"Man müsste die Arbeitszeiten streng kontrollieren"

Karl Brenke im Gespräch mit André Hattig · 08.11.2013
Selbst wenn die neue Regierung einen Mindestlohn gesetzlich festlegen würde, gäbe es für viele Betriebe und Branchen Möglichkeiten, den zu umgehen. Karl Brenke, Arbeitsmarktexperte beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, plädiert für eine Kontrollinstanz.
André Hatting: In keinem westlichen Land gibt es mehr Geringverdiener als in Deutschland: Über 24 Prozent sind es, das hat eine Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarktforschung ausgerechnet. Und diese Zahlen bestätigen die SPD. Die Sozialdemokraten möchten ja, dass alle mindestens 8,50 Euro die Stunde bekommen, egal, in welcher Branche sie arbeiten oder egal, wo sie wohnen. Die Union tut sich damit schwer: Passau ist eben nicht Pasewalk und Kellner nicht Koch. Die Koalitionäre in spe haben sich jetzt erst mal dazu durchgerungen, das Thema lieber erst ganz zum Schluss zu besprechen.

Wir sprechen jetzt darüber, und zwar über einen Aspekt, der bislang eher eine Nebenrolle gespielt hat: Wie soll der gesetzliche Mindestlohn eigentlich in der Praxis durchgesetzt werden? Darüber hat sich Karl Brenke Gedanken gemacht, er ist Arbeitsmarktexperte beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung.

Guten Morgen, Herr Brenke!

Karl Brenke: Guten Morgen!

Hatting: Mindestlohn auf dem Papier – das heißt ja nicht zwingend: Mindestlohn in der Praxis. Vor allem die kleinen Betriebe werden versuchen, ihn zu umgehen. Wie?

"Eine Million Überstunden"
Brenke: Na ja, es gibt mehrere Möglichkeiten. Eine Möglichkeit ist natürlich, dass man reguläre Beschäftigung beispielsweise in Minijobs umwandelt. Aber eine andere Möglichkeit – und das ist sehr viel einfacher – ist, dass man Überstunden nicht bezahlt. Wir haben jetzt schon das Phänomen, dass von denjenigen Personen, die Lohn unter 8,50 Euro verdienen, ungefähr eine Million Überstunden leistet, die nicht durch entsprechendes Geld oder durch Freizeit ausgeglichen werden. Das ist ein schwieriger Punkt.

Und ein zweiter Punkt ist: Wir haben ungefähr eine weitere Million von Personen, die überhaupt keine Arbeitszeitregelungen haben. Zum Teil hängt das damit zusammen, dass der Arbeitgeber natürlich versucht, Kosten zu sparen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch viele Jobs, wo das durchaus rational ist. Sehen Sie mal den Taxifahrer – der hat eine Umsatzbeteiligung, der hat keinen Stundenlohn. Oder der Zeitungsausträger – der wird bezahlt nach der Zahl der ausgetragenen Zeitungen und nicht nach der Zeit, die er an Aufwand für das Austragen der Zeitungen hat. Das heißt, wenn man hier Mindestlöhne einführt, gerade in diesen Bereichen, müsste man die Arbeitsverträge ändern und vor allen Dingen: Man müsste die Arbeitszeiten streng kontrollieren.

Hatting: Streng kontrollieren, also Rückkehr der Stechuhr?

Brenke: Na ja, man kann sich ja beispielsweise an den USA orientieren: Da sind die Unternehmen schon gehalten, die Arbeitszeiten der Beschäftigten genau zu dokumentieren. Wann hat jemand angefangen, wann ist wieder der Arbeitsschluss, gibt es irgendwelche Pausen, gibt es irgendwelche Sonderregelungen, Urlaub und Ähnliches, was alles zu berücksichtigen ist, und wie stellen sich denn die Löhne im Verhältnis dazu dar? Das ist also mit einem erheblichen Kontrollaufwand verbunden, und es gibt in den USA beispielsweise auch eine eigenständige Behörde dafür.

Hatting: Die müsste man in Deutschland erst mal gründen, das kostet Geld und Personal.

