"Man muss die Schulpflicht etwas lockern"

Moderation: Nana Brink · 14.01.2008
Der Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin hat sich dafür ausgesprochen, die Schulpflicht zu liberalisieren. Eltern, die sich der Verantwortung bewusst seien, sollten die Möglichkeit haben, ihre Kinder selbst zu unterrichten. Allerdings sollte der Unterricht eng an Schulen angebunden sein, und es sollten regelmäßige Prüfungen stattfinden..
Nana Brink: Wir sind jetzt verbunden mit Professor Volker Ladenthin, Erziehungswissenschaftler von der Universität Bonn. Schönen guten Tag, Herr Professor Ladenthin.

Volker Ladenthin: Guten Tag, Frau Brink!

Brink: Erst kürzlich waren Berichte über Familien in Brandenburg und Bremen zu lesen, die ihre Kinder zuhause unterrichten. Und eine Familie in Bremen ist sogar ausgewandert, weil ihr die Schulbehörde auf den Fersen war. Was bewegt denn Eltern, ihre Kinder nicht in die Schule zu schicken, sondern zu Hause zu unterrichten?

Ladenthin: Ja, wir haben in unseren Forschungen drei bis vier große Gruppen ausfindig gemacht. Es ist einmal eine bildungspolitisch orientierte Elternschaft, die versucht, das deutsche Schulsystem durch das Homeschooling zu verändern. Stärker sind aber die anderen drei Gruppen. Bildungsorientierte Eltern, die das Gefühl haben, dass die Schule nicht mehr das Wissen vermittelt, was sie ihren Kindern gerne weitergeben möchten. Stärker noch sind die erziehungsorientierten Eltern, die sagen: Unsere Kinder sollen in einem Rahmen aufwachsen, der lebenswert ist, in angenehmer Umgebung betreut, nahe begleitet von erwachsenen Personen, die verantwortungsvoll und menschlich reagieren, die sie mit in das Leben hineinnehmen und nicht nur einfach kalt unterrichten. Und schließlich gibt es eine dritte, vierte Gruppe. Das sind die religiös motivierten Eltern, die aus religiösen Gründen sagen: Die Inhalte, die in der Schule verhandelt werden, meistens geht es dann um Geschichte und um Fragen der Sexualaufklärung, diese Inhalte möchten wir unseren Kindern nicht zumuten.

Brink: Was sind denn die Vorteile eines elterlichen Unterrichts?

Ladenthin: Na ja, es sind die Vorteile, die man in kleinen Gruppen hat. Es sind überschaubare Größen. Es sind ja meistens zwei bis drei Geschwisterkinder. Man kann sogar Einzelunterricht machen. Alles das, was wir an kollektivem Unterricht in der Schule als nachteilig erfahren, findet dort nicht statt. Der Lernstoff kann adressatenbezogen gemacht werden. Das heißt, man kann das unterrichten, was Kinder im Augenblick interessiert. Man kann Unterricht zum Lokaltermin werden lassen. Ich habe erlebt, bei meinen eigenen Kindern wurde Getreide aus Biobüchern, Getreidearten aus Biobüchern unterschieden und drum herum wogten die Felder. Das würde kein Vater, keine Mutter machen, sondern man würde hinausgehen in die Natur. Der Unterricht ist einfach lebendiger. Man würde Unterricht und Erziehung verbinden, das, was eigentlich ein pädagogisches Ideal immer da war. Es gibt personale Beziehungen. Das heißt, Erzieher und Zögling, Lehrer und Schüler kennen sich in diesem Unterricht, in dieser Unterrichtsform. Und man kann natürlich einen hoch flexiblen Lehrplan machen. Man spricht über Schnee, wenn es schneit.

Brink: Das klingt jetzt sehr ideal, was Sie schildern. Aber wie kann man denn gewährleisten, dass Kinder von ihren Eltern auch ganz normal das Einmaleins und das ABC vermittelt bekommen, so, wie es denn in der Schule wäre?

Ladenthin: Das ist eine ganz, ganz wichtige Frage. Wir können es uns nicht so vorstellen, dass jetzt die Beliebigkeit anstelle der Schule Platz hat, sondern auch die Eltern müssen sich natürlich an die Vorgaben von Bildung, an die Vorgaben von Lehrplänen halten. Man müsste es so gestalten, wenn man es ernsthaft gestalten will, dass man den Lehrplan, den es an den verschiedenen Schularten gibt, zur Grundlage nimmt für Hausschulunterricht. Man könnte dann zwar die Zeiten variieren, die Form variieren. Aber die Inhalte, die wir in unserer Gesellschaft als wesentlich erachten, die müssen natürlich von Eltern genauso thematisiert und unterrichtet werden.

