"Man muss die Mauer als das im Gedächtnis behalten, was sie war"

Tilda Swinton im Gespräch mit Vladimir Balzer |
Schauspielerin Tilda Swinton fuhr nach 21 Jahren für einen Film erneut mit einem Rad entlang der Mauer. Sie sagt, sie habe die Stadt kaum wieder erkannt. Deshalb sei es wichtig, die Erinnerung an die Mauer aufrechtzuerhalten "und es ist wichtig, dass sich das Ganze nicht langsam in der Erinnerung der Leute auflöst. Der beste Weg, die Mauer im Gedächtnis zu behalten, ist für mich, kleine Teile davon weiter bestehen zu lassen. Ja, ich denke wirklich, dass es schade ist, dass die Mauer so stark zerstört wurde."
Tilda Swinton: Wenn ich mir den ersten Film ansehe, den wir gemacht haben, dann ist das das Berlin, an das ich mich erinnere, und dieses neue Berlin ist mir wirklich ganz neu. Die Reise im zweiten Film ist für mich also eine sehr praktische Reise. Hier suche ich nach meiner Verbindung zu einem Ort, den ich mal kannte.

Vladimir Balzer: Und haben Sie diesen Ort denn in irgendeiner Weise wiedererkannt?

Swinton: Manchmal ja, manchmal nein. Für mich ist es ein bisschen wie eine Traumlandschaft, wenn ich zum Beispiel um eine Ecke gehe und dann etwas vor mir sehe, das sich überhaupt nicht verändert hat, und dann gehe ich um die nächste Ecke und es ist plötzlich vollkommen anders. Und natürlich ist das Ding, dem wir hier folgen, die Mauer. Sie ist so etwas wie eine Metapher. Gleichzeitig ist das wie bei jeder Reise, die man nach 21 Jahren wiederholt. Während der Dreharbeiten zum ersten Film, 1988, entdeckten wir, dass die Mauer durch so viele verschiedene Gegenden führt, durch Seen, durch Wälder und natürlich auch zwischen Häusern hindurch, die manchmal ganz dicht standen. Aber gleichzeitig hat sich die Umgebung ganz häufig überhaupt nicht verändert. Wenn man jetzt durch diese Wälder läuft und den Verlauf der Mauer sucht, kann man ihn oft gar nicht mehr finden. Auch wenn die Stadt oft sehr schön einen Mauerweg gestaltet hat, dem die Leute folgen können, verläuft man sich doch manchmal sehr leicht.

Balzer: Wenn die Natur eine so große Rolle spielt, dann kann man sich natürlich fragen: Ist dieser Film vielleicht etwas zu unpolitisch?

Swinton: Beide Filme haben eine sehr bescheidene Aussage und ein sehr bescheidenes Ziel, etwas sehr Einfaches und etwas explosiv Persönliches würde ich sagen. Aber im Grunde ging es darum, dass Cynthia Beatt und ich uns sehr einfache Fragen gestellt haben über eine Fahrradtour auf einer bestimmten Route. Und das war's. Es ging nicht unbedingt darum, Antworten zu finden, es geht vielmehr um den Prozess als darum, am Ende irgendein Produkt zu finden. Ich würde argumentieren, dass man persönlich sehr tief graben muss, um irgendeine Art politischer Realität in seinem Leben zu finden. Außerdem denke ich, dass man die Natur betrachten muss, um politische Realitäten zu finden. Aber unser Plan war nicht, nach Politik zu suchen. Wir suchten nach einer Art existenzieller Antwort auf das, was wir vor uns sahen.

Balzer: Noch mal zurück zu 1988, zu dem ersten Film: Dachten Sie eigentlich, diese Mauer ist für die Ewigkeit?

Swinton: Ganz am Ende des ersten Films sage ich eigentlich, dass sich alles klären lassen würde, dass es sich weiterentwickeln würde und man noch längst nicht die ganze Geschichte erlebt hätte. Es gibt einen Moment im ersten Film, in dem ich ein Graffiti finde mit dem Satz "Berlin wird mauerfrei". Und es ist interessant, sich daran zu erinnern, dass dies eine ähnliche Zeit war, als wir darüber sprachen, dass Nelson Mandela frei sein wird. Wir haben es alle gesagt, ob wir es aber wirklich jemals geglaubt haben, dass er nicht nur freikommen wird, sondern auch noch Präsident wird, ob die Leute 1988, die über das Ende der Mauer sprachen, auch dachten, dass sie ein Jahr später schon rüberlaufen würden, das weiß ich nicht.

Als wir den zweiten Film machten und wieder auf die Reise gingen – und jetzt im mauerfreien Berlin –, ist mir klar geworden, dass ich die Mauer heute als viel präsenter empfinde als damals, wenn man jetzt sieht, was sie eigentlich zerteilt hat. Man sieht, dass da eine Straße ist und dass sogar heute noch ganz genau der gleiche Asphalt auf der Straße ist, der wohl auch gleichzeitig 30 Jahre vorher aufgetragen worden war. Aber man weiß, dass eine Zeit lang die eine von der anderen Straßenseite getrennt war und die Familien auf der einen von denen auf der anderen Seite. Und das fühlt sich für mich viel brutaler an, als die Akzeptanz des eigentlichen Bauwerks sich je angefühlt hat.