Brenke: Na ja, man hat sich noch gar keine Gedanken darüber gemacht: Wie soll denn die Kontrolle aussehen? Dass es eine Kontrolle geben muss, ist völlig offensichtlich. Wer könnte das machen? Könnte das eine bestehende Einrichtung machen, beispielsweise die Bundesagentur für Arbeit oder eine andere? Oder müsste man eben neue Arbeitsstellen und eine neue Institution erst einrichten?

Hatting: Sie haben, Herr Brenke, Ihren Schwerpunkt auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt. Wird es hier besonders schwierig werden, einen gesetzlichen Mindestlohn umzusetzen?

"Größeres Problem in Ostdeutschland"
Brenke: Na ja, die Schwierigkeiten haben wir natürlich erst mal in Gesamtdeutschland. In Ostdeutschland haben wir deshalb ein größeres Problem, weil wir hier einen sehr viel größeren Teil an Beschäftigten haben, die zu niedrigen Löhnen erwerbstätig sind. Etwa ein Sechstel aller Arbeitnehmer in Gesamtdeutschland arbeiten zu niedrigen Löhnen, in Ostdeutschland ist es fast ein Viertel, also eine viel höhere Anzahl, und hier ist der Aufwand bei der Kontrolle sehr viel stärker, und hier wird es natürlich öfter zu erwarten sein, dass versucht wird, bei den Arbeitszeiten zu mogeln. Man hat auch schon eine gewisse Evidenz, beispielsweise bei der Umsetzung der Mindestlohnregelungen in der Bauwirtschaft Mitte der 90er-Jahre in den neuen Bundesländern: Da konnte es dann eben schon mal passieren, dass zwar pro Stunde abgerechnet wurde, aber die Stunde dann eben 70 oder 80 Minuten dauerte.

Hatting: Sie haben, Herr Brenke, auch mal analysiert, dass jetzt die Forderung nach dem Mindestlohn im Prinzip die Folge der Schwächung der Gewerkschaften ist, weil die Gewerkschaften einfach in den Kleinbetrieben vor allem nicht mehr so stark sind. Können denn oder kann ein gesetzlicher Mindestlohn das kompensieren?

Brenke: Ja, das kann er eben nicht wahrscheinlich kompensieren. Er kann zwar Pflöcke einschlagen, was die Entlohnung anbelangt, aber das grundsätzliche Problem, dass die Gewerkschaften gerade im Dienstleistungssektor und gerade dort bei den kleinen Unternehmen viel zu wenig präsent sind und dass sie auch eben nicht die Möglichkeiten haben, zu kontrollieren. Insgesamt nur ein Drittel der Beschäftigten, die zu niedrigen Löhnen arbeiten, hat überhaupt einen Betriebsrat, der möglicherweise als Kontrollinstanz infrage kommen könnte. All das fällt weg.

Hatting: Eine aktuelle Studie des DIW zeigt sogar, dass der Mindestlohn die meisten Haushalte nicht unbedingt reicher macht, sondern vielleicht sogar ärmer. Wieso?

Brenke: Na ja, die Kollegen haben über Modellrechnungen versucht, das zu bestimmen, und natürlich ist es so, dass nicht jeder Niedriglohnempfänger in einem Haushalt lebt, der insgesamt ein geringes Einkommen hat, das gilt insbesondere für die alten Bundesländer: Es sind viele Geringverdiener eben in Haushalten, wo schon eine weitere Person ein höheres Einkommen hat, beispielsweise die vielen Minijobber in westdeutschen ländlichen Regionen, wo die Frau was hinzuverdient. Und es könnte sein, dass wir über den Mindestlohn auch gewisse Preiseffekte haben, gerade in konsumnahen Bereichen, und das könnte dann eben auch die Haushaltseinkommen belasten.

Hatting: Der gesetzliche Mindestlohn in Theorie und Praxis, darüber habe ich mit Karl Brenke gesprochen, er ist Arbeitsmarktexperte am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Ich bedanke mich, Herr Brenke!

Brenke: Bitte!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema