Man hätte mehr auf ihn hören sollen

Von Evelyn Bartolmai · 14.06.2013
Das heutige Israel ist wohl nicht der Staat, von dem Yoram Kaniuk einst träumte. So hörte er nicht auf, die Missstände immer wieder anzuprangern. Soziale Ungerechtigkeiten und Machtansprüche - vor allem auch des religiösen Establishments – hielt er für unvereinbar mit Demokratie und Gleichheit.
Nichts erreicht zu haben mit seiner Literatur, beklagte Yoram Kaniuk noch vor wenigen Wochen in einem Gespräch mit einer Journalistin. Und es war durchaus nicht nur die Koketterie eines verkannten Propheten. Denn Kaniuk war beides: ein Prophet und auch ein wenig verkannt. Besonders wenn es darum ging, auch tatsächlich in den Spiegel zu schauen, den der Schriftsteller immer wieder hinhielt.

Literarisch gestaltet hat Kaniuk sein ganzes Leben lang, wofür er selbst in jungen Jahren mit der Waffe in der Hand gekämpft hatte: einen jüdischen Staat als die Erfüllung des jahrhundertealten Traumes, wie er es im Vorwort seines großartigen Dokumentarromans "Und das Meer teilte sich" beschreibt:

"Der Staat Israel entstand nicht am 15. Mai 1948, als man ihn im Tel-Aviv-Museum offiziell ausrief. Er wurde bereits ein knappes Jahr zuvor geboren, am 18. Juli 1947, als ein verwundetes, schwer angeschlagenes amerikanisches Schiff namens President Warfield, umbenannt in Exodus, in den Hafen von Haifa einlief, während aus seinen Lautsprechern die Klänge der HaTikwa drangen."

Die Helden dieses Romans sind keine fiktiven literarischen Figuren, sondern es sind die Männer und Frauen, die oft mit nicht mehr als nur dem nackten Leben dem Völkermord in Europa entkommen waren. Die Überfahrt nach Erez Israel auf der schrottreifen Exodus unter dem Kommando des legendären Yossi Harel wurde zum Symbol und zum Mythos für die Erneuerung des jüdischen Volkes.

Man feierte Yoram Kaniuk in Israel, und man ehrte ihn mit allen Preisen, die es an einen Schriftsteller zu verleihen gab. Aber man schwieg, sah weg und empörte sich gar, wenn Kaniuk die Stimme erhob gegen soziale Ungerechtigkeiten einer immer neoliberaler agierenden Regierung und gegen Machtansprüche vor allem auch des religiösen Establishments, die er für unvereinbar mit Demokratie und Gleichheit hielt.

Kuniak ist religionslos
Denn das Israel von heute ist nicht der Staat, von dem Kaniuk und all die Mitstreiter seiner Generation einst geträumt haben. Dies immer wieder öffentlich anzuprangern, wurde Yoram Kaniuk zwar müde, ließ aber dennoch nicht davon ab. Und schreckte auch nicht davor zurück, mit Worten wie "israelische Kristallnacht" das Auftreten extremistischer Siedler in den besetzten Gebieten zu beschreiben. Und die Rigorosität, mit der Kaniuk sich vor Gericht das Recht erstritten hatte, fortan als "religionslos" in amtlichen Registern zu gelten, hat ihm vielleicht im Ausland, aber in Israel ganz und gar keine Sympathien eingebracht.

Man hätte zu Lebzeiten mehr auf seine Stimme hören sollen, bedauerte die Tageszeitung Haaretz in einem redaktionellen Nachruf und hofft zugleich, dass seine Kämpfe für mehr Gerechtigkeit nicht dem Vergessen anheim fallen mögen. Über den Satz von Präsident Shimon Perez, der sich in einem Brief an die Hinterbliebenen auf die Hoffnung beschränkte, dass die Bücher Yoram Kaniuks das Volk noch lange begleiten werden, hätte sich der Schriftsteller wohl wegen dieser verkürzten Perspektive geärgert.

Doch über die gewiss sehr nett gemeinte Erklärung in der wöchentlichen Kabinettssitzung am Montag, in der Mininisterpräsident Netanjahu betonte, zwar oft von Kaniuk scharf kritisiert worden zu sein, ihm aber dennoch bescheinigen zu müssen, dass er auch ein sehr talentierter Schriftsteller mit beeindruckenden literarischen Fähigkeiten war, hätte Yoram Kaniuk wahrscheinlich nur schallend gelacht.

Vielleicht ist es unfair und unmöglich ja sowieso, einen verstorbenen Schriftsteller nach seinem wichtigsten Werk zu befragen – in meiner persönlichen Hitliste der Bücher von Yoram Kaniuk rangiert "Und das Meer teilte sich" unangefochten auf dem ersten Platz. Denn "es ist ein Buch, das beginnt wie ein Epos und endet wie ein Flüstern, ein Klagelied, ein Gebet", wie es der Autor selbst beschreibt.

"(…) die Exodus kam nicht allein nach Israel. (…) Die Exodus wurde begleitet von Zehntausenden blauer Kerzen, von zweihundert Verwundeten und den 2437 jüdischen Flüchtlingen, die auf ihrem Weg nach Erez Israel auf dem Meer ihr Grab fanden. Sie wurde begleitet von den 700 unglücklichen Juden der Kladovo, deren Weg an der zugefrorenen Donau endete, ehe man sie nackt durch die Kälte trieb und zwang, sich selbst eine riesige Grube auszuheben, in die sie stürzten, erschossen. Die Exodus wurde von der Struma, der Mafkura und der Salvador begleitet, die sämtlich untergingen. Sie wurde von den über Hunderttausend jüdischen Flüchtlingen begleitet, die es entgegen allen Erwartungen nach Erez Israel schafften. Sie waren die Opfer, sie waren die von Narben übersäten neuen Israelis, sie sind der Staat der Juden."