"Man lässt sich nicht mehr vom Kapital auf der Nase herumtanzen"

Ulrich Thielmann im Gespräch mit Birgit Kolkmann · 09.10.2008
Der Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann hat sich für eine globale Regulierung der Märkte ausgesprochen. Das Ziel müsse sein, dass der Markt zukünftig dem Wohle aller diene und nicht nur einigen wenigen, sagte der stellvertretende Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen.
Ulrich Thielemann: Guten Morgen!

Birgit Kolkmann: Herr Thielemann, haben die Finanzjongleure in den Banken uns Bürger und Steuerzahler alle in Geiselhaft genommen?

Thielemann: Das ist, glaube ich, mal eine Formulierung von mir gewesen. Ja, ich würde sagen, das muss man einfach so sehen. Man könnte ja sagen, okay, die Jungs und Mädels haben da gezockt, die haben sich gegenseitig abgezockt, so könnte man das formulieren, das Null-Summen-Spiel innerhalb der Anlegerschaft. Aber dieses Casino, diese Blase, die da produziert wurde, hängt eben auch an der Realwirtschaft, und zwar über das Kreditsystem. Und insofern könnte man sagen, ja, wir dürfen jetzt nicht die Banken pleite gehen lassen. Wir müssen da Riesenmengen investieren, wir müssen das Luftgeld zu realem Geld machen. Und insofern sind wir in Geiselhaft.

Kolkmann: Können Sie uns diese Verbindung zwischen dieser Scheinwelt, in der gezockt wird und der realen Wirtschaft, in der wir alle leben und unsere Steuern zahlen, noch mal genauer erklären. Wo ist die Verbindung genau?

Thielemann: Die Verbindung ist, soweit ich das verstehe, da, dass dieser Titel in den Büchern der Banken steht und die Banken notwendig sind für das ganz normale Funktionieren der Wirtschaft. Beispielsweise General Motors braucht jeden Monat einen Kredit von drei Milliarden Dollar, um Löhne usw. zu zahlen. Den zahlen die nachher gleich wieder zurück. Aber wenn das nicht mehr funktioniert, geht General Motors sofort pleite. Und das geht mit allen anderen Unternehmen ganz genauso. Das ist die Verbindung.

Kolkmann: Wenn man nun verhindern möchte, dass aus der Scheinwelt die negativen Konsequenzen auf die richtige Welt übergreifen, dass man so eine Finanzkrise nicht noch mal haben will, wie kann man das nun machen? Mit Kontrolle, mit Wächtern?

Thielemann: Kontrolle, würde ich sagen, ist der falsche Begriff, sondern mit Regulierung. Und zwar soll die Regulierung, die soll eigentlich verhindern, dass der Verantwortungsbewusste nicht der Dumme ist, sonst nichts. Das heißt, wir gehen aus von verantwortungsvollen Akteuren, von Akteuren, die nicht einfach nach der Karotte des Bonus laufen, hinterherlaufen, sondern die mit Sinn und Verstand ihr Geschäft betreiben, in welcher Branche übrigens auch immer. Unternehmer, die nicht alles daran setzen, dass die Gewinne so hoch wie möglich sind usw. Die werden aber im Wettbewerb ausgelesen, und darum brauchen wir Regulierung, die brauchen wir heute global. Insofern würde ich die beiden Seiten, wer ist verantwortlich, eben nicht gegeneinander ausspielen. Wir brauchen eben beides.

Kolkmann: Sie brauchen Unternehmer mit sauberer Weste. Wer sucht die denn nun wieder aus? Geht das über Selbstkontrolle oder brauchen wir für die Regulierung, die Sie ansprechen, einfach und schlicht Gesetze?

Thielemann: Wir brauchen eben beides. Wir brauchen eben Gesetze, Regulierung, Rahmenordnung und wir brauchen verantwortungsvolle Akteure. Allerdings hat bis vor Kurzem noch eine unglaubliche Marktgläubigkeit geherrscht, die gesagt hat, das ist alles nicht notwendig. Je mehr die Macht des Kapitals ist, desto besser für uns alle. Das ist im Moment grandios gescheitert. Aber es wird noch eine Zeit dauern, bis die Akteure tatsächlich das intern analysiert haben und gemerkt haben, dass die Eigeninteressenverfolgung nicht einfach so legitim ist, die unbedingte Eigeninteressenverfolgung.

