"Man muss den Willen brechen"

Von Michael Hollenbach · 02.05.2009
Seit Jahren ist bekannt, dass es in staatlichen und kirchlichen Kinder- und Jugendheimen in den 50er- und 60er-Jahren Misshandlungen und massive Übergriffe gegeben hat. Nun versucht in Berlin ein Runder Tisch, sich mit den Schicksalen der Heimkinder auseinanderzusetzen. Doch die gewalttätigen Übergriffe waren keine "Ausrutscher" einzelner Mitarbeiter, sondern sie hatten System.
Wolfgang Rosenkötter kehrt zurück. Hier in der Moorburg, einem Haus der Diakonie Freistatt, hat er ein Jahr seiner Jugend verbracht: ein Jahr, das ihn sein Leben lang verfolgte. Als 16-Jähriger kam er 1961 nach Freistatt, in das Fürsorgeheim der evangelischen Kirche.

In der Diakonie Freistatt, im niedersächsischen Moor, lebten bis zu 400 Jugendliche in sechs verschiedenen Häusern. Wer hier im Heimalltag nicht spurte, wurde weggeschlossen.

"Wie im Gefängnis mit Guckloch und Riegel davor und vergitterten Fenstern. Einem Eisenbett, eine Matratze, eine Wolldecke, das war alles. Ein Kübel stand hier noch für die Notdurft, die man verrichten musste, hier war man allein und noch mehr den Ängsten ausgesetzt als im normalen Alltag ... War man hier drin."

Dreimal am Tag kam einer der Diakone, um Essen zu bringen: Suppe, Wasser und Brot.

"Einmal kam man hier hoch, wenn man weggelaufen war und wieder zurückgebracht wurde, dann musste man eine Woche hier in diese Arrestzelle oder wenn man sich unbotmäßig verhalten hatte gegenüber den Erziehern oder sein Arbeitssoll nicht erfüllt hatte."

In einem Heim konnte man in den 50er- und 60er-Jahren sehr schnell landen. Aus heutiger Sicht waren es Bagatellen, die die Einweisung in die geschlossene Jugendhilfe bedeuten konnte: "Verwahrlosung", "Vernachlässigung", "Schulschwänzen", "Arbeitsbummelei", "Ausreißen", "schlechter Umgang". Der Aufenthalt an Orten, von denen angeblich eine "sittliche Gefahr" ausging, war für Jugendliche riskant. Zu diesen "unsittlichen Orten" zählten Gaststätten, Rummelplätze oder auch der Straßenkarneval.

Freistatt war für viele Heimkinder die Endstation: Vier Fünftel der Jugendlichen hier waren vorher schon in anderen Heimen gewesen, aus denen sie geflohen waren; und etliche waren auch straffällig geworden. Matthias Benad, Professor für Diakoniewissenschaften in Bielefeld, skizziert eine typische Heimkarriere: Abweichendes Verhalten, Heimeinweisung, Fliehen, kleinere Straftaten, Freistatt.

"Es konnte einem passieren, dass man sehr überraschend dahin kam: die Eltern trennten sich, der Vater hatte eine neue Frau, kam mit dem Sohn nicht zurecht und dann war der überraschend schnell in Freistatt und dann staunten sie, in welchen Zusammenhängen sie dort waren, weil sie nicht wussten, dass sie mit Leuten, die auch richtig Kriminalitätserfahrungen hatten, dort zusammen waren."

In den 50er- und 60er-Jahren durchliefen mehrere 100.000 Kinder und Jugendliche die meist kirchlichen Heime. Viele der sogenannten Zöglinge kamen aus Patchwork-Familien – oft eine Folge des Zweiten Weltkrieges. Sie waren unehelich geboren, stammten aus geschiedenen Elternhäusern, waren Voll- oder Halbwaisen, hatten einen Stiefvater oder eine Stiefmutter. Im ersten Nachkriegsjahrzehnt galten nur zehn Prozent der Familien in Deutschland als sozial und emotional intakt.

1961 kam Wolfgang Rosenkötter nach Freistatt, gelegen im niedersächsischen Moor zwischen Diepholz und Nienburg. Dort eingetroffen, wurde er von einem Mann in Reiteruniform begrüßt - mit einer Peitsche in der Hand.

"Mal nicht so lahmarschig, Kerl. Bewegung, Bewegung. Mein Name ist Bruder Klapproth und ich bin hier der Hausvater. Du hast mich und die anderen Diakone immer als Bruder anzureden und nach einer Aufforderung oder einer Bemerkung immer ‚Danke’ zu sagen. Verstanden? Wir sollen hier einen Menschen aus dir machen und das werden wir."

