Magic Train

Von Margarethe Blümel · 19.10.2009
Theoretisch haben auch Arme in Indien Anspruch auf kostenlose Behandlung im Krankenhaus. Da es aber an Behandlungsplätzen und Ärzten mangelt, ist Indiens rollendes Krankenhaus, der Lifeline Express, ein Segen.
An diesem Nachmittag, kurz vor Ende des regulären OP-Tages, sitzen nur noch drei Personen im Warteraum: Die 30-jährige Kauri, ihr Ehemann Rajiv - und die Patientin, ihre knapp fünfjährige Tochter Radha. Die Eltern hocken schweigend da und schauen zu Boden. Eine 24-stündige Anreise per Ochsenkarren, Bus und Sammeltaxi hat sie heute Morgen hierher, in die nordindische Provinzstadt Jabalpur, gebracht. Ihr Instrumentarium gegen die Angst haben sie schon vorher längst durchexerziert.

Sie haben ihr Lieblings-Götterpaar Shiva und Parvati angerufen und von ihren letzten Rupien einen Priester bezahlt, der eine hinduistische Zeremonie zum Wohle ihrer Tochter durchgeführt hat. Sie haben gefastet, ein rituelles Reinigungsbad genommen und frische Kleider angezogen. Und sie haben wieder und wieder die Worte des Dorfvorstehers Revue passieren lassen: "Die Götter haben eure Radha bei ihrer Geburt bestraft. Aber jetzt haben sie für euch den Magic Train, den Wunderzug, nach Jabalpur geschickt. Und dort werden sie den Fluch wieder von ihr nehmen!"

Der über Radha verhängte Fluch ist eine hässliche, dicke Wulst, die sich zwischen ihrer Nase und ihrem Mund ausbreitet. Radha ist die Letzte, die heute operiert wird. Die Ärzte werden ihr die Hasenscharte entfernen, die Wunde vernähen und sie zur Nachbetreuung und Kontrolle ins hiesige Hospital schicken. All das wird kostenlos sein, inklusive Fahrgeld für die spätere Rückfahrt ins Dorf.

Der Raum, in dem Radha darauf wartet, aufgerufen zu werden, ist Bestandteil eines Zuges. Viele Inder nennen ihn "Magic Train", weil dieser Zug nur da anhält, wo die Not am größten ist. Ein Krankenhaus auf Rädern, das zu seinen Patienten kommt, ein Mirakel, ein Rettungsanker. Das ist auch der Name, den seine Betreiber, die Organisatoren der Hilfsorganisation "Impact India", diesem Zug verliehen haben: "Lifeline Express".

"1991 haben wir den Lifeline Express zum ersten Mal auf Strecke geschickt. Seitdem haben wir 80.000 Operationen in diesem Zug durchgeführt - alles ohne Komplikationen. Wir hatten Patienten, die zum Beispiel bis zum Zeitpunkt des Eingriffs völlig gehörlos waren. Plötzlich, noch während sie auf dem OP-Tisch lagen, fuhr auf einem nahen Gleis ein Zug los. Und die Patienten hörten das Signal! Sie setzten sich auf und lauschten. So etwas widerfährt einem nicht in einem normalen Krankenhaus - eine solche Erfahrung können die Leute wirklich nur hier, in diesem Zug, machen!"

Colonel Vishwen ist beim Lifeline Express der Mann für alles. Er ordert Essen, Operationsbesteck und Medikamente, bereitet den Dienstpläne der Ärzte und des Pflegepersonals vor, redet mit den Patienten, führt die ausländischen Besucher durch den Zug und organisiert den Transport der Operierten, die zur Nachsorge in die umliegenden Krankenhäuser müssen.

Zehn Mal pro Jahr geht der Zug auf große Fahrt. Für die Dauer von drei Wochen wird er auf einem Abstellgleis des jeweiligen Bestimmungsbahnhofs geparkt. Dann kommen die Patienten und die Operationen können beginnen.

Die Waggons für das rollende Krankenhaus hat die indische Staatsbahn gestiftet. Der Umbau, die Installation der drei modernen Operationssäle und der orthopädischen Spezialwerkstatt sind durch Spenden zustande gekommen. Ebenso wird der gesamte fortlaufende Betrieb des Lifeline Express finanziert. Die Beteiligten, inklusive Ärzte und Pflegepersonal, arbeiten kostenlos.

