten zu zeigen, wie Kirche - at it’s best sozusagen - sein kann, auch durch Kompetenzzentren, ich nehme mal bei uns das in Hildesheim für Gottesdienst und Kirchenmusik, also evangelisch zeigen, welche Kompetenzen wir einbringen können.
Mir liegt natürlich auch sehr dran, dass wir die evangelischen Kindertagesstätten stärken. Da muss das Signet ganz klar ein: Hier werden Kinder erzogen, nicht nur betreut, auch gebildet im besten evangelischen Sinne.
Deutschlandradio Kultur: Jahrzehntelang hat die Evangelische Kirche versucht, ich sage mal salopp, "locker" zu sein. Sie selber beklagen, dass zu viel über Sekten und Drogen geredet wurde und zu wenig über die Bibel. Fehlt der Evangelischen Kirche ein klares Profil, wie es z.B. die Katholische hat?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Unser Profil ist schon klar. Das Profil heißt: Kirche der Freiheit. Luther hat gesagt, "die Freiheit eines Christenmenschen bedeutet, niemandem untertan und gleichzeitig jedermann untertan". Das heißt, das ist eine Freiheit in Bindung. Ich muss mich nicht vom Zeitgeist bestimmen lassen, nicht von außen definieren lassen, was Erfolg ist beispielsweise oder was Leistung bedeutet. Gleichzeitig bin ich aber bereit, Verantwortung in dieser Gesellschaft zu übernehmen, Verantwortung für andere. Ich lebe nicht nur in Egomanie für mich, Hauptsache ich kann raffen, wie das in dieser Gesellschaft ja ständig irgendwie vorgegeben wird, sondern ich versuche solidarisch in einer Gemeinschaft zu leben, in die ich mich auch einbringe.
Deutschlandradio Kultur: Aber es geht auch um Bibelarbeit. Sie wollen das auch, wenn wir Sie richtig verstanden haben, in Zukunft wieder verstärkt machen. Also wurde in der Vergangenheit zu viel über die Welt und zu wenig über Gott geredet?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Da, denke ich, hat die Evangelische Kirche – sagen wir 70er, 80er Jahre – sicher zu sehr über die Konsequenzen des christlichen Glaubens gesprochen und zu wenig über das Fundament. Wir haben also eine Generation herangezogen, die viele ethische Impulse bekommen hat, aber nicht mal mehr weiß, wie die Josephsgeschichte überhaupt zustande gekommen ist. Ich habe eine Führung in einer Kirche erlebt. Da guckt sich ein kleiner Junge den Jesus am Kreuz an und sagt, oh boa, was ist dem da passiert? Das heißt, der hat noch nie irgendetwas davon gehört. Das geht bis dahin, dass mich jemand gefragt hat, was die Pluszeichen auf unseren Kirchtürmen bedeuten. Das heißt, es gibt tatsächlich einen Mangel an Bildung. Das tut mir natürlich besonders weh, weil Luther die Bibel ja nicht nur übersetzt, sondern dann auch Schulen gegründet hat, damit die Menschen selbst nachlesen können, sich selbst bilden können und selbst eine Meinung, ihr eigenes Gewissen schärfen.
Deutschlandradio Kultur: Gibt es vielleicht auch so etwas wie einen Mangel an Respektspersonen, zu denen man einen gewissen Abstand hat? Ich denke an die katholischen Priester, die ja nicht heiraten dürfen. Bei den Protestanten ist das anders. Sie durften sogar trotz Ihrer Scheidung im Amt bleiben. Die Frage ist: Wenn für evangelische Würdenträger die gleichen Rechte oder die gleichen Maßstäbe gelten wie für normale Gläubige – in Anführungszeichen, wird die Kirche da nicht vielleicht auch zu alltäglich?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Das ist nun typisch evangelisch, wenn Sie mich nach evangelischem Profil fragen. Wir haben keinen Papst als Kirchenoberhaupt. Bei uns ist es so, dass wir mit Luther sagen: Es gibt ein Priestertum aller Getauften. Da gibt es keinen besonderen Weihestatus. Auch ein Bischof oder eine Bischöfin sind nicht über den anderen, sondern haben einen besonderen Auftrag. Ich finde, dass das dem Neuen Testament und dem biblischen Auftrag viel eher entspricht als eine hierarchiegebundene Kirche. Wenn Sie aber bei uns sehen, kommen Sie mal in ein niedersächsisches Dorf, was der Pastor da für eine Rolle spielt, also, eine Respektsperson ist das trotzdem.
Deutschlandradio Kultur: Ich will noch mal zurückkommen auf dieses Profil in Zeiten knapper Kassen. Sie haben gesagt: mehr Bibelarbeit, mehr in die Menschen investieren, auch in die Kindergärten. Aber das Profil dieser Evangelischen Kirche in den nächsten 10, 15, 20 Jahren unter diesen Voraussetzungen, wird es denn politischer sein, wird es frommer sein, wird es konservativer sein, wird es linker sein oder gelten diese ganzen Begriffe überhaupt nicht in der Vorstellung, wie Sie die Kirche weitertreiben oder weiter entwickeln wollen?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Ich möchte die Kirche natürlich weiterentwickeln, weil ich glaube, sie muss Kirche im 21. Jahrhundert sein, aber nah bei den Menschen. Ich finde, eine Kirche, die sich entscheidet, konservativ oder links – wie Sie das jetzt sagen – zu sein oder fromm oder politsch...
Deutschlandradio Kultur: Nein, die Schwerpunkte.
Landesbischöfin Margot Käßmann: .., das wäre eine sehr langweilige Kirche, weil sie konform wäre, weil ich sagen würde: In unserer Kirche sind alle so. Was ich wieder richtig normal, gut evangelisch finde, ist, dass wir sowohl Evangelikale in unserer Kirche haben, die ganz stark bibelfest, bibeltreu orientiert sind, und andere, die ihr Evangelischsein ganz stark daher leben, dass sie sich in der ökologischen Bewegung "Klimaallianz" beispielsweise engagieren. Gerade diese Spannung macht die Evangelische Kirche, finde ich, auch spannend.
Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie also fordern, dass die Menschen sich wieder mehr mit der Bibel auseinandersetzen, heißt das nicht gleichzeitig, dass sich die Evangelische Kirche von weltlichen Themen distanzieren oder sich dazu nicht mehr äußern soll?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Wer das behauptet, hat ja die Bibel nicht gelesen. Als in Hannover der Bundesparteitag der CDU getagt hat, habe ich im Gottesdienst in meiner Predigt schon gesagt: Die Evangelische Kirche auf das Eigentliche reduzieren wollen, kann nicht, wer die Bibel liest, weil da steht etwas davon, dass ich den Fremdling, der unter mir wohnt, schützen soll. Das kann ich nicht predigen, ohne auf die Asylsuchenden und die Flüchtlinge hier zu schauen beispielsweise. Die Bibel nimmt zum Maßstab für Gerechtigkeit im Land, wie es den Schwächsten geht. Ich kann gar nicht predigen über solche Stellen aus der Bibel, wenn ich mich nicht dafür interessiere, wie es Obdachlosen, Alleinerziehenden, Hartz-IV-Empfängern im Land geht. Also, ich finde, Glaube und Weltverantwortung sind nicht auseinander zu dividieren. Gerade, wer die Bibel kennt, weiß, wo er sich zu engagieren hat.
Deutschlandradio Kultur: Es geht aber immer auch um die Verkündung des Evangeliums als Kern, oder nicht?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Natürlich geht’s um die Verkündung des Evangeliums. Nehmen wir mal das Thema Sterben, Sterbehilfe, das hat ja dieses Jahr eine große Rolle gespielt. Wenn ich sage, jeder Mensch ist Gottes Ebenbild, ganz gleich, wie er beschaffen ist, ein schwerstbehindertes Mädchen ist nicht weniger wert als Mensch als ein schönes Model auf dem Laufsteg, dann werde ich diese Würde des Menschen bis zuletzt, bis zum Tod bewahren. Und weil ich glaube, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, werde ich auch eine Kultur des Sterbens und eine Kultur auch der Bestattung aufrecht erhalten in diesem Land. Das halte ich für die Kirchen für eine ganz große Aufgabe. Was da im Moment passiert, zu sagen: Kann man nicht ein bisschen früher gehen? Die letzten zwei Jahre belasten die Menschen die Krankenkassen am stärksten. Aktive Sterbehilfe ist doch gut. Ich rufe an, wenn ich nicht mehr will, und dann bekomme ich das Gift und kann gehen. Ich glaube, da wird wirklich eine Gesellschaft zerstört.
Deutschlandradio Kultur: Kommen wir noch mal auf den Fremden, den Sie eben angesprochen haben. Der Vatikan hat gerade noch einmal das Recht und die Pflicht der Katholischen Kirche nicht nur zur Evangelisierung, sondern auch zur Missionsarbeit bekräftigt. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Bischof Wolfgang Huber sagt dazu, Mission und Evangelisierung seien der "Herzschlag der Kirche." Ist das auch ein Signal der Abgrenzung in Richtung muslimische Bevölkerung?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Die meisten Menschen denken bei Mission an eine Holzhammermethode oder an wirkliche Fehlleistungen der Kirche bei der Besetzung Lateinamerikas. Da waren Missionare mit dabei und da gab es dann Zwangstaufen u.a.m. Das verstehe ich heute nicht unter Mission. Mission heißt für mich, dass ich durchaus von meinem Glauben rede, dass ich mich nicht dafür schäme Christin zu sein, sondern davon spreche, was das für mich bedeutet. Ich denke, das hat für viele jahrelang eher so einen Charakter gehabt, na ja, ich gehöre noch der Kirche an, und ja, so irgendwie bedeutet mir das auch was. Missionarisch sein heute würde für mich heißen, ich sage wirklich bewusst, ich bin Christin und da hat mein Leben Halt und Orientierung. Da ändert sich was. Das ist aber keine Missachtung anderer Religionen. Ich denke, in diesem Land muss sehr klar sein, wir sind längst eine multireligiöse Gesellschaft. Und Muslime haben das Recht, ihre Religion in Freiheit in diesem Land zu leben. Religionsfreiheit ist für mich ein hohes Gut.
Deutschlandradio Kultur: Nehmen wir die Kindergärten, von denen Sie gesprochen haben, wo der christliche Glauben auch transportiert werden soll. In Großstädten gibt es viele Kinder, Familien mit muslimischem Hintergrund, die jetzt beispielsweise ihre Kinder da anmelden wollen. Was machen Sie mit denen? Toleranz? Werden Sie versuchen, denen christlichen Glauben beizubringen? Oder akzeptieren Sie sie in ihrem anderen Glauben? Oder versuchen Sie die Schnittmenge zu finden? Wie geht das?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Meine Landeskirche hat allein 586 Kindertagesstätten in Trägerschaft, in denen viele muslimische Kinder sind. Muslimische Eltern melden oft ihre Kinder gerade in einer kirchlichen Kindertagesstätte an, weil sie sagen, lieber eine religiöse Erziehung als eine völlig a-religiöse. Und in den Gesprächen wird dann deutlich gemacht: Wir beten zu Jesus Christus hier in dieser Kindertagesstätte, aber natürlich werden wir auch wahrnehmen, was ein muslimisches Kind mitbringt, was Ramadan für es bedeutet. Das wird aufgenommen in diesen Kindertagesstätten. Es ist ein christlicher, das wissen muslimische Eltern, wenn sie da ihre Kinder anmelden. Es gibt ja auch kommunale beispielsweise oder andere Anbieter von Kindertagesstätten aus dem säkularen Bereich, aber wir werden respektieren, dass da Kinder kommen, die aus einer anderen Glaubenstradition stammen. Das wird in Kindertagesstätten längst praktiziert. Das sind vielleicht die besten Orte der Integration und des Dialogs der Religionen, die wir überhaupt haben.
Deutschlandradio Kultur: Und wie sieht der Dialog mit den Erwachsenen aus, z. B. mit muslimischen Würdenträgern in Deutschland?
Landesbischöfin Margot Käßmann: In Niedersachsen ist es so, dass ich alle zwei Jahre einen großen Gesprächskreis habe mit den Vertretern der muslimischen Verbände. Natürlich müssen wir gleichzeitig sehen, dass nur 15 Prozent der Muslime in Deutschland überhaupt organisiert sind. Da ist immer die Frage, wer sind eigentlich unsere Gesprächspartner?
Ich denke, das muss noch früher ansetzen. Wir haben als Hannoversche Landeskirche ein Theaterstück inszeniert in diesem Jahr, das an Schulen für neunte und zehnte Klassen aufgeführt wird – "Die göttliche Odette", Romeo und Julia, gespielt von einem Moslem und einer Christin. Und anhand dieses Theaterstücks werden die ganzen Vorurteile gegeneinander ungeheuer sichtbar. Und anschließend gibt es dann ein Gespräch. Ich war bei zweien solcher Gespräche dabei. An 90 Schulen ist das schon aufgeführt worden. Da merkt man, es ist unheimlich wichtig, dass gerade die Jugendlichen auch ihre Vorurteile aussprechen und miteinander ins Gespräch um den Glauben kommen, was das bedeutet. Ich denke, wir müssen viel früher mit dem Dialog ansetzen, weil wir merken, das weiß ich auch, wie schwierig es dann später unter Erwachsenen ist, die sich bisher überhaupt nicht begegnet sind und völlig fremd aufeinandertreffen.