"Die Erzieher waren Diakone der Anstalt Bethel, die wir mit Bruder und dem Nachnamen anreden mussten, (…) ich habe noch erlebt, dass da ältere Erzieher waren, die noch aus der Nazizeit übriggeblieben waren, der Hausvater, der oberste, den wir als Hausvater ansprechen mussten, der hatte noch eine alte Naziuniform und hat sie auch angezogen und ist damit durchs Haus gelaufen und hat die Leute geschlagen."

Der Wissenschaftler Matthias Benad hat die Zustände der 50er- und 60er-Jahre in der Fürsorgeanstalt Freistatt genau untersucht. Seine Beobachtung: die Diakone, alle im "Haus Nazareth" der von Bodelschwinghschen Anstalten in Bielefeld-Bethel ausgebildet, wurden nicht darauf vorbereitet, schwer erziehbare und verhaltensauffällige Jugendliche zu erziehen.

"Alle Bethel-Diakone hatten eine Krankenpflegeausbildung und dann kommen sie ins Moor und müssen in die Pädagogik, und zwar mit einer sehr schwierigen Belegschaft."

"Es gab eine Theoriefeindlichkeit, man hat sehr auf das Lernen am Arbeitsplatz gesetzt."

Rainer Nussbicker, Bethel-Diakon und Autor einer Studie über die Diakonenausbildung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

"Es war ein sehr altes, theologisch-pädagogisches Konzept, das auf August Hermann Francke zurückgeht. Man muss den alten sündigen Menschen brechen und den neuen gottgefälligen erziehen."

Der Pietist August Hermann Francke, geboren 1663 in Lübeck, gestorben 1727 in Halle, war ein evangelischer Theologe und Pädagoge. Er gründete die Franckeschen Stiftungen in Halle. Er schreibt Anfang des 18. Jahrhunderts:

"Der Zweck der Erziehung ist es, die Seelen vor dem Verderben zu retten. Dahin sollte bei aller Erziehung die größte Sorge gerichtet werden, dass der Mensch aus den Schranken seines verderbten und zu allem guten ohnmächtigen, natürlichen Wesens herausgerücket und in einen ganz anderen und besseren Stand gesetzt werden möchte."

"Die grundsätzliche Ausrichtung ist sicherlich eine von der Erweckungsbewegung geprägte gewesen; eine große Frömmigkeit und eine ausgeprägte Gehorsamsstruktur sind sehr dominierend. (…) Die Leitung legitimiert sich sozusagen von Gott her oder andersherum gesagt: wer gegen die Leitung opponierte, wurde grundsätzlich gefragt, ob er denn den notwendigen Gehorsam seinem Herrn Jesus aufzubringen auch in der Lage wäre (…) und da ist für einen Christ schwer dagegen zu opponieren."

Die Voraussetzung jeglicher Erziehung lautete für August Hermann Francke:

"So ist am meisten wohl daran gelegen, dass der natürliche Eigenwille gebrochen werde. (…)
Denn darum heißt Jesus Christus unser Herr, dass wir nicht mehr unser Eigen sein, noch nach unserem Willen leben dürfen."

"Dahinter sitzt das Modell, dass der Mensch grundsätzlich sündig ist, und der freie Wille auch Ausdruck mangelnder Demut ist und der christlich zu erziehende Mensch einer Brechung bedarf, also man muss ihn von seiner sündigen Grundstruktur überzeugen und dann erst kann man den neuen gottgefälligen Menschen heranbilden."

Das theologisch-pädagogische Konzept Franckes war bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts die Grundlage in fast allen evangelischen Fürsorgeeinrichtungen - und auch in der Diakonenausbildung wie in Bethel.

Allerdings gibt es im "Haus Nazareth" in Bethel schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts Pläne, dass die Diakone auch pädagogisch ausgebildet werden sollen. Doch 1914, als die Ausbildung eigentlich beginnen soll, kommt der Erste Weltkrieg dazwischen.
Danach – so in einem ein Positionspapier von 1922 - beharrt die Konferenz der evangelischen Anstaltserzieher auf den alten Grundsätzen. Rainer Nussbicker:

"Das ist ein deutlicher Gegenentwurf gegen alle reformpädagogischen Ansätze, die es damals in der Zeit gegeben hat, da wird die Isolierung befürwortet, da wird die Prügelstrafe gerechtfertigt, bis hin auf den Rückgriff auf eine Schulordnung aus Württemberg aus dem 18. Jahrhundert, wo zitiert wird: Man umbindet die Rute mit Seufzen zu Gott; man sozusagen religiös legitimiert prügeln, wenn man es denn aus Verzweiflung tut, weil der böse Knabe sich eben nicht gottgefällig verhält."

Doch die Weimarer Republik ist geprägt durch eine lebhafte Reformdiskussion – auch in der Fürsorgeerziehung. Gegen die autoritäre und gewalttätige Erziehung in vielen Heimen lehnen sich Jugendliche auf. Es kommt zu Revolten – zum Beispiel im Lindenhof in Berlin und auch in der Provinz: in einem Diakonieheim in Scheuen bei Celle. Dort fühlten sich die Erzieher von den Jugendlichen dermaßen bedroht, dass der Heimleiter zum Jagdgewehr griff. Bei der anschließender Strafaktion der Brüder wurde ein Junge so schwer misshandelt, dass er an den Folgen starb.

Die dramatischen Auseinandersetzungen bleiben nicht ohne Konsequenzen. Auch im Haus Nazareth in Bethel bekommen die Diakone ab 1929 eine halbjährige pädagogische Ausbildung. Doch schon bald werden die Mittel zusammengestrichen; die Pädagogik fällt erst dem Rotstift und dann den Nazis zum Opfer. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgt ein neuer Anlauf:

"Es gibt (...) Mitte der 50er-Jahre eine Diskussion darum, dass man die Diakone pädagogisch besser qualifizieren sollte, da kommen von Seiten des Diakonenhausvorstehers die Argumentation: ein Diakon hat eine so umfassende religiöse Ausbildung, der kann eigentlich alles, man entscheidet sich gegen eine Professionalisierung und es dauert dann zehn Jahre, bis man diese Fehlentscheidung revidiert."

Ebenfalls bis weit in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts überlebt das alte Berufsbild des Diakons, wie es in den 1870er-Jahren entwickelt wurde. Die Diakone erließen damals eine " Berufsordnung für die westfälische Brüderanstalt Nazareth". Dieser Berufsordnung wurde folgender Spruch vorangestellt.

"Was will ich? Dienen will ich. Wem will ich dienen? Dem Herrn Jesu in seinen Elenden und Armen. Und was ist mein Lohn? Ich diene weder um Lohn noch um Dank, sondern aus Dank und Liebe. Mein Lohn ist, dass ich dienen darf."

Wer die Diakonenausbildung abgeschlossen hatte, der ging eine lebenslängliche Bindung an das Mutterhaus Nazareth ein. In ihrem sogenannten Einsegnungsversprechen mussten die Diakone unter anderen diese Fragen beantworten:

""Seid ihr entschlossen, das Amt in der Gemeinde Jesus in Demut, Gehorsam und Treue zu führen?
Seid ihr auch bereit, allem Eigenwillen zu entsagen und dem Vorstand des Brüderhauses Nazareth, das euch nun als seine Söhne aufnimmt und euch mit Vater- und Mutterliebe bis an euer letztes Stündlein versorgen will, pünktlich und willig gehorsam zu sein, soweit es nicht wider Gottes Wort ist?"

Der Leiter des Hauses Nazareth, der Hausvater, entschied darüber, wohin die Diakone entsandt wurden. Es gab also keine freie Wahl des Arbeitsplatzes, keine Bewerbungsmöglichkeiten, sondern nur das Entsendungsprinzip. Doch die Eingriffe in das Leben der Diakone gingen noch weiter, berichtet Rainer Nussbicker:

"Es gab ein Verlobungsverbot – nicht ohne Genehmigung der Leitung; man durfte sich erst verloben und verheiraten, wenn man in einer Stellung war, die einen Familienstand finanzieren konnte, aber es ist sehr restriktiv damit umgegangen worden, bis hin zu Entlassungen aus Nazareth bei Menschen, die sich nicht daran gehalten haben."

Bei seiner Bewerbung musste der angehende Diakon schriftlich versichern, dass er nicht verlobt oder verheirat sei und "dass er keinerlei Annäherung zwecks späterer Verlobung versuchen werde, ohne vorher von dem Vorstande dazu Erlaubnis erhalten zu haben."
Ähnliches galt auch für die potentiellen Ehefrauen: Wer einen Diakon heiraten wollte, musste erst einen sogenannten Brautkurs absolvieren: seit Ende des 19. Jahrhunderts – bis in die 60er-Jahre - mussten die künftigen Bräute ein halbes Jahr unentgeltlich in der Hauswirtschaft eines Betheler Anstalthauses mitarbeiten.
Die Leitung des Hauses Nazareth entschied also nicht nur über den künftigen Arbeitsplatz der Brüder, sondern auch über die Ehefrau. Über potentielle Bräute wurden Erkundigungen eingezogen, und wenn diese dem Hausvater missfielen, wurde eine Verlobung untersagt.

