Mahlers ungehörter Abgesang

Von Michael Stegemann · 26.06.2012
"Hier muss man wohl erst gestorben sein, bevor sie einen leben lassen", klagte der Komponist Gustav Mahler einmal über Wien. Und wirklich: Als der Dirigent Bruno Walter am 26. Juni 1912 - ein Jahr nach Mahlers Tod - dessen Neunte in Wien zur Uraufführung brachte, schienen Publikum und Presse plötzlich versöhnt.
"Es scheint, die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muss fort",

schrieb Arnold Schönberg 1912 in einer Gedenkrede auf seinen Kollegen Gustav Mahler. Nachdem Beethoven, Schubert, Bruckner und Dvorák nicht über neun Symphonien hinaus gekommen waren, war tatsächlich auch Mahler von der abergläubischen Furcht besessen, nach seiner Neunten sterben zu müssen. Als er 1908 mit der Arbeit an dieser Symphonie begann, hatte er noch geglaubt, das Schicksal überlisten zu können:

"Eigentlich ist es ja die Zehnte, weil 'Das Lied von der Erde' meine Neunte ist ..."

Aber es war vergebens: Die Symphonie Nummer 9 blieb sein letztes vollendetes Werk - Mahler starb über der Arbeit an seiner Zehnten am 18. Mai 1911. Ein gutes Jahr später, am 26. Juni 1912, brachte Bruno Walter in Wien mit den Philharmonikern die Neunte zur Uraufführung. 1894 war der gerade einmal 18-jährige Bruno Walter Mahlers Assistent an der Hamburger Oper geworden.

"[Und] das war für mich ein ungeheures Erlebnis. Sein ganzes Denken und Fühlen war dem Geist gewidmet und vom Geist erfüllt."

Und Walter gehörte in den nächsten Jahren zu den engsten Vertrauten und Mitarbeitern Mahlers, der ihm quasi die Uraufführungen seiner beiden letzten Werke anvertraut hatte.

"Mahler hatte mir die Partitur übergeben und gesagt: Ich kann das nicht mehr machen, machen Sie's. Ich habe in dem Jahr in München 'Das Lied von der Erde' zur Uraufführung gebracht, und im Jahr 1912 [...] in Wien die Neunte. Das sind die beiden Werke von Mahler, die er selbst nicht mehr gehört hat, und die er mir übergeben hatte."

Mahlers Neunte ist ein Abgesang - der bittersüße Abschied von einer dem Untergang geweihten Welt und vielleicht die letzte große Symphonie im klassisch-romantischen Sinne. Bruno Walter:

"Wenn man Mahler verstehen will, muss man verstehen, wie sehr der Weltschmerz in ihm Wurzel gefasst hatte."

Alle vier Sätze der Symphonie atmen diesen Weltschmerz, den auch das Uraufführungspublikum verspürte, und der in der Presse nachklang:

"Der resignierte Abschied eines Unsteten ..."

"Todesselige, bange und süße Entrücktheit ..."

"Das große, herrliche Lied vom Nimmerwiedersehen ..."

"Der Tod als Erfüllung alles dessen, was Lebenskampf und Lebenssehnsucht einstmals als Ziel boten."


Ein Andante comodo am Anfang, ein Adagio am Ende: dunkel, schwer, am Rande der Tonalität, wie eine Vorahnung kommender Katastrophen. Die Unschuld des zweiten Satzes "Im Tempo eines gemächlichen Ländlers" ist trügerisch ... und auch das "Burleske Rondo" an dritter Stelle kündet eher von Zerrissenheit und Schmerz als von "bäuerlicher" Ausgelassenheit.

Geradezu geschichtsträchtig ist der Wiener Konzertmitschnitt von Mahlers Neunter unter Bruno Walter vom 16. Januar 1938. Schon bei der Uraufführung der Symphonie hatte am Konzertmeister-Pult der Wiener Philharmoniker Mahlers Schwager gesessen, der Geiger Arnold Rosé - ebenso wie jetzt, 26 Jahre später: wenige Wochen vor dem nationalsozialistischen "Anschluss" Österreichs, der für die Juden zu jenem "Weltuntergang" wurde, den Mahler wohl vorausgeahnt hatte. Arnold Rosé und Bruno Walter konnten in letzter Minute aus dem Land fliehen. Wie hatte Mahler einmal gespottet:

"Muss man denn dabei sein, beim Unsterblichwerden?"
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