Deutschlandradio Kultur: Dennoch müssen die Unterschiede auch klar herausgestellt werden. Findet das statt auch auf Augenhöhe mit den Vertretern der muslimischen Gemeinden, die hier in Deutschland sind?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Das Bemühen ist da, aber wir haben alle gesehen, wie schwierig es auch ist, sensibel da miteinander umzugehen. Ich denke, man muss sich auch gegenseitig immer wieder deutlich machen, wo Grenzen des Verstehens sind und wo wir auch den nötigen Respekt aufbringen müssen, zu sagen, wir sind uns fremd und können darüber nicht einfach hinweg reden. Wichtig ist mir allerdings, diesen Respekt vor der anderen Religion wahrzunehmen und gleichzeitig zu sagen, wir befinden uns in der Bundesrepublik Deutschland und das Allererste ist, dass wir alle auf dem Boden dieser Verfassung stehen. Mann und Frau sind gleichberechtigt, beispielsweise. Das ist keine Frage der Religionsfreiheit, sondern das ist eine Verfassungsfrage.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gesagt, der Dialog ist schwierig. Der wird aber auch nicht leichter, wenn Sie sich wie am Reformationstag hinstellen und dem Islam eine Reformation empfehlen. Das ist ja ziemlich frech, um es mal freundlich zu sagen.
Landesbischöfin Margot Käßmann: Wenn Sie das Zitat genau nachlesen, was ich gesagt habe, dann habe ich ganz deutlich gesagt, dass eine Reformation für unsere Kirche ungeheuer wichtig war, weil alles noch mal auf den Prüfstand gestellt wurde, und dass ich denke, dass das für jede Religion wichtig ist, noch mal nachzufragen, was von der Tradition eigentlich das ist, was uns zum Ursprung zurückführt, und was in der Tradition hat uns vom Ursprung weggeführt. Das wäre auch für den Islam wichtig. Ich glaube in der Tat, dass im Islam die Frage ist: Ist er demokratiekompatibel? Ich bin keine Islamexpertin, aber die Diskussion muss doch sein: Gibt es einen europäischen Islam, der voll Ja sagen kann zu demokratischen Freiheitsrechten und gleichzeitig den muslimischen Glauben lebt? Das war für die Kirche und das Christentum auch lange sehr umstritten. Und die Kirche war nicht immer die, die als erste für die Freiheitsrechte, auch nicht für die Frauenrechte eingetreten ist – ganz bestimmt nicht.
Deutschlandradio Kultur: Frau Käßmann, Sie sind bekannt dafür, dass Sie sich einmischen, auch in gesellschaftliche Fragen. Stichwort Managergehälter: Viele empfinden sie zu hoch, zu ungerecht. Sie fordern eine Begrenzung. Wie sehen Sie das?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Also, ich stelle mich jetzt nicht hier hin und sage, was ein Manager verdienen darf. Für mich ist das eine Frage der Verantwortung. Übernehme ich Verantwortung für ein Unternehmen oder werden Menschen sogar noch dafür mit vielen Tausenden belohnt, dass ein Unternehmen in die Krise gerät und Arbeitsplätze abgeschafft werden? Das halte ich für absolut verantwortungslos. Ich denke auch, es gibt so eine Ethik des "genug", man muss doch irgendwann den Hals voll genug haben, eine Ethik der Grenze auch dessen, was noch vertretbar ist.
Also, dass jemand sagt, ich arbeite so viel und deshalb ist es gerechtfertigt, dass ich – ich weiß nicht wie viel – Hunderttausend im Monat verdiene, während ein anderer am Fließband ja auch viel arbeitet, also, da sind die Relationen – denke ich – verloren gegangen.
Deutschlandradio Kultur: Wie sieht es auf der anderen Seite aus? Es gibt eine Menge Leute in Deutschland, die wären froh, wenn sie von ihrer Arbeit und dem, was sie dafür bekommen, auch leben könnten. Wären Sie für flächendeckende Mindestlöhne?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Ich bin in der Tat für Mindestlöhne, weil ich es für Menschen demütigend finde, wenn sie voll arbeiten und dann noch auf Sozialleistungen angewiesen sind. Ich habe gerade Jobcenter in Niedersachsen besucht. Da sind es bis zu 20 Prozent der Menschen, die von Alg II Unterstützung mit leben, die selbst voll in Arbeit stehen. Das halte ich für würdelos, wenn jemand einen vollen Arbeitsplatz ausfüllt und davon nicht leben kann. Deshalb denke ich, Mindestlöhne sind tatsächlich sinnvoll. Und es hat sich ja auch gezeigt, beispielsweise in England, dass das nicht heißt, dass Arbeitsplätze abgebaut werden, auch wenn das jetzt bei der Post auf den ersten Blick so aussieht. Aber es geht wiederum um die Würde der Menschen, die von ihrer Arbeit leben können müssen.
Deutschlandradio Kultur: Wie sehr achten Sie eigentlich darauf, dass innerhalb der Evangelischen Kirche in den Einrichtungen, die Sie betreuen, ordentliche Löhne bezahlt werden, Weihnachtsgeld etc.?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Das ist für uns auch ein großer Kampf innerhalb der Kirche. Wir haben ja auch sehr viele Angestellte in unserem Bereich. Und wir haben eine arbeits- und dienstrechtliche Kommission, in der genauso gerungen wird wie in anderen Unternehmen auch. Mir liegt aber daran, dass wir Löhne und Gehälter zahlen, die der Würde der Menschen entsprechen. Aber ich sehe natürlich, dass auch in unserer Kirche Arbeitsplätze abgebaut werden. Ich will da gar nicht überheblich sein. Je weniger Kirchensteuereinnahmen da sind, desto weniger Arbeitsplätze werden wir erhalten können. Wir bemühen uns darum, dass es keine betriebsbedingten Kündigungen gibt. Trotzdem ist es an der einen oder anderen Stelle nicht zu vermeiden. Wir haben uns da sehr engagiert als Landeskirche, dass das nach Möglichkeit nicht geschieht, aber auch bei uns wird beispielsweise um Weihnachtsgeld gekämpft. Die Pastorinnen und Pastoren erhalten schon das dritte Jahr in meiner Landeskirche kein Weihnachtsgeld.
