"Man hört den Opfern viel zu wenig zu"

Monika Hertwig im Gespräch mit Katrin Heise · 27.08.2008
Monika Hertwig, Tochter des ehemaligen KZ-Kommandanten Amon Göth, hat die gesellschaftliche Fixierung auf NS-Tätergeschichten beklagt. Man höre den Opfern viel zu wenig zu, sagte Hertwig. Anlass ist die Ausstrahlung der Fernsehdokumentation "Der Mördervater" auf Arte, die Hertwigs Begegnung mit Helen Jonas-Rosenzweig, dem früheren jüdischen Dienstmädchen ihres Vaters schildert.
Katrin Heise: Amon Göth war Kommandant des KZ Płaszów, nahe Krakau lag das. Er galt als Schlächter und als unberechenbar. In seiner Villa auf dem Lagergelände führte er mit seiner Geliebten ein Leben in Saus und Braus. Vom Balkon aus erschoss er Häftlinge, während die junge Jüdin Helen, die als Dienstmädchen für ihn arbeiten musste, um ihr Leben fürchtete. Göth wurde 1946 hingerichtet. Seine Tochter Monika hat er nie gesehen. Sie erfuhr erst sehr spät von den Taten ihres Vaters, mit diesem Erbe umzugehen, bestimmt seitdem ihr Leben. Sie trifft sich zum Beispiel mit KZ-Überlebenden. Der vielfach ausgezeichnete Filmemacher James Moll, der mit Steven Spielberg zusammen Zeitzeugenberichte aufnahm, vermittelte ein Treffen zwischen Monika Hertwig, der Tochter, und Helen Jonas-Rosenzweig, dem ehemaligen Dienstmädchen. Die Dokumentation "Der Mördervater" läuft heute Abend auf Arte. Ich begrüße jetzt Monika Hertwig. Frau Hertwig, Sie haben sich vor zwei Jahren mit Helen Jonas-Rosenzweig im ehemaligen Lager, ja sogar in der Villa getroffen. Was für einer Frau sind Sie da begegnet?

Monika Hertwig: Einer ganz bezaubernden Frau. Ich war völlig überwältigt, als ich Helen kennengelernt habe. Ich kannte sie aus dem Fernsehen. Sie ist einmal kurz vorgestellt worden nach dem Film "Schindlers Liste" und sie hat sich auch überhaupt nicht verändert. Ja natürlich, sie war ja sehr gedrückt.

Heise: Sie sagen im Film einmal, vor Ihrer Begegnung, man begleitet Sie im Film von den Vorbereitungen bis hin zur Begegnung, vor Ihrer Begegnung sagen Sie einmal, dass Sie versuchen wollen herauszufinden, wie ein junges Mädchen, denn die Helen war damals 14, 15 Jahre alt, wie ein junges Mädchen eine solch hoffnungslose, unglaubliche Situation überstehen kann. Haben Sie eine Antwort gefunden?

Hertwig: Nein. Ich habe für überhaupt keinen Überlebenden eine Antwort gefunden, weil alles, was ich gefunden habe, das ist mit einer Sprache nicht zu beschreiben. Ich glaube manchmal, um das Grauen, dass man dort damals erlebt hat, um das beschreiben zu müssen, muss man eine neue Sprache erfinden. Mit unseren Worten lässt sich das nicht beschreiben.

Heise: Sie selber sind 1945 geboren, haben Ihren Vater nie kennengelernt, er Sie auch nicht. Er ist 1946 hingerichtet worden. Sie haben auch vor dieser Reise nach Krakau gewusst, was Ihr Vater getan hat. Aber lange Zeit in Ihrer Kindheit haben Sie nichts gewusst über Ihren Vater. Erzählen Sie uns doch mal bitte, was man Ihnen eigentlich gesagt hat und wie Sie seine wahre Geschichte erfahren haben.

Hertwig: Ich war, glaube ich, elf, noch nicht ganz elf. Und meine Mutter war mal sehr erbost über mich und schrie völlig außer sich. Du, hat sie geschrien, bist wie dein Vater und eines Tages wirst du auch so enden wie dein Vater. Und ich hatte immer schon so eine Ahnung, dass irgendetwas nicht stimmt. Und dann habe ich natürlich nichts gesagt, sondern ich habe dann meine Großmutter gefragt und bekam aber keine Antwort. Nun ja, gut, ich war auch kein einfaches Kind. Ich habe eben dann zu meiner Großmutter gesagt, ich habe ein Recht zu wissen, was mit meinem Vater ist und du wirst mir das sagen. Und sie war mir ja irgendwie nicht gewachsen und dem Druck hat sie nicht standgehalten. Und dann hat sie mir erzählt, dass man meinen Vater aufgehängt hatte, weil er dabei gewesen ist, als man die Juden umgebracht hat. Und das hat mich überhaupt nicht erschüttert. Ich fand das auch gar nicht schlimm. Ich habe nur gesagt, ja, was ist dabei, wenn er Juden umbringt, ich meine, sie sind doch alle umgebracht worden, die Deutschen, die Russen, die Engländer und niemanden hat man deswegen aufgehängt. Warum hängt man denn Menschen auf, wenn sie Juden umbringen? Und dann hat sie mir ganz vorsichtig beigebracht, dass in diesem Krieg ein Völkermord stattgefunden hat. Und dann habe ich natürlich erst mal darüber nachdenken müssen als Kind. Ich habe auch nicht so den Unterschied erkannt zwischen Krieg und Völkermord, weil für mich war alles Mord. Durch das "Tagebuch der Anne Frank" kam ich dann dahinter, was sich so eigentlich abgespielt hat. Und ich habe aber natürlich auch niemanden gehabt, mit dem ich drüber reden konnte. Und dann habe ich irgendwann mal, bin ich in eine Buchhandlung gegangen und habe gesagt, ich möchte gerne ein Buch haben über die Juden. Und dann hat der Herr in dem Buchladen gesagt, liebes Kind, bist du krank oder was ist mit dir. Mach, dass du wieder nach Hause kommst.

Heise: Wollte sich keiner mit beschäftigen?

Hertwig: Natürlich nicht, weder die Lehrer, die ich dann gefragt habe, noch der Pfarrer. Von den Juden hat man halt nichts gehört. Niemand hat dir eine Antwort gegeben.
Heise: Sie waren ziemlich alleine, um überhaupt etwas über den Holocaust zu erfahren. Sie haben es sich dann angelesen, wie Sie beschreiben, war das auch sehr mühsam. Sie mussten da immer mit sich selbst zurechtkommen, mit dem, was Sie dann erfahren. Über Ihren Vater, über Amon Göth, haben Sie aber in der ganzen Literatur auch gar nichts gefunden. Über den waren Sie weiter im Unklaren?

Hertwig: Ich habe einmal was bei Gerald Reitlinger gefunden. Da gab es zwei, drei Sätze über meinen Vater. Denn er ist ja mit dem Kommandanten Höß von Auschwitz ausgeliefert worden nach Krakau. Aber mehr wusste ich nicht. Und die Gespräche waren ja immer die, es war ein Arbeitslager, es war kein Vernichtungslager. Es gab keine Kinder dort, es gab keine alten Menschen, es gab keine kranken Menschen, es war ein Arbeitslager. Und wenn man das dann hinterfragt hat, weil es ja immer wieder Widersprüche gab, dann ist meine Mutter einmal total ausgerastet und, obwohl sie nun wirklich kein Schlägertyp gewesen ist, sie hat nie zugeschlagen sonst, schlug mich grün und blau und schrie immer wieder und wieder, es war kein Vernichtungslager, es war ein Arbeitslager. Und ja schließlich habe ich das dann auch geglaubt und habe eben dann auch gedacht, ja, na gut, es war vielleicht kein Sanatorium, aber zumindest hat man dort niemanden vergast und vielleicht war es dann doch nicht so schlimm.

Heise: Sie haben Entschuldigungen für Ihren Vater gesucht?

Hertwig: Ja, natürlich hat man auch Entschuldigungen gesucht, wissen Sie, durch die Todesstrafe. Ich musste mir dann als Kind diesen Film anschauen "Lasst mich leben". Und da ist ja die Todesstrafe und die Frau wird ja dann auf den elektrischen Stuhl geführt. Und ich guckte meine Mutter so an und wusste schon, was in der wieder vor sich geht. Und was hätte ich denn da noch sagen wollen? Ich wusste ja, dass sie, nachdem man ihn gehängt hatte, schneeweiß geworden ist, ihre Haare sind weiß geworden, das wusste ich von meiner Großmutter. Und diese Todesstrafe, die hat sich unheimlich auf mich ausgewirkt. Für mich war dann zum Schluss es auch ein Verbrechen, einen Verbrecher hinzurichten, weil ich konnte mich mit der Todesstrafe nicht abfinden.

Heise: Diesen Zwiespalt, in dem Sie jahrelang, jahrzehntelang gesteckt haben, der hat sich noch mal verändert, als sie den Film "Schindlers Liste" gesehen haben. Sie sagen, in diesem Dokumentarfilm, der heute Abend zu sehen ist, Sie hassten Spielberg für seinen Film "Schindlers Liste", denn er habe Ihnen die Wahrheit, die volle Wahrheit gesagt, die Sie vielleicht gar nicht so richtig wissen wollten, so sagen Sie es im Film. Wie haben Sie denn nach "Schindlers Liste" weitergemacht?