Brink: Wenn Kinder zu Hause sind, haben sie ja aber auch wenig Kontakt zu anderen Kindern. Sie schildern zwar, dass sie eng mit ihren Eltern verbunden sind, dass die auf den Lehrplan auch Einfluss haben. Aber sie lernen keine anderen Kinder kennen. Ist das gerade nicht sehr förderlich für das Sozialverhalten?

Ladenthin: Ich glaube, Kindergeburtstage werden weiterhin stattfinden, auch wenn man die Kinder nicht in die Schule schickt. Es wird weiterhin Fußballvereine und Musikschulen geben. Das heißt, das gesamte soziale Leben, das jetzt am Nachmittag stattfindet, das findet ja auch weiterhin statt. Ich halte das für eine Dramatisierung, die man da sieht. Zudem sind ja auch nicht alle Erfahrungen, die man in der Schule macht, unbedingt positiv. Wenn man verprügelt wird, wenn man gemobbt wird, wenn man gemieden wird, das sind ja Erfahrungen, die nicht selten sind und die für viele Kinder abschreckend sind. Eine Gruppe kann ja auch grauenhaft sein. Das ist übrigens auch ein Motiv auch für Eltern, Kinder aus den -Schulen zu holen, weil sie eben diese negativen sozialen Erfahrungen gemacht haben.

Brink: Sind Sie denn dann für die Abschaffung der Schulpflicht?

Ladenthin: Ich finde, man muss die Schulpflicht etwas lockern. Wir müssen den Eltern, die die Möglichkeit haben, vernünftig zu Hause Unterricht zu machen, die den Willen haben, ihre Kinder besonders zu fördern, den Weg dazu erleichtern. Die Bildungspflicht und die Schulpflicht, das sind ja wichtige historische Errungenschaften. Und die kann man nicht aufkündigen. Aber die Form, in der das verwirklicht wird, die müssen wir gemäß unserer pluralen Gesellschaftsordnung auch liberalisieren. Wir müssen einen Wettstreit um die beste Form von Bildung geben und nicht nur eine staatlich verordnete. Übrigens sieht das Grundgesetz das ja vor, indem die Einrichtung von Privatschulen erlaubt wird. Und das Homeschooling ist ja nur ein weiterer Schritt, die letzte Konsequenz einer solchen Einrichtung.

Brink: Aber die Nachteile, Herr Professor Ladenthin, liegen doch auf der Hand. Gebildete Eltern sind vielleicht in der Lage, ihre Kinder zu erziehen. Was aber geschieht denn mit Eltern aus den sogenannten bildungsfernen Schichten? Die Kinder sind doch faktisch chancenlos?

Ladenthin: Das ist richtig. Genau dieser Umstand hat ja auch vor 200 Jahren zur Einrichtung von flächendeckenden Schulen geführt, dass eben Eltern aus benachteiligten Schichten das nicht konnten. Wir haben aber heute bei den Homeschooling-Eltern gerade nicht diese Klientel, die ihre Kinder aus den Schulen fernhalten wollten, weil sie ungebildet waren, sondern dieses machen, weil sie so gebildet sind. Das heißt, die Problemlage ist heute eine andere als vor 200 Jahren. Aber Sie haben recht: Wenn sich zeigen sollte, dass die Auflockerung der Schulpflicht dazu führt, dass bildungsferne Schichten ihre Kinder aus den Schulen herausnehmen, dann muss man das verhindern. Da muss man bremsen und Schranken einbauen. Deswegen plädiere ich dafür, dass man Homeschooling-Eltern eng an Schulen anbindet, dass sie mit Schulen begleitet werden, eine regelmäßige Pflicht haben, das, was sie machen, auch zu dokumentieren, die Aufgaben vorzulegen, an Klassenarbeiten teilzunehmen. Das ist aber durchaus möglich und wäre nicht mal ein großer organisatorischer Aufwand.

