Mal Hoffnung - mal Resignation

Von Susanne Güsten |
Ob und wann die Türkei Vollmitglied in der Europäischen Union wird, ist nicht absehbar. Und trotz aller Skepsis ist die Mehrheit der türkischen Bevölkerung weiterhin für einen Beitritt.
Ein Lokal auf dem traditionsreichen Fischmarkt in der Innenstadt von Istanbul. Auf dem Grill brutzeln Schafsgedärme; schwungvoll zerhackt der Koch mit zwei Messern das zischende Häufchen Innereien. "Kokorec" heißt diese Leckerei, die zu den Leibspeisen der Türken zählt. Galip Tokgöz, Besitzer des ältesten und berühmtesten Kokorec-Lokals am Istanbuler Fischmarkt, erklärt sein Rezept:

"Kokorec besteht aus Gedärmen und inneren Organen - den Eingeweiden des Tieres also. Die Innereien werden um Spieße gewickelt, außenrum die Gedärme, und das wird dann bei 185 Grad gebacken. Anschließend wird es auf einer gusseisernen Platte bei 300 Grad noch einmal geröstet und zerhackt. Dann wird es in ein aufgeschnittenes Brot gefüllt, gewürzt und gegessen."

Schon zur Frühstückszeit kauen die ersten Kunden in Tokgöz' Lokal ihre Kutteln, abends ist das Lokal proppenvoll. Kein Wunder, dass Gerüchte über ein angeblich bevorstehendes Kokorec-Verbot aus Brüssel in der Türkei immer wieder Furore machen können. Alle paar Monate taucht in türkischen Zeitungen die Meldung auf, dass der Verzehr von Innereien in der EU aus hygienischen Gründen verboten sei – und dass die Türken bei einem EU-Beitritt auf ihr Kokorec verzichten müssten. Das wird zwar ebenso regelmäßig dementiert, wie es gemeldet wird, stimmt viele Türken aber trotzdem misstrauisch. Mit einer trotzigen Hymne auf das nationale Leibgericht traf der Popsänger Mirkelam vor einiger Zeit die Stimmung:

"Kokoreç ko ko ko ko, Kokoreç ko ko ko ko
Kokoreç sensiz olmaz, Kokoreç ko ko ko ko"

"Kokorec, ohne dich machen wir's nicht", lautet der Refrain des Songs, in dem die Solidarität gegen die Einmischung von außen beschworen wird. Im Videoclip zu dem Song rösten nostalgische Türken heimlich im Keller ihr Kokorec – bis sie von maskierten EU-Kontrolleuren mit Wasserpistolen aufgespürt werden. Ganz so dramatisch sehen die Mittagsgäste im Kokorec-Lokal am Fischmarkt die Lage zwar nicht, aber in der Sache sind sie sich mit dem Sänger Mirkelam einig. Der Computerfachmann Haluk Heytani aus Adana kann sich ein Leben ohne Kokorec nicht vorstellen:

"Einige Dinge sind für die Türken unverzichtbar, und Kokorec ist eines davon. Ich glaube nicht, dass man die Türken daran hindern könnte, Kokorec zu essen."

Woher die Gerüchte über das EU-Verbot kommen und warum sie immer wieder auftauchen, darüber macht sich der Rechtsanwalt Burak Hakan über seinem Schafsdarm-Sandwich seine Gedanken:

"Ich glaube nicht, dass die EU den Verzehr von Kokorec in der Türkei verbieten kann. Aber es gibt hierzulande nicht nur viele Anhänger eines EU-Beitritts, sondern auch EU-Gegner. Da werden von interessierter Seite manche Debatten angezettelt, um die Leute zu verunsichern."

Schwer ist das nicht. Seit einem halben Jahrhundert ist die Türkei nun schon auf dem Weg in die Europäische Union: Genau 50 Jahre ist es her, dass Ankara den Aufnahmeantrag an die Union stellte, die damals noch EWG hieß. Vor zehn Jahren bekam das Land von der EU den Status einer Beitrittskandidaten zugesprochen. Und seit dreieinhalb Jahren laufen nun endlich die Beitrittsgespräche, wenn auch nur schleppend und stockend. Von den 35 Verhandlungskapiteln, die es für einen Beitritt abzuarbeiten gilt, sind bisher zwar immerhin elf Kapitel eröffnet worden. Acht weitere Kapitel hat die EU aber wegen des Streits um Zypern auf Eis gelegt. Weil zudem Frankreich aus grundsätzlicher Opposition gegen den türkischen Beitritt mehrere weitere Kapitel blockiert, könnte den Verhandlungsführern bald der Stoff ausgehen: Die Beitrittsgespräche steuern in die Sackgasse. So lange zieht sich der Weg der Türkei in die Europäische Union schon hin, dass auch viele pro-europäisch gesinnte Türken inzwischen zweifeln, ob sie das Ziel je erreichen werden.

Unter den Passanten auf dem Boulevard der Unabhängigkeit im Zentrum von Istanbul glaubt jedenfalls kaum jemand mehr daran. Nicht der Spediteur Adem:

"Wir wollen schon in die EU, aber die Europäer nehmen uns doch eh nicht, das ist völlig aussichtslos. Das ist doch inzwischen jedem klar. Die wimmeln uns ab: Wir nehmen euch, wir nehmen euch nicht, tut dies, tut das und tut das. Wir rennen und laufen und tun alles, aber langsam haben wir es satt. Wir machen jetzt nur noch, was wir wollen."

Auch der Verkäufer Hasan mag nicht mehr so recht an die Aufnahme glauben:

"Natürlich will ich den Beitritt. Die Türkei tut ja auch alles dafür. Aber dass sie uns aufnehmen, glaube ich nicht. Die spielen doch nur mit uns. Wie lange geht das schon so! Aber sie nehmen uns einfach nicht. Eine Ausrede nach der anderen haben sie. Immer nur Ausreden, nichts als Ausreden. Schön wäre es natürlich, wenn sie uns aufnehmen würden, aber das tun sie nicht."

Enttäuschte Hoffnung und Frustration brechen sich hier Bahn, sagt der Politikwissenschaftler Cengiz Aktar von der Istanbuler Bahcesehir-Universität, der führende Experte für den türkischen EU-Beitrittsprozess:

"Die Türken argwöhnen das seit 50 Jahren. Und sie haben damit ja auch nicht ganz unrecht, denn seit dem Jahr 2004 kommen ja nur noch negative Signale aus Europa, insbesondere aus Frankreich. Selbst wenn ihr euch auf den Kopf stellt und alle Kriterien erfüllt, lassen wir euch nicht in die EU, heißt es dort. Und deshalb hat das türkische Volk diesen Verdacht durchaus zu Recht."

An dem Wunsch der meisten Türken nach der EU-Mitgliedschaft hat dieser Verdacht allerdings nichts ändern können. Nach den neuesten Umfragen sind 66 Prozent der Bevölkerung, also zwei von drei Türken, weiterhin für den EU-Beitritt.