"Man hat da schon mehr oder weniger heftige Empfehlungen ausgesprochen. Die Frau hat, wenn sie Hausmutter war, unentgeltlich als Hauswirtschaftsleiterin mitgearbeitet, und in der ehemaligen Verlobungsordnung Nazareths heißt es sogar: die Ehefrau, die einer sich nimmt, ist sein Glaubensbekenntnis, also soweit ist das moralisiert worden."

Das "System Nazareth" mit der hierarchisch-autoritären Struktur und der Abhängigkeit vom Hausvater übertrugen die Diakone auch auf die Einrichtungen, in denen sie tätig waren – wie zum Beispiel in Freistatt. Auch hier standen die Hausväter im Mittelpunkt, die wegen ihrer Allmacht bezeichnenderweise "Moorkönige" genannt wurden.

Christliche Nächstenliebe wurde von den Diakonen ganz im Sinne von August Hermann Francke so verstanden, dass man zuerst den Willen der Jugendlichen brechen müsse, um sie dann erziehen zu können.
"Die hatten den Eindruck, gegen den Widerstand der Jugendlichen etwas Gutes für die zu tun, das war ein harter Job, den die da gemacht haben, und die waren so der Meinung, wir setzen uns dafür ein, dass aus denen doch noch was wird, und das ist sehr mühsam, aber das ist die Aufgabe für den christlichen Einsatz für den Nächsten."

Der christliche Einsatz für den Nächsten geschah vor allem gewaltsam. Der Alltag war geprägt von einer fast militärischen Disziplin, drakonischen Strafen, demütigender Behandlung und körperlichen Züchtigungen durch die Erzieher.
Was die Theologen, die bis Ende der 60er-Jahre die evangelische Fürsorgeerziehung leiteten, als einen Weg sahen, die Seelen der Kinder und Jugendlichen vor dem Verderben zu retten, war nichts anderes als Schwarze Pädagogik. Um dem Willen Gottes folgen zu können, sollte der eigene Wille gebrochen werden. Mit fast allen Mitteln.

Wolfgang Rosenkötter steht im Treppenhaus und blickt hinaus – jenseits der Straße kilometerweit flaches Ackerland.

"Wenn man hier war: die Straße läuft hier direkt lang, und die Freiheit hat man immer gesehen und hat natürlich oft da gestanden und versucht zu überlegen, was kannst du hier machen, um wegzukommen."

"Es wurden alle möglichen Dinge geschluckt, um die Möglichkeit zu haben, ins Krankenhaus zu kommen und dann dort wegzulaufen. Ich selber habe auch mal Glassplitter geschluckt, da ist nichts passiert, aber andere haben das massiv gemacht und sind auch eingeliefert ins Krankenhaus. Das zeigt auch, in welcher Situation man war und wie man das empfunden hat, dass man alles dafür getan hat, um hier wegzukommen."

Wolfgang Rosenkötter hat seinem Vater nie verziehen, dass der ihn zur sogenannten freiwilligen Erziehungshilfe immer wieder ins Heim schickte, obwohl er von seinem Sohn berichtet bekam, wie schlimm es dort zuging. Auch mit seiner späteren Frau konnte Wolfgang Rosenkötter lange nicht über die Heimzeit sprechen.

"Ich habe es 40 Jahre lang verdrängt, (...) ich wollte mich damit auch nicht auseinandersetzen.
Hier in Freistatt wurde einem die Persönlichkeit genommen, man war einfach eine Unperson, und das hat lange gedauert, bis man das abgelegt hat, außerdem wurde man hier in Freistatt dazu erzogen, sich zu verstecken, zu lügen, nicht anderen gegenüber offen zu sein."

Seit drei Jahren stellt er sich nun dem Thema. Setzt sich mit seiner Vergangenheit auseinander und möchte, dass so etwas nie wieder passiert. Mittlerweile ist Wolfgang Rosenkötter eine Art Ombudsmann, ein Ansprechpartner für die Kinder- und Jugendlichen, die heute in Freistatt betreut werden. Aber die Zeiten haben sich radikal gewandelt. Heute würde er als Jugendlicher ganz gern in Freistatt leben, meint der 63-Jährige, der sich nun dafür einsetzt, dass die Moorburg erhalten bleibt: jenes Haus, in dem er und seine Leidensgenossen vor fast 50 Jahren die Hölle auf Erden erlebten.