"Es ist alles ehrenamtlich. Niemand bekommt Geld. Allerdings kommen unsere Sponsoren für Reisekosten, Essen und Unterkunft der Helfer auf. Wir haben eine ganze Reihe sehr renommierter Ärzte, die regelmäßig hier im Zug arbeiten. Einige von ihnen sind an der Medizinischen Universität von Lucknow beschäftigt. Sie kommen vier, fünf Mal im Jahr zu uns. Sie fragen einfach nach, wo der Zug dieses Mal stationiert ist – und dann machen sie sich auf den Weg!"

Von einem dieser Ärzte hat Radha gerade eben zur Vorbereitung ihrer Operation ein schmerzstillendes Medikament bekommen.

Trotz ihrer Deformation kann sich das Mädchen fast noch glücklich schätzen. Auch im modernen Indien mit seiner boomenden IT-Branche und den weltweit gefragten Computerspezialisten gehören Behinderungen nach wie vor zum Alltag. Noch immer führen fast 75 Prozent der Inder ein Leben unter schwierigen bis armseligen Bedingungen. Theoretisch wären viele gesundheitliche Beeinträchtigungen vermeidbar. Tatsächlich aber grassieren in den ärmeren Bevölkerungsschichten weiterhin Infektionskrankheiten wie Kinderlähmung, obwohl es seit langem einen Impfstoff dagegen gibt.

Auch der von Lepra gezeichnete junge Mann, der in einer Ecke der Bahnhofshalle auf einem Rollbrett auf eine Spende hofft, hätte mit Sicherheit zumindest noch seine Beine, wäre er rechtzeitig behandelt worden. Inzwischen sind auch seine Hände zu Stummeln verkümmert, Lippen und Nasenknorpel sind verschwunden. Seine Augen blicken ins Leere: Er ist erblindet. Nur ein paar Meter weiter hat eine Frau undefinierbaren Alters ihr Lager aufgeschlagen. Sie leidet an Elephantiasis, einer durch Parasiten hervorgerufenen Erkrankung. Vor ein paar Jahren hätte sie noch Chancen gehabt, geheilt zu werden. Nun aber sind ihre Gliedmaßen bereits chronisch angeschwollen – so sehr, dass sie sich ohne fremde Hilfe nicht mehr fortbewegen kann.

Es dauert eine kleine Ewigkeit, bis einer der besonders langen Fernzüge den Bahnhof endgültig verlassen hat. Jetzt ist der Blick wieder frei auf Gleis 14, wo der Lifeline Express nun schon seit einer ganzen Weile geparkt ist.

"”Seit Beginn des hiesigen Einsatzes werden Patienten mit Kiefer-Gaumenspalten operiert. Ungefähr eine Woche später kommen Klienten mit Ohrerkrankungen an die Reihe. In den letzten zehn Tagen befassen wir uns mit orthopädischen OPs, mit Spätfolgen der Kinderlähmung zum Beispiel. Dass hierher so viele Patienten kommen, haben wir auch unseren medizinischen Beauftragten zu verdanken. Sie sind es, die die Betroffenen informieren und dann hierher schicken"",

…sagt der medizinische Distriktleiter für Jabalpur, Anil Jain.

Wochen bevor der Zug in die Stadt kommt, verteilen seine Leute in den Dörfern Handzettel. Die Dorfvorsteher berufen Versammlungen ein und erklären das genaue Vorgehen. Am Ende tragen die Operationswilligen sich in die Listen ein und ihre Anreise wird organisiert. Die in der ersten Woche durchgeführten Operationen zur Korrektur der Hasenscharten haben regen Zulauf. Diese Deformationen kommen in Indien ungleich häufiger vor als in Europa. Das Risiko, mit einer solchen Kiefer-Gaumenspalte geboren zu werden, steigt durch Fehl- und Mangelernährung in den ersten Schwangerschaftsmonaten. Die Lippenspalte führt zu Schwierigkeiten bei der Nahrungsaufnahme und zu Artikulationsstörungen. Später werden vor allem Mädchen ausgegrenzt: Niemand will sie heiraten.

Colonel Vishwen: "”In den Städten ist das inzwischen weniger der Fall, aber in den entlegenen Regionen gilt eine Hasenscharte immer noch als Fluch. Die Leute meinen, die werdende Mutter habe damals während eines astrologisch ungünstigen Zeitpunkts den Mond angeschaut. Damit soll sie diesen Fluch auf sich gezogen haben, der sich dann auf ihr Kind übertragen hat. Das Ganze bezieht sich vor allem auf Mädchen. Es macht den Menschen Angst. So wie es aussieht, wird es noch eine Weile dauern, bis dieser Aberglaube ausgerottet ist.""

