Fredrik Sjöberg: „Mama ist verrückt und Papa ist betrunken“

Von beglückenden und tödlichen Zufällen

05:48 Minuten
Buchcover zu Fredrik Sjöberg "Mama ist verrückt und Papa ist betrunken"
© Hanser Verlag

Fredrik Sjöberg

Aus dem Schwedischen von Paul Berf

Mama ist verrückt und Papa ist betrunkenCarl Hanser Verlag, München 2022

189 Seiten

24,00 Euro

Von Carsten Hueck · 25.06.2022
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Recherchen zu einem Kunstwerk führen den Autoren Fredrik Sjöberg auf die Spur eines vergessenen Malers, in die Tiefen einer Familiengeschichte und in den magischen Bannkreis des Zufalls. Literatur als Ticket für eine Reise voller Überraschungen.
Er ist ein Meister der Nebensächlichkeiten, der kleinen Dinge, die durch seinen Blick Bedeutung und Schönheit erlangen: der schwedische Journalist und Schriftsteller Fredrik Sjöberg. Von Haus aus Biologe, hat er über Fliegen, Regenwürmer und Mammutbäume geschrieben, aber auch über vergessene Forscher und Künstler.
In seinem neuen Buch, das den Untertitel „Ein Essay über den Zufall“ trägt, begibt sich Sjöberg erneut auf die Spuren eines Vergessenen: des dänischen Malers Anton Dich. Fünfundvierzig Jahre alt wurde der in Kopenhagen geborene Künstler, der 1935 im ligurischen Bordighera (Italien), nahe der französichen Grenze, verstarb - einsam, arm und dem Alkohol ergeben.

Rekonstruktion eines Künstlerlebens

Sjöberg stieß auf Anton Dich durch eine eher beiläufige Erwähnung in einem Brief, den ein schwedischer Maler in den 1920er Jahren aus Italien geschrieben hatte. Im Internet recherchierte Sjöberg und stieß schließlich auf ein Gemälde Dichs, das er ersteigerte. Es zeigt zwei jugendliche Mädchen in südlicher Landschaft - und ziert nun den Einband seines Buches.

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Wie ein Forscher sammelte der Autor Hinweise auf die abgebildeten Mädchen und geriet unversehens in ein Kapitel schwedischer Kunstgeschichte. Quasi nebenbei rekonstruierte er eine Familiengeschichte, die romanhafte Züge trägt und die man, wären nicht Einzelheiten tatsächlich überprüfbar, für schriftstellerische Erfindung halten könnte.

Assoziationen als Schreibprinzip

Es ist ein Prinzip des Sjöbergschen Schreibens, verspielt und assoziativ zu erzählen. Aus kleinen Beobachtungen Reflexionen zu entwickeln, die zu einem neuen Thema führen, das mit einem bereits vorhandenem verknüpft wird.
Aus der Meditation über Kunstsammler beispielsweise gelangt Sjöberg zu einem Reptilien sammelnden Zoologen, der auch als erster Philatelist (Briefmarkensammler) gilt. Über die Erinnerungen an seine eigene Briefmarkensammlung nun kommt Sjöberg auf eine schwedische Marke zu sprechen, die den Vater eines der Mädchen zeigt, das auf dem eingangs beschriebenen Gemälde Anton Dichs abgebildet ist. Was dann widerum in Überlegungen zum eigenen Schreibenverfahren mündet:

"Sie nehmen kein Ende, meine Fäden. Ich flechte und flechte sie zu einem Seil zusammen, einem Sicherungseil. Die Rettungsseile der Bergsteiger und Höhlenforscher erfüllen die gleiche Funktion. Ob ich aufwärts klettere oder mich nach unten abseile? Die Frage lässt sich unmöglich beantworten.“ 

Fredrik Sjöberg in "Mama ist verrückt und Papa ist betrunken"

Sjöbergs Erzählfaden zu der Frage "Wer war Anton Dich?" franst immer wieder aus. Doch der Autor verbindet die einzelnen neuen Fäden schließlich doch wieder miteinander. Die Stringenz seines erfrischend saloppen, doch immer kenntnisreichen Erzählens liegt in den Brechungen des Linearen, im aufmerksamen Aufsammeln einzelner Motive, im Aufspüren von Zufällen, die er nutzt, um weiter erzählen zu können. Neugierig und aufmerksam ist er.
Und so ergibt plötzlich alles einen Sinn: Poetische Momentaufnahmen, persönliche Eindrücke und recherchierte Fakten treffen in einem tänzerischen Reigen aufeinander, der den Leser mitreißt, wenn auch mitunter schwindeln lässt.

Ein Buch voller Zufälle

Das Buch, dem zahlreiche Abbildungen beigefügt sind, darunter eine Zeichnung Modiglianis, mit dem Dich verkehrte, beginnt mit der Schilderung einer Kindheitserinnerung an einen Angler. Sie gibt das Leitmotiv vor: Geduldig wartet da jemand auf den Zufall.
Und tatsächlich: „Mama ist verrückt und Papa ist betrunken“ ist ein Buch der Zufälle, der beglückenden und der tödlichen. Ein Buch das Kunst-, Zeit- und Familiengeschichte miteinander in Einklang bringt, das von starken Frauen erzählt, von Nazis und Bohemiens, geglückten und gescheiterten Leben.