Balzer: Wo waren Sie denn am 9. November 1989?

Swinton: Ich war in Glasgow, in Schottland, und ich glaube, Cynthia rief mich an. Auf der einen Seite konnte ich nicht glauben, was passierte, und auf der anderen habe ich das alles als sehr natürlich empfunden. Ich denke, dass viele Leute so etwas gefühlt haben, denn, wie gesagt, haben es sich die Leute ja schon so lange vorgestellt, sogar bildlich vorgestellt, wie Leute über die Mauer steigen würden, und plötzlich passierte das wirklich. Träume werden wahr!

Balzer: Und was bedeutet Ihnen das, was auf der anderen Seite der Mauer stattfand, also DDR, Ostdeutschland, auch die politischen Diskussionen, vielleicht auch über einen dritten Weg nach dem Fall der Mauer oder nach der friedlichen Revolution? Ich frage das auch deswegen, weil Sie ja auch mal Mitglied in einer kommunistischen Partei waren, in Großbritannien, also auch mal sozialistische Ideen vielleicht verfolgt haben.

Swinton: Ich bin mir sicher, dass viele Leute dieses Thema zurzeit wieder im Kopf haben, auch der Gedanke, dass bei all den Feiern über den Fall der Mauer die Möglichkeit besteht, dass vergessen wird, dass es vielleicht auch gute Gründe gab, diese Mauer überhaupt zu errichten. Und es stimmt auch, dass es sogar jetzt noch Menschen gibt, die gute Gründe haben, nostalgische Gefühle zu hegen zu einer Zeit, als es eine Möglichkeit gab, anders zu leben. Und es gab auch im Westen Menschen, die die Auflösung dieser Grenze sehr infrage stellten.

Wir sprechen das ja auch im Film an. Da ist dieser Moment, wo wir zu einem Wachturm gehen, den wir vor 21 Jahren von der anderen Seite gesehen hatten und wo wir den Männern, die uns aus dem Turm durch ihre Ferngläser ansahen, zugewinkt hatten. Und jetzt gehen wir in diesen Wachturm hinein, weil wir es jetzt können, und nun ist dieser Turm ein winziges Museum, mit einem Glaskasten mit einer alten Uniform der Grenzwächter darin. Und das ist etwas Außergewöhnliches daran, wie dieser Ort erhalten wird, fast so, als wäre es ein archäologisches Museum mit Überresten aus der byzantinischen Zeit. So weit wirkt das irgendwie.

Der Mann, der dieses Museum leitet, erzählte uns, dass er nach jemandem suchte, der in diesem Wachturm seinen Dienst geleistet hatte. Er hatte sogar per Anzeige gesucht nach jemandem, der von seinen Erfahrungen im Turm erzählen könnte. Aber niemand hat sich gemeldet. Ich fühle da die Möglichkeit eines kollektiven Gedächtnisverlusts, begründet auf einer Art Schande oder Scham. Hier ist wieder dieses binäre System, die Guten und die Bösen, die Idee, dass der einzige Grund für die Öffnung der Mauer war, dass die Leute nun in den Westen springen und Kapitalisten werden konnten.

Balzer: In Deutschland wird ja viel diskutiert, Erinnerungen an die Mauer aufrecht zu erhalten. Haben Sie das auch vermisst, diese Art von ganz konkreter Erinnerung?

Swinton: Die Leute suchen natürlich das Drama der Mauer, die Touristen, die Reisenden, und da schließe ich mich als Reisende, als Fremde mit ein. Es fällt schwer, zu glauben, dass eine Stadt komplett geteilt war. Aus welcher Stadt der Welt die Leute auch kamen, sie waren immer beeindruckt oder überwältigt von der Existenz der Mauer. Besonders jetzt, wo es die Mauer nicht mehr gibt, sagen sie: Wow, stell dir vor, Tokio mit einer Mauer in der Mitte, oder Chicago mit einer Mauer in der Mitte, wow!

Die Dramatik ist das, was die Leute in ihren Bann schlägt, und genau von dieser Dramatik, so scheint es mir, versuchen die Deutschen, sich zu lösen, sich davon fernzuhalten. Menschen dafür zu erschießen, dass sie versuchten, die Mauer zu überwinden, war nur eine weitere Art, die Dramatik der Existenz der Mauer zu verleugnen.

Man muss die Mauer als das im Gedächtnis behalten, was sie war, und es ist wichtig, dass sich das Ganze nicht langsam in der Erinnerung der Leute auflöst. Der beste Weg, die Mauer im Gedächtnis zu behalten, ist für mich, kleine Teile davon weiter bestehen zu lassen. Ja, ich denke wirklich, dass es schade ist, dass die Mauer so stark zerstört wurde.