Deutschlandradio Kultur: Bis Weihnachten ist die Zeit hektisch. Wir hatten das schon angesprochen. Und dann soll aber Ruhe und Besinnlichkeit einkehren. Wann, Frau Käßmann, ist für Sie das Gefühl da: ja, jetzt ist Weihnachten?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Das kann ich Ihnen ganz genau sagen: am 24. Dezember 19.30 Uhr. Da habe ich nämlich den letzten Gottesdienst für den Heiligen Abend gehalten. Und da ich am ersten Feiertag in diesem Jahr keinen Gottesdienst habe, wird das für mich der Punkt sein, wo es wirklich ruhig wird, wo auch kein Manuskript mehr abzugeben ist, kein Interview zu geben, keine Weihnachtskarte zu schreiben, sondern ich dann mit meinen Kindern in Ruhe Weihnachten feiern kann.
Deutschlandradio Kultur: Frau Käßmann, ganz herzlichen Dank für das Gespräch und Ihnen und Ihrer Familie Frohe Weihnachten.
Landesbischöfin Margot Käßmann: Ich danke Ihnen allen auch. Gesegnete Weihnachten.
Landesbischöfin Margot Käßmann: Jedenfalls plädiere ich dafür, dass die Menschen noch zur Besinnung kommen. Wenn wir so weitermachen, dann wird das Ganze irgendwann zu einem "Winterwohlfühlfest" und keiner weiß mehr, was da überhaupt gefeiert wird. Die Engel weisen darauf hin, dass den Hirten verkündet wurde, dass ein Kind geboren ist. Das Licht soll darauf hinweisen, dass Christus das Licht der Welt ist. Viele haben das längst vergessen. Wir brauchen Besinnung. Deshalb bin ich auch gegen verkaufsoffene Adventssonntage.
Deutschlandradio Kultur: Wie steuern Sie dagegen?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Ich kann sagen, in Niedersachsen ist zumindest an Sonntagen geschlossen. Wir versuchen jetzt auch die Berliner Kirche dabei zu unterstützen, dass sie Verfassungsbeschwerde einlegt.
Deutschlandradio Kultur: Glauben Sie, dass Sie damit wieder mehr Menschen in die Kirchen bringen?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Das ist sicher nicht das erste Ziel bei der Aktion, Adventssonntage verkaufsfrei zu halten. Ich denke, wir müssen als Kirche einen Ort der Beheimatung für die Glaubensfragen bieten, dass Menschen den Eindruck haben, da muss ich hingehen, das tut meiner Seele gut, tut mir gut, das ist wichtig für mein Leben.
Deutschlandradio Kultur: Mit dem Glauben ist das so eine Sache. Einer Umfrage zufolge sagt fast jeder dritte Deutsche, er glaube an das Göttliche in sich. Schockiert Sie eigentlich so was?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Das schockiert mich nicht. Das ist ja ein typisches Phänomen unserer Gesellschaft, dass Individualität ganz stark zählt. In so einer Gesellschaft versucht auch jeder für sich zurecht zu basteln, was Glaube ist. Nur ist das Christentum eine Gemeinschaftsreligion. Da geht es um ein bestimmtes Buch, einen bestimmten Glauben und nicht um einen diffusen Gottesbegriff. Der christliche Gott ist sehr konkret. Das ist unser religiöses Angebot, das wir in diese Gesellschaft einbringen.
Deutschlandradio Kultur: Also, es ärgert Sie dann zumindest, wenn jeder sagt, ich glaube an das Göttliche in mir?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Ich finde das eher beunruhigend, weil das sehr gefährlich werden kann. Wenn bei mir alles zerbricht und ich mit meinem Leben nicht mehr zurecht komme, dann wird das Göttliche in mir sehr schnell zu einer Schimäre. An der kann ich mich jedenfalls nicht festhalten in schwierigen Zeiten.
Deutschlandradio Kultur: Ein anderes Ergebnis der genannten Studie dürfte Sie freuen. Es sind mehr Menschen religiös, als man gemeinhin annimmt. Aber immer mehr Bürger, die sich selbst als religiös bezeichnen, glauben ohne die Kirche auskommen zu können. Die Religiosität kommt also den Kirchen nicht zugute. Machen Sie die falschen Angebote?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Das denke ich nicht. Ich fände es ganz merkwürdig, wenn wir jetzt versuchen unsere Gottesdienste irgendwie fetzig zu machen in kleinstteiligen Angeboten, damit sie den Menschen entgegen kommen - also jeder Gottesdienst mit Videoclip oder alles ganz locker. Das finde ich eine Anbiederung, die auch keinen Sinn macht. Wir sollten schon mit unserem Angebot, so wie es ist, dastehen und die Menschen einladen, unsere Gottesdienste sind für alle offen, uns natürlich bemühen den Menschen nahe zu kommen. Luther hat gesagt, "dem Volk aufs Maul schauen". Das heißt, hören, was Sache ist, was die Menschen umtreibt. Aber es heißt nicht, den Menschen nach dem Mund reden.
Deutschlandradio Kultur: Aber alle machen Angebote. Es gibt unterschiedliche soziale Träger, kirchliche Träger. Was ist das Spezifische, wo Sie sagen, unser Angebot ist einmalig und es lohnt sich dafür zu engagieren? Was ist anders an der Evangelischen Kirche als bei all den anderen?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Zum ersten ist es beim christlichen Glauben anders als bei allen anderen Angeboten, dass wir überzeugt sind, Gott ist in die Welt gekommen. Und wir haben einen Glauben, der sagt, das Leben endet nicht mit dem Tod, sondern das ist ein Weg auf Gott hin, der keine Sackgasse ist, die mit dem Sterben an ihr Ende kommt. Also, das ist erst mal der christliche Glaube. Bei der Evangelischen Kirche finde ich das Großartige, was sie medial allerdings schwerer vermittelbar macht, dass alle mitgestalten können. Da gibt es nicht einen oder eine, die sagen, wie die Sache zu laufen hat, sondern wir sind eine Kirche der Vielfalt, in der Synoden, normale Gemeindeglieder vor Ort mitbestimmen, wie Kirche aussieht. Kirche ist nicht die Bischöfin oder der Bischof.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem sagt jeder Sechste, der in Deutschland zurzeit Mitglied einer Kirche ist, er sei nicht religiös. Schaffen Sie es nicht mehr Religiosität zu vermitteln?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Das denke ich schon. Wenn Sie sehen, dass zwei Drittel der Bundesbürger einer Kirche angehören, ist das keine Minderheit in unserem Land. Das sind natürlich weniger als früher. Wir müssen uns bemühen, dass Menschen überhaupt noch wissen, was sie glauben. Das denke ich. Glaubensvermittlung ist von zentraler Bedeutung. Früher wusste jeder, was das Christkind ist. Heute denken manche, dieser merkwürdige Mensch in einem roten Anzug mit weißem Bart hätte irgendwas mit Weihnachten zu tun. Das ist nur Coca-Cola-Werbung. Ich glaube, wir müssen den Menschen wieder beibringen, es geht ums Christkind und was das bedeutet, was im Lukas-Evangelium steht. Dass im Land der Reformation, in dem zum ersten Mal die Bibel in die deutsche Sprache übersetzt wurde, überhaupt in die Sprache der Menschen, so viele überhaupt nicht wissen, was in diesem Buch steht, das macht mich echt fassungslos.
