"Man ist mit einer anderen Spielanleitung ins Leben gegangen als das Spiel, das dann gespielt wurde"

Ingo Schulze im Gespräch mit Katrin Heise |
Nach Auffassung des Schriftstellers Ingo Schulze sei der Westen Deutschlands von einem "unglaublichen Konkurrenzkampf" geprägt. Vor allem bemerke er "dieses unglaubliche Streben nach Effektivität in einzelnen Bereichen, die im Ganzen zu einer Uneffektivität führen", sagte Schulze.
Katrin Heise: Er gilt als der Chronist der Wende, Ingo Schulze. In seinen Romanen, zum Beispiel "Neue Leben" oder dem neuesten Werk "Adam und Evelyn", beobachtet er den Alltagsmenschen, dich und mich sozusagen, auf seiner Suche nach Orientierung nach dem Umbruch 1989/90. Zahlreiche Auszeichnungen hat Ingo Schulze bekommen für seine Arbeiten. Herr Schulze, ich grüße Sie recht herzlich.

Ingo Schulze: Guten Tag.

Heise: Sie sind nach dem Mauerbau 1962 in Dresden geboren. Hatte der 13. August so als Tag eine Bedeutung für Sie?

Schulze: Ach doch, das war schon immer im Bewusstsein drin. Das Schlimme ist, dass eigentlich mit dem 13. August, mit der Mauer war eigentlich jedes Sprechen über die DDR sinnlos geworden. Also bevor man sich ernsthaft mit der DDR beschäftige, musste eigentlich diese Mauer weg. Und vielleicht war wirklich das Schlimmste an der DDR, dass sie eben keine Wahlmöglichkeiten gelassen hat. Man hatte ja nicht einmal die Chance, sich für sie zu entscheiden.

Heise: Haben Sie das Gefühl, dass vielleicht dieser 13. August für Ihre Eltern noch etwas anderes war als für Sie?

Schulze: Natürlich, da hat es dann ganz konkret, glaube ich, Lebenspläne durchkreuzt.

Heise: Haben Sie darüber gesprochen?

Schulze: Davon habe ich gehört – ja, ja, doch.

Heise: Das heißt, Ihre Eltern haben da auch nicht viel darüber geredet.

Schulze: Na ja, das war halt damit erst einmal erledigt. Da heißt es jetzt, nicht groß darüber nachzudenken, aber für sie wie auch für mich stand das natürlich immer, dass man irgendwann vielleicht mal in den Westen geht. Man Vater hat das dann 67 geschafft, sozusagen illegaler Republikflüchtling zu werden, wir sind geblieben. Also die Ehe war dann davor schon geschieden. Aber das war schon immer ein Thema, natürlich. Es ist uns auch mal vorgeworfen worden, wir würden eine Republikflucht planen, dem war gar nicht so, aber der Vorwurf stand dann.

Heise: Also die Mauer auch so hier sozusagen zwischen die Familie gefahren. Kommen wir zu den Tagen im August 1989, als die ersten DDR-Bürger über die ungarische Grenze flüchteten. Das ist das Thema in Ihrem letzte Woche erschienenen Roman "Adam und Evelyn". Sie waren damals Dramaturg am Landestheater Altenburg. Was machten dieses Tage und was dann geschah, was machte das mit Ihrem Wertesystem?

Schulze: Was es damit machte, das habe ich eigentlich erst so nach und nach dann begriffen. Ich konnte da lange auch gar nicht drüber reden. Ich bin damals dann vom Theater zur Zeitung gegangen, wir haben eine Zeitung gegründet, und dann merkte ich halt, ich habe die Sphäre der Kunst, der Literatur, des Theaters, des Films, was uns eigentlich 24 Stunden am Tag beschäftigte, verlassen. Und bei der Zeitung war es dann gar nicht so sehr der Journalismus als eigentlich der tägliche Überlebenskampf. Also plötzlich ging es sehr um das Geld, und dass wir da durch kommen. Es ist halt ein anderes Bezugssystem geworden. Ich weiß nicht, ob man selbst sich so sehr geändert hat, da war viel Lustvolles dabei. Ich habe den Fall der Mauer als etwas sehr Lustvolles erlebt und auch, was danach so kam. Die Schwierigkeit ist, dass die Kriterien, die dann galten, mit denen lässt sich also schwer zurückblicken. Also man ist mit einer anderen Spielanleitung ins Leben gegangen als das Spiel, das dann plötzlich gespielt wurde.