Brink: Sie haben es am Anfang des Gesprächs schon selber gesagt: Viele Eltern schicken ihre Kinder auch aus religiösen, weltanschaulichen Gründen nicht auf eine Schule, wollen das nicht. Muss man da nicht auch um die Toleranz in diesem Land fürchten, wenn Eltern eben aus religiösen Gründen zum Beispiel andere Weltanschauungen verdammen oder Aufklärung über Sexualität ablehnen?

Ladenthin: Ja, das ist sicherlich ein Problem. Aber wir würden diese Besonderheiten ja auch nicht durch Zwang erreichen. Wir können ja nicht Menschen dazu zwingen, bestimmte Anschauungen anzunehmen. Das heißt, diese Eltern, die aus irgendeiner Motivation, die sich mir nicht erschließt, ihre Kinder aus diesem Unterricht herausnehmen, die wird man auch nicht dadurch erreichen, dass man die Kinder in diesen Unterricht hineinzwingt. In Bildungsfragen erreicht man mit Zwang nichts. Man kann dann formal zwar dem Gesetz genügen, aber die eigentlichen Probleme, die Verbohrtheit solcher Eltern, die kriegen Sie mit dieser Einstellung ...

Brink: Aber zumindest, Entschuldigung, bekommen Sie die Kinder doch aus dem Ghetto raus und geben ihnen eine Chance, auch eine andere Weltanschauung kennenzulernen in der Schule?

Ladenthin: Ja, aber wenn das zu Hause sofort konterkariert wird, wir wissen, dass aus Kindern, etwa in großen Teilen der Zeugen Jehovas, dass die Macht der Eltern doch so groß ist, dass die staatlichen Einflüsse dagegen verschwindend sind. Das sind geschlossene Systeme, in die Sie kaum hineinkommen. Nun sollte man das auch von den Zahlen her nicht dramatisieren. Es sind ja nicht große Zahlen. Und dort muss man sicherlich andere Formen finden. Dort ist die Schule meines Erachtens auch machtlos.

Brink: Sie haben davon gesprochen, dass auch Kinder, die an dem Homeschooling, an dem Unterricht zu Hause, teilnehmen, doch dann Prüfungen ablegen sollen, kontrolliert werden sollen von der Schulbehörde. Meinen Sie, die Schulbehörde schafft das? Sie ist ja schon überfordert eigentlich, die Schulpflicht einigermaßen zu sanktionieren.

Ladenthin: Ja, wir haben jetzt ja im Oberstufenbereich sogar externe Abiturientenprüfungen. Das heißt, man kann sich zum Abitur an einer Schule anmelden. Das würde das nach unten verlagern. Die Klassen würden ja dann auch kleiner, wenn es denn in großer Zahl wäre. Das halte ich für ein organisatorisches Problem. Aber ich sehe etwas anderes, ganz Wichtiges daran. Es kann nicht sein, den Elternwillen gegen den Staatswillen auszuspielen. Das ist eine falsche Alternative, sondern es geht in beiden Fällen um die Bildung von Kindern. Und die muss natürlich in irgendeiner Weise reflektiert und standardisiert und auch an gültige Normen gebunden werden. Deswegen: Ohne eine Kontrolle, ohne regelmäßige Prüfung kann Homeschooling auch nicht funktionieren. Das ist eine Illusion. Wenn einige Eltern glauben, das nur negativ zu sagen, die Kinder aus den Schulen herauszunehmen, das ist eine falsche Perspektive.

Brink: Haben Sie Ihre Kinder selbst erzogen?

Ladenthin: Nachmittags ja.

Brink: Aber sie waren schon in der Schule?

Ladenthin: Natürlich! Das heißt, die Eltern sind ja immer schon als Homeschooler tätig. Die Schulen würden ja zusammenbrechen, wenn die Eltern nicht nachmittags mit den Kindern arbeiten würden bzw. ihre Kinder dann in Schülerhilfen und ähnliche Institutionen schicken würden. Und die Ganztagsschule ist ja auch quasi ein Versuch, diesen Bereich jetzt noch staatlich zu verwalten. Aber die Schule ist schon eine riesige Entlastung. Und die Eltern, die sich dieser Aufgabe widmen, die müssen sich auch klarmachen, welche ungeheure Belastung das ist.

Brink: Vielen Dank, Professor Volker Ladenthin, Bildungsexperte von der Uni Bonn. Und wir sprachen mit ihm über den Hausunterricht in Deutschland.