Hertwig: Ja, vor allen Dingen habe ich das nach dem Film auch mit den Kindern nicht geglaubt. Meine Mutter hat immer wieder geschworen, Stein und Bein, es gab dort keine Kinder. Und das konnte ich dem Spielberg nicht verzeihen. Ich habe mir gedacht, du Teufel, du, warum bringst du noch Kinder mit ins Spiel. Und habe dann aber von meiner Mutter, die ja auch Übersetzerin gewesen ist und auch Kurzgeschichten geschrieben hat, eine Geschichte gefunden über den Abtransport der Kinder. Und das waren die Kinder von Płaszów, obwohl es in der Geschichte nicht drinnen steht, aber das waren die Płaszów-Kinder. Und sie schrieb damals, sie saßen auf dem Lastwagen und sie schauten uns an wie Erwachsene und sie wussten genau, wo sie hintransportiert werden. Und sie wussten auch genau, was ihnen bevorsteht. Und da habe ich irgendwie einen völligen Nervenzusammenbruch bekommen und konnte dann mich eine Zeit lang auch schlecht bewegen. Ich kam irgendwie nicht mehr hoch. Und irgendein Arzt hat dann gesagt: Wissen Sie, Sie sind ja gesund, aber Sie müssen irgendeinen Schock erlitten haben. Wenn Sie mir nicht erzählen, was Ihnen passiert ist, dann kann ich Ihnen nicht helfen. Und dann habe ich ihm das eben alles erzählt. Und dann sagte er nur: Sie können es nicht verstehen, aber es ist nun mal passiert und Sie müssen sich eben auch damit abfinden. Sie müssen das so nehmen, wie es gewesen ist. Und das habe ich dann eben versucht. Und langsam ging das Leben ja auch wieder weiter. Aber das mit den Kindern, das habe ich bis heute nicht verkraftet.

Heise: Sie haben dann nach dem Film "Schindlers Liste" und nach einer Dokumentation, die Sie im Fernsehen über die Überlebenden gesehen haben, haben Sie dann eben diese ehemalige Hausangestellte versucht zu finden. Über diese Begegnung berichtet der Film. Was haben Sie erwartet da zu finden, in dieser Begegnung zu finden?

Hertwig: Familie. Das ist so komisch, aber für mich waren diese Leute, wissen Sie, die ganzen Leute im Lager und was ich von denen so gehört hatte, meine Mutter war ja keine Antisemitin, für mich war das als Kind Familie. Die Familie, den Juden, denen es da eben besser gegangen ist als woanders. Und ich habe die einfach geliebt, diese Menschen, ich kann es nicht anders sagen.

Heise: Heute Abend zeigt Arte den Dokumentarfilm "Der Mördervater" über eine Begegnung zwischen Monika Hertwig, der Tochter des KZ-Kommandanten Amon Göth, und seinem ehemaligen jüdischen Hausmädchen Helen Jonas-Rosenzweig. Ich spreche hier im "Radiofeuilleton" mit Monika Hertwig. Frau Hertwig, man sieht alles in diesem Film. Man sieht, wie Sie beide, wie Helen und Sie, wie Sie sich entschließen sich zu treffen, wie Sie beide nach Polen, nach Krakau reisen, wie Sie Helen anrufen, um ein Treffen zu vereinbaren und wie Ihnen bei diesem Telefonat, das erste Mal ihre Stimme zu hören, wie Ihnen die Stimme versagt, wie Sie nicht mehr weitersprechen können. Gab es Momente, in denen Sie das Ganze abbrechen wollten?

Hertwig: Ja, bei dem Telefongespräch wollte ich dann abbrechen. Diese ganze Lebensgeschichte von Helen, das ist mir alles so, das konnte ich mir plötzlich alles verinnerlichen. Es war ja auch so, wissen Sie, nach dem Telefongespräch, da musste ich auch zu ihr hinfahren. Und die Angst, ihr jetzt gegenüberzustehen und auch ihrer Tochter Vivien, die war dann schon sehr groß. Aber irgendwie, dachte ich mir dann, irgendwann muss man hingehen und sie muss wenigstens wissen, dass es mir leidtut, dass es eben nicht so ist, dass man gleichgültig dem gegenübersteht, dass man damit nichts zu tun haben will. Sondern sie soll einfach wissen, dass ich das weiß und dass sie mir sehr am Herzen liegt.

Heise: Der Film, der heute Abend gezeigt wird, ist ein Film Ihrer Begegnung eben. Aber Sie haben mal gesagt, dass Sie nicht wirklich zufrieden sind mit dem Film. Was stört Sie an dem Film?

Hertwig: Mich stört der deutsche Titel. Der Titel, der eigentliche Titel ist "Inheritance" (Erbschaft). Und es ist eine Erbschaft. Und mit dem Titel stellt man mich in den Mittelpunkt. Ich stehe aber nicht im Mittelpunkt. Im Mittelpunkt werden für mich immer nur die Opfer stehen. Ich bin kein Opfer, und vor allen Dingen bin ich kein jüdisches Opfer. Ich bin überhaupt kein Opfer. Ich bin einfach jemand, der etwas tun möchte, damit alle Menschen unter einem Himmel leben können, und zwar in Frieden.

Heise: Hört man den Opfern inzwischen zu wenig zu?

Hertwig: Ja, man hört den Opfern viel zu wenig zu. Und ich werde versuchen, in meinem Leben alles, was mir möglich ist, zu tun, um gegen diesen perfiden, widerlichen Antisemitismus zu kämpfen.

Heise: Monika Hertwig, ich danke Ihnen für das Gespräch. Der Film "Der Mördervater" über die Begegnung zwischen Monika Hertwig und Helen Jonas-Rosenzweig läuft heute Abend auf Arte um 21.00 Uhr. Vielen Dank, Frau Hertwig!

Hertwig: Bitte schön!