Deutschlandradio Kultur: Wie erklären Sie sich, dass so viele sagen, ich bin zwar in der Kirche, aber ich bin nicht religiös? Liegt das daran, dass man einfach, auch wenn man nicht glaubt, eben in der Kirche ist, weil die Nachbarn sind drin, die Familie ist drin und man möchte da eben dazu gehören?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Sicher ist in vielen Bereichen – gerade in Westdeutschland – Mitglied der Kirche zu sein auch Teil des gesellschaftlichen Lebens. Ich wünsche mir aber natürlich, dass die Menschen, die bei uns Mitglied in der Kirche sind, auch wissen warum und was sie glauben. Aber die Menschen selbst müssen sich natürlich auch auf den Weg machen. Das ist nicht etwas, was von oben einseitig kommen kann. Ich glaube, dass gerade in einer Zeit, die so stark ökonomistisch bestimmt ist, wo der Mensch immer nur noch zum Konsumenten wird, die Sehnsucht nach einem tieferen Halt im Leben auch wieder größer wird.
Deutschlandradio Kultur: Wie geht es eigentlich den Pastoren, wenn die an Weihnachten volle Häuser haben und im Januar wieder feststellen, da kommen nur noch die treuesten Mitglieder, um noch mal am Gottesdienst teilzunehmen? Ist das nicht auch frustig irgendwie?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Ich sehe das nicht als Frust, sondern als ganz große Chance. Wissen Sie, wenn Weihnachten jemand aus der Kirche herausgeht und sagt, das war jetzt ungeheuer wichtig und der Mann oder die Frau hat recht, ich brauche diese Zeit, um mich nicht selbst zu verlieren in meinem Leben, dann ist das vielleicht auch eine Einladung, im Januar oder Februar wiederzukommen. Es gibt in einer unserer Gemeinden den schönen Gemeindebrief. In dem steht drin: "Als Sie geboren wurden, brachte Sie Ihre Mutter. Als Sie geheiratet haben, brachte Sie Ihre Ehefrau. Wenn Sie tot sind, werden Ihre Freunde Sie bringen. Warum kommen Sie zwischendurch nicht mal ganz alleine vorbei?"
Deutschlandradio Kultur: Glauben Sie nicht, dass viele gerade an Weihnachten kommen, wie sie im Januar ins Theater gehen – ein Stück Folklore?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Ich denke nicht, dass das Folklore ist. Wenn Sie einen Gottesdienst halten, da kommen die Menschen dann einzeln, um Brot und Wein zu nehmen. Und in unserem Land gibt es nicht nur die Glücklichen, die eben mal kulturell noch in die Kirche gehen. Da gibt es viele Mühselige und Beladene, viele Menschen mit viel Kummer auf ihrer Seele, die in der Kirche auch Halt und Orientierung suchen – auch am Heiligen Abend. Da kommen nicht nur glückliche Familien, bei denen alles so ist, wie es im Fernsehen aussieht, sondern viele Einsame, viele auch mit Konflikten, viele auch mit Angst, dass es Streit gibt an diesem Abend, der so besonders sein soll. Ich denke, viele kommen schon und suchen Lebenszuspruch.
Deutschlandradio Kultur: Und dann passiert aber doch langfristig der Effekt, dass die Zahl der Mitglieder in der Evangelischen Kirche schwindet. Es werden immer weniger. Die Steuereinnahmen werden auch weniger, vielleicht abgebremst in den letzten Jahren, aber die Tendenz ist noch nicht umgekehrt. Was tun Sie, um diesem schwindenden Prozess etwas entgegen zu halten?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Zuerst einmal muss ich sagen, ich gehöre nicht zu denen, die jammern und sagen, alles ist ganz furchtbar, sondern ich sehe eher auf das, was wir haben, wie viele wir in unserer Kirche sind und wie groß die Aufgaben sind. Aber Sie haben natürlich recht, wir haben zurückgehende Kirchensteuereinnahmen und auch Mitgliederzahlen, jetzt nicht mehr so sehr durch Austritte, sondern durch die demographische Entwicklung. Es werden weniger Kinder geboren und weniger Kinder in christlichen Familien erzogen. Bei uns ist es so, dass wir gesagt haben, wir müssen unseren Haushalt sanieren. Aber das darf nicht heißen, dass wir keine Akzente setzen. Wir haben in der Hannoverschen Landeskirche beispielsweise Gebäude verkauft, viele Gebäude, Tagungsgebäude, weil wir gesagt haben, wir wollen in Menschen investieren, die Pfarrer vor Ort stärken. Ich denke, dass das die stärkste Seite der Kirche ist, wenn ein Pastor, eine Pastorin vor Ort eine lebendige Gemeinde prägt. Da haben wir einen Akzent gesetzt. Und die Evangelische Kirche in Deutschland befindet sich in einem Reformprozess, bei dem sie sagt, wir müssen Leuchtfeuer - der Begriff ist sehr umstritten - setzen. Ich finde das schon richtig, an ein paar Punkten zu zeigen, wie Kirche - at it’s best sozusagen - sein kann, auch durch Kompetenzzentren, ich nehme mal bei uns das in Hildesheim für Gottesdienst und Kirchenmusik, also evangelisch zeigen, welche Kompetenzen wir einbringen können.
Mir liegt natürlich auch sehr dran, dass wir die evangelischen Kindertagesstätten stärken. Da muss das Signet ganz klar ein: Hier werden Kinder erzogen, nicht nur betreut, auch gebildet im besten evangelischen Sinne.
