Magie des Unerklärlichen

16.01.2009
Er ist der Vater aller modernen Krimi- und Gruselliteratur: Edgar Allan Poe. Der vor 200 Jahren geborene Autor war Meister der surrealen Überspitzung und geheimnisvollen Wendungen. Der marebuchverlag hat nun eine gelungene Neuübersetzung von "Die Geschichte des Arthur Gordon Pym aus Nantucket" herausgebracht, in der es um allerlei Schrecken der Seefahrt geht.
Wer kennt ihn nicht: Edgar Allan Poe. Vor 200 Jahren, am 19. Januar 1809, wurde er in Boston geboren. Poes Geschichten gelten als Markenzeichen für Gruselliteratur - Geschichten wie "Der Doppelmord in der Rue Morgue" oder "Der Untergang des Hauses Usher". Charles Dickens schätzte ihn, Jules Vernes und Charles Baudelaire verehrten ihn.

Die Nachwelt sah in Poe den Erfinder des Kriminalromans und einen Vorläufer des Expressionismus, des Symbolismus und der Postmoderne. Anlässlich des 200. Geburtstags präsentiert der marebuchverlag die Neuübersetzung seines längsten Prosastücks, das lange Zeit in Vergessenheit geraten war: "Die Geschichte des Arthur Gordon Pym aus Nantucket".

Es ist die Geschichte eines 14-Jährigen, der sich als zunächst blinder Passagier auf eine Seereise begibt, auf eine Odyssee der Schrecken mit Meuterei, Orkanen, Kannibalismus, die kurz vor dem Südpol endet. Die durch und durch gelungene Neuübersetzung war mehr als überfällig; Schwülstiges wurde modernisiert, und zum ersten Mal wurde der Text in weiten Passagen überhaupt erst verständlich gemacht: So wurde zum Beispiel "Schnappsack" durch "dicke Brieftasche" ersetzt.

Beinahe noch wichtiger als die 200 Seiten Übersetzung selbst sind aber die zusätzlichen 100 Seiten Übersetzungs-Anmerkungen im Text. Bei diesem Blick hinter die Kulissen der Novellen erfährt der Leser die schonungslose Wahrheit, zum Beispiel wo und von wem Poe abgeschrieben hat. Ein Fünftel der "Geschichte des Arthur Gordon Pym", so schätzt man, ist gestohlen, weswegen manche Literaturkritiker diese Novelle auch für eine raffinierte und bewusste Satire auf die Literatur seiner Zeit gehalten haben.

Und der Leser erfährt ebenfalls, dass das, was wir heute als so fantastisch in Poes Literatur wahrnehmen, damals als Allgemeingut galt. Die Tatsache, dass der Südpol in der Pym-Story warm ist, war eine weit verbreitete These um 1837/38, als die Geschichte erschien, weswegen viele die Pym-Story damals auch für einen Tatsachenbericht hielten. Da öffnen sich Räume historischen Verstehens und unfreiwilliger Komik.

Was Poe aber auszeichnete und einzigartig machte, war, dass er, freiwillig oder unfreiwillig, die ganze Grusel- und Fantasy-Literatur seiner Zeit maßlos und aberwitzig frech steigerte und überspitzte - ein talentierter, aber mittelloser und mitunter mittelmäßiger Schriftsteller mit dem Mut der Verzweiflung, der versuchte, literarischen Erfolg zu haben.

Ist das nicht die Essenz jeden Schauerromans oder dessen, was man heute expressionistisch oder postmodern nennt? Im Vorwort bezeichnen die Herausgeber die Pym-Story als das, was sie im Grunde ist, als eine literarische "Unverschämtheit".

Neben der Original-Novelle und den Anmerkungen bietet diese kommentierte Ausgabe auch noch eine Biografie, eine Rezeptionsgeschichte und ein 60-seitiges Vorwort. Ein facettenreiches, ganzheitliches Bild des Menschen Poe entsteht.

"Die Geschichte des Arthur Gordon Pym aus Nantucket" entwickelt sich schaustückartig zu einer großen, spannenden Geschichte der Literatur, der amerikanischen wie der Weltliteratur, und sie bietet einen tiefen Blick ins 19. Jahrhundert, verrückt und amüsant.

Poe-Fans und bibliophile Menschen werden dieses Buch lieben: den stilvollen Schuber und die ca. 50 wundervoll reproduzierten Holzschnitte aus historischen Ausgaben, die einem klarmachen, wie man Poe lesen muss, nämlich als Stummfilm in Schwarz-Weiß.

Rezensiert von Lutz Bunk

Edgar Allan Poe: "Die Geschichte des Arthur Gordon Pym aus Nantucket"
Übersetzt von Hans Schmid
Herausgegeben von Hans Schmid und Michael Farin
marebuchverlag 2008, 525 Seiten, 44,00 Euro