Heise: Wie würden Sie sagen, wie lange haben Sie gebraucht, um die neue Spielanleitung zu beherrschen?

Schulze: Wir haben sie beherrscht, ohne darüber nachzudenken. Wir wussten, wir sind jetzt, hoppla, aus Versehen Unternehmer geworden. Und dann war das ganz einfach, wir mussten die Zeitung verkauft haben, bevor wir die Druckrechnung bezahlt haben. Aber so lange so etwas gut geht, ist das ja ganz schön. Das ist ja auch etwas irgendwo, womit man sich arrangieren und leben kann. Womit ich halt Probleme habe, das ist halt dieser unglaubliche Konkurrenzkampf und dieses unglaubliche Streben nach Effektivität in so einzelnen Bereichen, die im Ganzen dann zu einer Uneffektivität führen.

Heise: Das erinnert mich jetzt an eine andere Hauptfigur eines anderen Romans von Ihnen, nämlich von an Enrico Türmer, die Hauptfigur in "Neue Leben". Er hat ja wie Sie der Theaterkunst den Rücken gekehrt, er hat dann wie Sie in einer Zeitung geschrieben, er hat allerdings keine gegründet, ihn packt dann aber der Aufstiegswille. Da ist ja genau das, was sie jetzt eben angesprochen haben. Sie dagegen sind 1993 für ein halbes Jahr nach Petersburg gegangen. Brauchten Sie da erst mal Abstand, um sich neu zu orientieren, also quasi um auch diesem Aufstiegswillen zu entkommen?

Schulze: Es war also eher mehr, um den Sorgen ums Geld zu entkommen. Also weil ich bin da jeden Tag mit Herzschmerzen in die Zeitung gegangen. Es wäre schrecklich für mich gewesen, die Leute zu entlassen, weil wir plötzlich Pleite gehen. Das lebt sich halt nicht gut, wenn man solche Schulden auf dem Kopf hat. Gott sei Dank ist das alles ganz gut ausgegangen. In St. Petersburg habe ich schon ein bisschen aufgeatmet. Da habe ich zwar auch eine Zeitung gegründet, aber da gab es ein bisschen Distanz zu dieser Schlinge in Altenburg. Da habe ich erstmal nach 89 Zeit gehabt, und so langsam sickerte dann in mir ein, was eigentlich da passiert ist.

Heise: Sie haben jetzt von mehreren Versuchen geredet und auch von Angst des Scheiterns. Da kommt dann ja immer noch dazu, Sie waren damals eben 27, dann irgendwann Anfang 30, Ihre Eltern, ich meine jetzt nicht konkret Ihre Eltern, sondern die Generation Ihrer Eltern war zu Wendezeiten schon viel älter. Haben Sie das immer wieder so gespürt, also dieser Generationenunterschied, da konnte der dann also nicht als Chance begriffen werden, die Wende, der Umbruch?

Schulze: Also generell war es natürlich für Leute einfacher, die so wie ich, also ich war 27, wie gesagt, da hatte man die Ausbildung fertig, man hatte auch eine Stelle meistens, und man war der Neue, der Unbelastete. Das war schon eine große Möglichkeit. Für ältere Leute, und da muss ich sagen, da zählen also solche dazu, die so alt sind, wie ich jetzt bin. Also mit 45, 46 war es dann schon schwierig, wenn man dann keine Arbeit hatte und wollte nicht von seinem Häuschen weggehen und von seinen Freunden oder Familie, beziehungsweise hätte etwas ganz anderes lernen müssen. Da gab es noch eine Reihe Leute, die haben dann nie wieder eine Arbeit gefunden. Aber beispielsweise meine Mutter, die brauchte dann, um bei der Bank ein bisschen Geld zu kriegen, die westliche Unterstützung, da mussten dann zwei Westfreundinnen bürgen, sonst hätte sie sich auch nicht selbständig machen können. Das Problem war ja, jeder durfte ein Haus kaufen, jeder durfte eine Fabrik kaufen, bloß es hatte natürlich niemand Geld im Osten.