Deutschlandradio Kultur: Jahrzehntelang hat die Evangelische Kirche versucht, ich sage mal salopp, "locker" zu sein. Sie selber beklagen, dass zu viel über Sekten und Drogen geredet wurde und zu wenig über die Bibel. Fehlt der Evangelischen Kirche ein klares Profil, wie es z.B. die Katholische hat?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Unser Profil ist schon klar. Das Profil heißt: Kirche der Freiheit. Luther hat gesagt, "die Freiheit eines Christenmenschen bedeutet, niemandem untertan und gleichzeitig jedermann untertan". Das heißt, das ist eine Freiheit in Bindung. Ich muss mich nicht vom Zeitgeist bestimmen lassen, nicht von außen definieren lassen, was Erfolg ist beispielsweise oder was Leistung bedeutet. Gleichzeitig bin ich aber bereit, Verantwortung in dieser Gesellschaft zu übernehmen, Verantwortung für andere. Ich lebe nicht nur in Egomanie für mich, Hauptsache ich kann raffen, wie das in dieser Gesellschaft ja ständig irgendwie vorgegeben wird, sondern ich versuche solidarisch in einer Gemeinschaft zu leben, in die ich mich auch einbringe.
Deutschlandradio Kultur: Aber es geht auch um Bibelarbeit. Sie wollen das auch, wenn wir Sie richtig verstanden haben, in Zukunft wieder verstärkt machen. Also wurde in der Vergangenheit zu viel über die Welt und zu wenig über Gott geredet?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Da, denke ich, hat die Evangelische Kirche – sagen wir 70er, 80er Jahre – sicher zu sehr über die Konsequenzen des christlichen Glaubens gesprochen und zu wenig über das Fundament. Wir haben also eine Generation herangezogen, die viele ethische Impulse bekommen hat, aber nicht mal mehr weiß, wie die Josephsgeschichte überhaupt zustande gekommen ist. Ich habe eine Führung in einer Kirche erlebt. Da guckt sich ein kleiner Junge den Jesus am Kreuz an und sagt, oh boa, was ist dem da passiert? Das heißt, der hat noch nie irgendetwas davon gehört. Das geht bis dahin, dass mich jemand gefragt hat, was die Pluszeichen auf unseren Kirchtürmen bedeuten. Das heißt, es gibt tatsächlich einen Mangel an Bildung. Das tut mir natürlich besonders weh, weil Luther die Bibel ja nicht nur übersetzt, sondern dann auch Schulen gegründet hat, damit die Menschen selbst nachlesen können, sich selbst bilden können und selbst eine Meinung, ihr eigenes Gewissen schärfen.
Deutschlandradio Kultur: Gibt es vielleicht auch so etwas wie einen Mangel an Respektspersonen, zu denen man einen gewissen Abstand hat? Ich denke an die katholischen Priester, die ja nicht heiraten dürfen. Bei den Protestanten ist das anders. Sie durften sogar trotz Ihrer Scheidung im Amt bleiben. Die Frage ist: Wenn für evangelische Würdenträger die gleichen Rechte oder die gleichen Maßstäbe gelten wie für normale Gläubige – in Anführungszeichen, wird die Kirche da nicht vielleicht auch zu alltäglich?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Das ist nun typisch evangelisch, wenn Sie mich nach evangelischem Profil fragen. Wir haben keinen Papst als Kirchenoberhaupt. Bei uns ist es so, dass wir mit Luther sagen: Es gibt ein Priestertum aller Getauften. Da gibt es keinen besonderen Weihestatus. Auch ein Bischof oder eine Bischöfin sind nicht über den anderen, sondern haben einen besonderen Auftrag. Ich finde, dass das dem Neuen Testament und dem biblischen Auftrag viel eher entspricht als eine hierarchiegebundene Kirche. Wenn Sie aber bei uns sehen, kommen Sie mal in ein niedersächsisches Dorf, was der Pastor da für eine Rolle spielt, also, eine Respektsperson ist das trotzdem.
Deutschlandradio Kultur: Ich will noch mal zurückkommen auf dieses Profil in Zeiten knapper Kassen. Sie haben gesagt: mehr Bibelarbeit, mehr in die Menschen investieren, auch in die Kindergärten. Aber das Profil dieser Evangelischen Kirche in den nächsten 10, 15, 20 Jahren unter diesen Voraussetzungen, wird es denn politischer sein, wird es frommer sein, wird es konservativer sein, wird es linker sein oder gelten diese ganzen Begriffe überhaupt nicht in der Vorstellung, wie Sie die Kirche weitertreiben oder weiter entwickeln wollen?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Ich möchte die Kirche natürlich weiterentwickeln, weil ich glaube, sie muss Kirche im 21. Jahrhundert sein, aber nah bei den Menschen. Ich finde, eine Kirche, die sich entscheidet, konservativ oder links – wie Sie das jetzt sagen – zu sein oder fromm oder politsch...
Deutschlandradio Kultur: Nein, die Schwerpunkte.
Landesbischöfin Margot Käßmann: .., das wäre eine sehr langweilige Kirche, weil sie konform wäre, weil ich sagen würde: In unserer Kirche sind alle so. Was ich wieder richtig normal, gut evangelisch finde, ist, dass wir sowohl Evangelikale in unserer Kirche haben, die ganz stark bibelfest, bibeltreu orientiert sind, und andere, die ihr Evangelischsein ganz stark daher leben, dass sie sich in der ökologischen Bewegung "Klimaallianz" beispielsweise engagieren. Gerade diese Spannung macht die Evangelische Kirche, finde ich, auch spannend.
Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie also fordern, dass die Menschen sich wieder mehr mit der Bibel auseinandersetzen, heißt das nicht gleichzeitig, dass sich die Evangelische Kirche von weltlichen Themen distanzieren oder sich dazu nicht mehr äußern soll?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Wer das behauptet, hat ja die Bibel nicht gelesen. Als in Hannover der Bundesparteitag der CDU getagt hat, habe ich im Gottesdienst in meiner Predigt schon gesagt: Die Evangelische Kirche auf das Eigentliche reduzieren wollen, kann nicht, wer die Bibel liest, weil da steht etwas davon, dass ich den Fremdling, der unter mir wohnt, schützen soll. Das kann ich nicht predigen, ohne auf die Asylsuchenden und die Flüchtlinge hier zu schauen beispielsweise. Die Bibel nimmt zum Maßstab für Gerechtigkeit im Land, wie es den Schwächsten geht. Ich kann gar nicht predigen über solche Stellen aus der Bibel, wenn ich mich nicht dafür interessiere, wie es Obdachlosen, Alleinerziehenden, Hartz-IV-Empfängern im Land geht. Also, ich finde, Glaube und Weltverantwortung sind nicht auseinander zu dividieren. Gerade, wer die Bibel kennt, weiß, wo er sich zu engagieren hat.