Mehr als 200 Millionen Inder zählen zur einkommensstarken Mittelklasse. Die Angehörigen dieser gesellschaftlichen Gruppierung werden von privaten Gesundheitsdiensten heftig beworben. Auch Unternehmen aus dem Ausland sind in die lukrative Lücke vorgestoßen. Damit haben diese Patienten Zugang zu jedem nur erdenklichen Gesundheits- oder Wellnessangebot: Von Organtransplantationen über OPs am Herzen zu Faceliftings oder Faltenunterspritzungen – all das und mehr ist in Indien zu haben. Qualitativ hochwertig – und entsprechend teuer.

Knapp ein Drittel der mehr als eine Milliarde Inder ist erwerbstätig. Allerdings haben nicht einmal zehn Prozent von ihnen regelmäßige Bezüge – die Voraussetzung für arbeitsrechtlichen Schutz und für Sozialleistungen. Der Bedarf für ein allgemein zugängliches Gesundheitssystem ist groß. Nur sind die meisten der im informellen Sektor tätigen Menschen so arm, dass sie nicht einmal einen geringen Teil ihres Einkommens für eine Krankenversicherung abzweigen könnten. Für diese Klientel ist der Lifeline Express ein Segen.

Das mag im Augenblick ein wenig anders klingen. Die kleine Radha, die gerade von Dr. Anuj Banerjee operiert wird, hat eine ganze Weile nur gewimmert. Nun schreit sie.

Eine der wenigen Einschränkungen in dem sonst bestens ausgerüsteten Hospital auf Rädern besteht darin, dass keine Vollnarkose gegeben werden kann. Mit den Möglichkeiten, die den Ärzten hier im Zug zur Verfügung stehen, können sie die Narkosetiefe nicht hinreichend überwachen. Falls es zu Komplikationen käme, wäre der Weg bis zum nächsten, gut ausgerüsteten Krankenhaus zu weit. Gegen die Schmerzen seien die Patienten geschützt, sagt Dr. Banerjee, doch sie erlebten den Eingriff bei vollem Bewusstsein:

"”Diese Operationen werden zum Teil auch in den Allgemeinkrankenhäusern durchgeführt. Und auch hier im Zug ist das Routine. In den ersten Tagen hatten wir dieses Mal zehn solcher Eingriffe pro Tag. Um der Sicherheit willen müssen wir auf die Narkose verzichten. Das bedauern wir sehr. Doch davon einmal abgesehen: Am Ende haben wir immer ein schönes Ergebnis. Und nicht nur die Patienten, auch ihre Eltern, sind überglücklich.""

Nebenan im Wartezimmer zuckt Radhas Mutter bei jedem Schrei ihrer Tochter zusammen. Hilflos faltet sie immer wieder die perfekt gewundenen Zipfel ihres Saris neu. Das Dorf, in dem sie lebt, besteht aus 220 Hütten und der Baracke, in der der Dorfvorsteher mit seiner Familie lebt. So nahe wie hier und heute ist sie in ihrem 30-jährigen Leben noch keinem Arzt und keiner Krankenschwester gekommen:

"”Mein Mann ist Landarbeiter. Wir sind sehr arm und wohnen in einer ziemlich entlegenen Gegend. Einmal ist eine Dorfbewohnerin mitgenommen worden in die Stadt. Sie war sehr, sehr krank. Aber sie hat nicht verstanden, was die Leute in der Klinik von ihr wollten. Da ist sie schon bald irgendwie wieder zurückgekommen. Wenn die Beamten unserem Dorfvorsteher nicht Bescheid gesagt hätten - wie hätten wir von diesem Zug erfahren sollen? Dann wäre unsere Kleine niemals, niemals operiert worden.""

Radha wird zu den im Nebenraum wartenden Eltern hinausbegleitet. Sie ist ein wenig unsicher auf den Beinen, aber sie weint nicht mehr. Zwischen Mund und Nase klebt ein Pflaster. Die entstellende Hasenscharte ist Vergangenheit. Im schlimmsten Fall wird das Mädchen irgendwann eine kleine, blasse Narbe oberhalb der Lippen zurückbehalten.

Colonel Vishwen: "”Wir hatten einmal ein Mädchen hier im Zug, das gleich am ersten Tag operiert worden war. Am letzten Tag, also in der dritten Woche, kam sie mit ihrem Vater noch einmal zurück. Sie hatten Süßigkeiten für uns dabei. Das Mädchen hatte nach ihrer Rückkehr ins Dorf einen Heiratsantrag bekommen und die Hochzeit war bereits besiegelt. Für die Betroffenen ändert sich alles! Wenn Sie schon einmal Vorher-Nachher-Bilder gesehen haben, werden Sie das zumindest ahnen. Aber wenn Sie das Ganze hier im Zug vis-à-vis erleben, können Sie sich selbst davon überzeugen!""