Kolkmann: Sind wir eigentlich inzwischen an so einer Art historischer Wende angelangt, dass der Markt uns im Prinzip schon regiert hatte und jetzt die Macht wieder zurückgeht an die Regierungen?

Thielemann: Exakt, so würde ich das sehen. Noch bis vor Kurzem hat ja Greenspan, der ehemalige US-Zentralbankenchef, gesagt, ja, wer Präsident wird, ist eigentlich ganz egal. Die Kapitalmärkte regieren doch so die Welt. Ja, das tun sie oftmals tatsächlich. Aber jetzt gibt es eigentlich eine starke Gegenbewegung, man sieht, man lässt sich nicht mehr vom Kapital auf der Nase herumtanzen. Und das ist im Prinzip eine gute Entwicklung. Aber sie ist noch einigermaßen offen im Moment. Aber wir stehen meines Erachtens tatsächlich an einer Zeitenwende.

Kolkmann: Könnte diese Finanzkrise einen heilsamen Schock bewirken und eine positive Wirkung? Was wäre denn jetzt das Ziel, das anzusteuern wäre?

Thielemann: Das Ziel ist doch einfach, dass der Markt wieder dem Wohle aller dient und nicht dem Wohle weniger.

Kolkmann: Soziale Marktwirtschaft im besten Sinne?

Thielemann: Ja, genau das. Was denn sonst?

Kolkmann: Aber die müsste doch anders aussehen als die einmal im Rheinland ausgedachte, oder?

Thielemann: Ja, das kommt an. Ich meine, man sieht ja gar nicht so genau, was jetzt auch da zerstört wurde an sozialer Marktwirtschaft. Das war ja noch ein hoch lukratives Geschäft. Das heißt, wir gehen dahin, wo nicht alles ausgenutzt wird, was sich ausnutzen lässt und nutzen das dann eben aus. Und das hat jetzt zu großem Unbill geführt, das hat große Arbeitslosigkeit erzeugt, Verdichtung der Arbeit usw. Das ist ja nicht das Wohl aller. Das ist keine soziale Marktwirtschaft. Es sind natürlich immense Herausforderungen, aber wir müssen zunächst mal die Grundlage legen. Und die Grundlage ist die Abkehr von der Marktgläubigkeit, der Glaube, dass die Marktkräfte die Welt regieren sollen.

Kolkmann: Aber es kann doch keine Abkehr von der globalen Marktorientierung sein? Die haben wir ja nun mal. Kann es nur in die Richtung gehen, eine globale soziale Marktwirtschaft zu machen?

Thielemann: Genau. Weil die Verknüpfungen ja global sind, müssten sie auch global reguliert werden. Was allerdings wohl auch heißt, und das wird auch im Moment diskutiert, dass gewisse globalisierte Verknüpfungsebenen doch gelockert oder verringert werden, zum Beispiel die Abhängigkeit der Banken untereinander, dass eben die Kettenreaktionen ausgelöst werden. Das wird im Moment ja auch diskutiert, dass das vielleicht so weit getrieben wurde.

Kolkmann: Aber die nationale Kleinkrämerei und auch die Rettungsaktionen, die nationalen, sind dann vor diesem Hintergrund nicht so gut?

Thielemann: Das kommt drauf an, glaube ich, worum es geht. Jetzt die nationale Kleinkrämerei, wenn es darum geht, jetzt Milliarden da reinzuschießen, glaube ich, dass die nationalen Wege doch die richtigen sind. Aber es bedarf der Kombination, beispielsweise was Eigenmittelvorschriften anbelangt, was auch Vergütungsvorschriften anbelangt.

Ich bin ja der Meinung, dass die Anteile variabler Vergütung für Unternehmen überhaupt, aber insbesondere für Banken verringert werden sollten, was nur global koordiniert funktioniert, weil sonst das Kapital abzieht und dahin geht, wo eben die Riesenboni gezahlt werden und die Gier entfacht wird. Das ist ein Beispiel dafür, einer solchen Kombination, die notwendig ist. Und genau das hatte übrigens Angela Merkel in ihrer vorgestrigen Regierungserklärung auch betont.

Kolkmann: Vielen Dank, Ulrich Thielemann, der Vizedirektor des Instituts für Wirtschaftsethik an der Universität Sankt Gallen im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Danke dafür.

Thielemann: Vielen Dank auch.