Deutschlandradio Kultur: Es geht aber immer auch um die Verkündung des Evangeliums als Kern, oder nicht?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Natürlich geht’s um die Verkündung des Evangeliums. Nehmen wir mal das Thema Sterben, Sterbehilfe, das hat ja dieses Jahr eine große Rolle gespielt. Wenn ich sage, jeder Mensch ist Gottes Ebenbild, ganz gleich, wie er beschaffen ist, ein schwerstbehindertes Mädchen ist nicht weniger wert als Mensch als ein schönes Model auf dem Laufsteg, dann werde ich diese Würde des Menschen bis zuletzt, bis zum Tod bewahren. Und weil ich glaube, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, werde ich auch eine Kultur des Sterbens und eine Kultur auch der Bestattung aufrecht erhalten in diesem Land. Das halte ich für die Kirchen für eine ganz große Aufgabe. Was da im Moment passiert, zu sagen: Kann man nicht ein bisschen früher gehen? Die letzten zwei Jahre belasten die Menschen die Krankenkassen am stärksten. Aktive Sterbehilfe ist doch gut. Ich rufe an, wenn ich nicht mehr will, und dann bekomme ich das Gift und kann gehen. Ich glaube, da wird wirklich eine Gesellschaft zerstört.
Deutschlandradio Kultur: Kommen wir noch mal auf den Fremden, den Sie eben angesprochen haben. Der Vatikan hat gerade noch einmal das Recht und die Pflicht der Katholischen Kirche nicht nur zur Evangelisierung, sondern auch zur Missionsarbeit bekräftigt. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Bischof Wolfgang Huber sagt dazu, Mission und Evangelisierung seien der "Herzschlag der Kirche." Ist das auch ein Signal der Abgrenzung in Richtung muslimische Bevölkerung?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Die meisten Menschen denken bei Mission an eine Holzhammermethode oder an wirkliche Fehlleistungen der Kirche bei der Besetzung Lateinamerikas. Da waren Missionare mit dabei und da gab es dann Zwangstaufen u.a.m. Das verstehe ich heute nicht unter Mission. Mission heißt für mich, dass ich durchaus von meinem Glauben rede, dass ich mich nicht dafür schäme Christin zu sein, sondern davon spreche, was das für mich bedeutet. Ich denke, das hat für viele jahrelang eher so einen Charakter gehabt, na ja, ich gehöre noch der Kirche an, und ja, so irgendwie bedeutet mir das auch was. Missionarisch sein heute würde für mich heißen, ich sage wirklich bewusst, ich bin Christin und da hat mein Leben Halt und Orientierung. Da ändert sich was. Das ist aber keine Missachtung anderer Religionen. Ich denke, in diesem Land muss sehr klar sein, wir sind längst eine multireligiöse Gesellschaft. Und Muslime haben das Recht, ihre Religion in Freiheit in diesem Land zu leben. Religionsfreiheit ist für mich ein hohes Gut.
Deutschlandradio Kultur: Nehmen wir die Kindergärten, von denen Sie gesprochen haben, wo der christliche Glauben auch transportiert werden soll. In Großstädten gibt es viele Kinder, Familien mit muslimischem Hintergrund, die jetzt beispielsweise ihre Kinder da anmelden wollen. Was machen Sie mit denen? Toleranz? Werden Sie versuchen, denen christlichen Glauben beizubringen? Oder akzeptieren Sie sie in ihrem anderen Glauben? Oder versuchen Sie die Schnittmenge zu finden? Wie geht das?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Meine Landeskirche hat allein 586 Kindertagesstätten in Trägerschaft, in denen viele muslimische Kinder sind. Muslimische Eltern melden oft ihre Kinder gerade in einer kirchlichen Kindertagesstätte an, weil sie sagen, lieber eine religiöse Erziehung als eine völlig a-religiöse. Und in den Gesprächen wird dann deutlich gemacht: Wir beten zu Jesus Christus hier in dieser Kindertagesstätte, aber natürlich werden wir auch wahrnehmen, was ein muslimisches Kind mitbringt, was Ramadan für es bedeutet. Das wird aufgenommen in diesen Kindertagesstätten. Es ist ein christlicher, das wissen muslimische Eltern, wenn sie da ihre Kinder anmelden. Es gibt ja auch kommunale beispielsweise oder andere Anbieter von Kindertagesstätten aus dem säkularen Bereich, aber wir werden respektieren, dass da Kinder kommen, die aus einer anderen Glaubenstradition stammen. Das wird in Kindertagesstätten längst praktiziert. Das sind vielleicht die besten Orte der Integration und des Dialogs der Religionen, die wir überhaupt haben.
Deutschlandradio Kultur: Und wie sieht der Dialog mit den Erwachsenen aus, z. B. mit muslimischen Würdenträgern in Deutschland?
Landesbischöfin Margot Käßmann: In Niedersachsen ist es so, dass ich alle zwei Jahre einen großen Gesprächskreis habe mit den Vertretern der muslimischen Verbände. Natürlich müssen wir gleichzeitig sehen, dass nur 15 Prozent der Muslime in Deutschland überhaupt organisiert sind. Da ist immer die Frage, wer sind eigentlich unsere Gesprächspartner?
Ich denke, das muss noch früher ansetzen. Wir haben als Hannoversche Landeskirche ein Theaterstück inszeniert in diesem Jahr, das an Schulen für neunte und zehnte Klassen aufgeführt wird – "Die göttliche Odette", Romeo und Julia, gespielt von einem Moslem und einer Christin. Und anhand dieses Theaterstücks werden die ganzen Vorurteile gegeneinander ungeheuer sichtbar. Und anschließend gibt es dann ein Gespräch. Ich war bei zweien solcher Gespräche dabei. An 90 Schulen ist das schon aufgeführt worden. Da merkt man, es ist unheimlich wichtig, dass gerade die Jugendlichen auch ihre Vorurteile aussprechen und miteinander ins Gespräch um den Glauben kommen, was das bedeutet. Ich denke, wir müssen viel früher mit dem Dialog ansetzen, weil wir merken, das weiß ich auch, wie schwierig es dann später unter Erwachsenen ist, die sich bisher überhaupt nicht begegnet sind und völlig fremd aufeinandertreffen.
Deutschlandradio Kultur: Dennoch müssen die Unterschiede auch klar herausgestellt werden. Findet das statt auch auf Augenhöhe mit den Vertretern der muslimischen Gemeinden, die hier in Deutschland sind?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Das Bemühen ist da, aber wir haben alle gesehen, wie schwierig es auch ist, sensibel da miteinander umzugehen. Ich denke, man muss sich auch gegenseitig immer wieder deutlich machen, wo Grenzen des Verstehens sind und wo wir auch den nötigen Respekt aufbringen müssen, zu sagen, wir sind uns fremd und können darüber nicht einfach hinweg reden. Wichtig ist mir allerdings, diesen Respekt vor der anderen Religion wahrzunehmen und gleichzeitig zu sagen, wir befinden uns in der Bundesrepublik Deutschland und das Allererste ist, dass wir alle auf dem Boden dieser Verfassung stehen. Mann und Frau sind gleichberechtigt, beispielsweise. Das ist keine Frage der Religionsfreiheit, sondern das ist eine Verfassungsfrage.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gesagt, der Dialog ist schwierig. Der wird aber auch nicht leichter, wenn Sie sich wie am Reformationstag hinstellen und dem Islam eine Reformation empfehlen. Das ist ja ziemlich frech, um es mal freundlich zu sagen.