Heise: Herr Schulze, Sie gelten durch Ihre Bücher, so zum Beispiel "33 Augenblicke des Glücks" oder "Simple Storys" oder "Neue Leben" eben als Chronist der Wende. Sie beschreiben die ganz normalen Menschen, das, was Sie eben auch gerade geschildert haben, was 1989/90 mit denen gemacht hat. Sie beobachten und bewerten aber nicht, so auch in ihren gerade letzte Woche erschienenen Roman "Adam und Evely" erleben wir den Umbruch auch wieder aus ganz persönlicher, aus ganz privater Sicht. Das bringt Ihnen aber auch Kritik ein. Zum Beispiel habe ich in der "Frankfurter Rundschau" gelesen von einem mollig warmen Osten und dem kalten freien Westen. Was erwidern Sie da?

Schulze: Einfach noch einmal ins Buch gucken. Mir fallen sofort Kapitel ein, die man dagegen halten könnte, um das ad absurdum zu führen. Es geht eigentlich um das Aufeinanderprallen von zwei wirklich ganz verschiedenen Welten und die sich, glaube ich, gegenseitig erhellen. Und mein Problem ist, wie gesagt, gar nicht so dieser verschwundene Osten, sondern was war das für ein Westen, in den man damals ging, und wie hat sich eigentlich auch dieser Westen verändert. Also eigentlich ist eher das Verschwinden des Westens mein Thema.

Heise: Die Schauspielerin Katharina Thalbach hat neulich in einem Interview den Satz gesagt, ich bin froh bei dem Experiment DDR dabei gewesen zu sein. Dieser Satz hat ziemlich Empörung ausgelöst. Lothar de Maizière findet, so etwas bagatellisiere die DDR. Was denken Sie über diesen Satz?

Schulze: Irgendwo verstehe ich, glaube ich, was sie damit meint, aber es ist natürlich nie schön, wenn man als Mensch irgendwie Teil eines Experiments ist. Ich glaube, man kann keinen Vorteil haben, ohne irgendeinen Nachteil zu bekommen. Für mich ist es einerseits wirklich ein Vorteil, das kennen gelernt zu haben. Ich bin andererseits sehr froh, dass es vorbei ist, und hoffe auch, das Meinige dazu beigetragen zu haben. Aber man ist halt anders aufgewachsen, man hat andere Dinge noch mitbekommen, dadurch hat man eine andere Weltsicht. Das halte ich für ganz natürlich.

Heise: Eine aktuelle Meinungsumfrage des Forschungsinstituts forsa für die Zeitschrift P. M. History zeigt, zwei von drei Befragten über 18 Jahren hat immer noch sozusagen die Mauer im Kopf. Es überwiegt das Trennende zwischen Ost und West. Erschreckt Sie so ein Ergebnis heutzutage?

Schulze: Na ja, das müsste man dann schon immer nochmals konkreter sehen. Also es gibt, glaube ich, von West nach Ost und von Ost nach West schon so einen Chauvinismus, aber man muss natürlich auch sehen, es gibt bis heute unterschiedliche Bezahlungen, und es gibt bis heute noch so eine Art staatlich geregelte Unterschiede. Aber wenn man das mal im Weltmaßstab sieht, ist das ja doch kein Problem. Es gibt keine Separationsbewegungen. Für mich ist es schon dieser Wechsel und dieses deutsche Ost-West-Modell, an dem man sehr viel auch sehen kann von der ganzen Welt, denn ein Großteil der heutigen Weltbevölkerung ist ja nicht im Westen geboren, sondern kommt von irgend so einem sozialistischen Hintergrund und bewegt sich darauf zu. Das haben wir nun im Osten ganz schnell erlebt, und das ist eine Erfahrung, die uns vielleicht auch sehr frei und sehr offen macht für das, was heute in der Welt passiert.

Heise: Dabei sind wir dann auch wieder bei der Veränderung des Westens. Ingo Schulze, Autor der Romane "Neue Leben" und "Adam und Evelyn" gilt als der Chronist der Wende. Herr Schulze, vielen Dank für dieses Gespräch.

Schulze: Sehr gern.
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