Landesbischöfin Margot Käßmann: Wenn Sie das Zitat genau nachlesen, was ich gesagt habe, dann habe ich ganz deutlich gesagt, dass eine Reformation für unsere Kirche ungeheuer wichtig war, weil alles noch mal auf den Prüfstand gestellt wurde, und dass ich denke, dass das für jede Religion wichtig ist, noch mal nachzufragen, was von der Tradition eigentlich das ist, was uns zum Ursprung zurückführt, und was in der Tradition hat uns vom Ursprung weggeführt. Das wäre auch für den Islam wichtig. Ich glaube in der Tat, dass im Islam die Frage ist: Ist er demokratiekompatibel? Ich bin keine Islamexpertin, aber die Diskussion muss doch sein: Gibt es einen europäischen Islam, der voll Ja sagen kann zu demokratischen Freiheitsrechten und gleichzeitig den muslimischen Glauben lebt? Das war für die Kirche und das Christentum auch lange sehr umstritten. Und die Kirche war nicht immer die, die als erste für die Freiheitsrechte, auch nicht für die Frauenrechte eingetreten ist – ganz bestimmt nicht.
Deutschlandradio Kultur: Frau Käßmann, Sie sind bekannt dafür, dass Sie sich einmischen, auch in gesellschaftliche Fragen. Stichwort Managergehälter: Viele empfinden sie zu hoch, zu ungerecht. Sie fordern eine Begrenzung. Wie sehen Sie das?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Also, ich stelle mich jetzt nicht hier hin und sage, was ein Manager verdienen darf. Für mich ist das eine Frage der Verantwortung. Übernehme ich Verantwortung für ein Unternehmen oder werden Menschen sogar noch dafür mit vielen Tausenden belohnt, dass ein Unternehmen in die Krise gerät und Arbeitsplätze abgeschafft werden? Das halte ich für absolut verantwortungslos. Ich denke auch, es gibt so eine Ethik des "genug", man muss doch irgendwann den Hals voll genug haben, eine Ethik der Grenze auch dessen, was noch vertretbar ist.
Also, dass jemand sagt, ich arbeite so viel und deshalb ist es gerechtfertigt, dass ich – ich weiß nicht wie viel – Hunderttausend im Monat verdiene, während ein anderer am Fließband ja auch viel arbeitet, also, da sind die Relationen – denke ich – verloren gegangen.
Deutschlandradio Kultur: Wie sieht es auf der anderen Seite aus? Es gibt eine Menge Leute in Deutschland, die wären froh, wenn sie von ihrer Arbeit und dem, was sie dafür bekommen, auch leben könnten. Wären Sie für flächendeckende Mindestlöhne?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Ich bin in der Tat für Mindestlöhne, weil ich es für Menschen demütigend finde, wenn sie voll arbeiten und dann noch auf Sozialleistungen angewiesen sind. Ich habe gerade Jobcenter in Niedersachsen besucht. Da sind es bis zu 20 Prozent der Menschen, die von Alg II Unterstützung mit leben, die selbst voll in Arbeit stehen. Das halte ich für würdelos, wenn jemand einen vollen Arbeitsplatz ausfüllt und davon nicht leben kann. Deshalb denke ich, Mindestlöhne sind tatsächlich sinnvoll. Und es hat sich ja auch gezeigt, beispielsweise in England, dass das nicht heißt, dass Arbeitsplätze abgebaut werden, auch wenn das jetzt bei der Post auf den ersten Blick so aussieht. Aber es geht wiederum um die Würde der Menschen, die von ihrer Arbeit leben können müssen.
Deutschlandradio Kultur: Wie sehr achten Sie eigentlich darauf, dass innerhalb der Evangelischen Kirche in den Einrichtungen, die Sie betreuen, ordentliche Löhne bezahlt werden, Weihnachtsgeld etc.?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Das ist für uns auch ein großer Kampf innerhalb der Kirche. Wir haben ja auch sehr viele Angestellte in unserem Bereich. Und wir haben eine arbeits- und dienstrechtliche Kommission, in der genauso gerungen wird wie in anderen Unternehmen auch. Mir liegt aber daran, dass wir Löhne und Gehälter zahlen, die der Würde der Menschen entsprechen. Aber ich sehe natürlich, dass auch in unserer Kirche Arbeitsplätze abgebaut werden. Ich will da gar nicht überheblich sein. Je weniger Kirchensteuereinnahmen da sind, desto weniger Arbeitsplätze werden wir erhalten können. Wir bemühen uns darum, dass es keine betriebsbedingten Kündigungen gibt. Trotzdem ist es an der einen oder anderen Stelle nicht zu vermeiden. Wir haben uns da sehr engagiert als Landeskirche, dass das nach Möglichkeit nicht geschieht, aber auch bei uns wird beispielsweise um Weihnachtsgeld gekämpft. Die Pastorinnen und Pastoren erhalten schon das dritte Jahr in meiner Landeskirche kein Weihnachtsgeld.
Deutschlandradio Kultur: Bis Weihnachten ist die Zeit hektisch. Wir hatten das schon angesprochen. Und dann soll aber Ruhe und Besinnlichkeit einkehren. Wann, Frau Käßmann, ist für Sie das Gefühl da: ja, jetzt ist Weihnachten?
Landesbischöfin Margot Käßmann: Das kann ich Ihnen ganz genau sagen: am 24. Dezember 19.30 Uhr. Da habe ich nämlich den letzten Gottesdienst für den Heiligen Abend gehalten. Und da ich am ersten Feiertag in diesem Jahr keinen Gottesdienst habe, wird das für mich der Punkt sein, wo es wirklich ruhig wird, wo auch kein Manuskript mehr abzugeben ist, kein Interview zu geben, keine Weihnachtskarte zu schreiben, sondern ich dann mit meinen Kindern in Ruhe Weihnachten feiern kann.
Deutschlandradio Kultur: Frau Käßmann, ganz herzlichen Dank für das Gespräch und Ihnen und Ihrer Familie Frohe Weihnachten.
Landesbischöfin Margot Käßmann: Ich danke Ihnen allen auch. Gesegnete Weihnachten.