Magèn: Schriftsteller sind Miniaturausgaben von Gott

Mira Magén im Gespräch mit Joachim Scholl · 16.03.2010
In ihrem letzten Buch "Die Zeit wird es zeigen" wirft die Israelin Miriam Magén anhand des Schicksals einer Familie, die ein behindertes Kind bekommt, heutige Fragen des Glaubens auf. Sie ist derzeit in Deutschland auf Lesereise.
Joachim Scholl: Eine junge Frau löst sich aus ihrer vermeintlich idyllischen, jüdisch-orthodoxen Familie und kehrt nach etlichen Großstadtabenteuern zu den traditionellen, aber neu interpretierten Werten zurück. Das ist, kurz gefasst, der Stoff des Romans "Klopf nicht an diese Wand" – das Debüt, mit dem die israelische Autorin Mira Magén 2001 bekannt wurde. Seither sind vier weitere Romane erschienen, inzwischen ist Mira Magén eine Bestsellerautorin mit anspruchsvollen, existenziellen Themen. Mira Magén ist in den 1950er-Jahren geboren, in einem strengen orthodoxen jüdischen Milieu aufgewachsen. Gestern war sie bei uns im DeutschlandRadio Kultur zu Gast, und ich habe sie eingangs gefragt, ob denn die Probleme, die Fragen und die Kritik Ihrer Romanheldinnen an der Religion und der Tradition auch ihre eigenen Fragen gewesen seien.

Mira Magén: Ja, bei jedem meiner fiktionalen Charaktere gibt es auch einen Teil von mir. Durch meine Charaktere organisiere ich sozusagen mein stürmisches Innenleben. Sie sind in der Lage, mein eigenes Innenleben auszudrücken.

Scholl: In Ihrem ersten Roman " Klopf nicht an diese Wand" gibt es eine junge Frau, die auch erotisch sehr provoziert. Wie hat damals eigentlich die Öffentlichkeit in Israel auf dieses Buch und auf diese Provokation einer jungen Frau, die auch aus ihrem religiösen Umfeld ausbricht, reagiert?

Magén: Das kommt natürlich darauf an, von welchem Publikum man hier ausgeht, von welcher Öffentlichkeit. Die religiöse Öffentlichkeit hat diesen Charakter natürlich sehr kritisiert. Wohingegen das säkulare Publikum, die säkulare Öffentlichkeit akzeptiert hat, wie sie war. Meine Leser stammen aus sehr vielen verschiedenen Gruppen. Natürlich haben die Orthodoxen dieses provozierende Verhalten dieser jungen Frau kritisiert.
Natürlich sind orthodoxe Menschen auch Menschen, sie haben die gleichen Antriebe, die gleichen Gefühle und so weiter, sie sind auch Menschen wie wir. Sie wollen aber nicht über diese Dinge sprechen, sie wollen diese Gefühle nicht zeigen. Sie fragen sich, warum muss ich das laut und in der Öffentlichkeit darbieten, ich kann es ja auch verstecken.

Scholl: Als Sie jung waren, Frau Magén, sind Sie selbst ausgebrochen, haben sich entfernt von Ihrer religiösen Herkunft, Sie haben in den verschiedensten Berufen gearbeitet, Sie waren Sekretärin, Krankenschwester, haben Psychologie studiert – und sind dann doch wieder zurückgekehrt in jenes strenge orthodoxe jüdische Milieu. Warum eigentlich?

Magén: Um die Wahrheit zu sagen, habe ich diese Umgebung nie wirklich verlassen. Ich war immer mit einem Fuß in dieser Gemeinschaft und mit einem anderen Fuß draußen. Mein Leben bisher war ein Hin und Her zwischen diesen beiden Welten. Es gab für mich nicht wirklich einen stabilen Ort, von dem ich sagen konnte, hier bin ich. Das ist ein Konflikt, den ich selber austrage. Ich bin sozusagen zweigeteilt zwischen der religiösen und der säkularen Welt.

Scholl: In Ihrer Heimat sind Sie eine wichtige literarische Stimme gerade für gläubige Menschen auch geworden – wie verträgt sich denn in Ihrer Literatur das Bekenntnis zum Glauben mit dem Bekenntnis zur Weltlichkeit des modernen Lebens?

Magén: Ich mache das am besten anhand eines Beispiels klar, wenn ich auf meine Leser schaue. In meinem letzten Buch "Die Zeit wird es zeigen" stellte ich viele schwierige Fragen, und es gab eine Lesung, die ich vor religiösen Menschen, vor allem Frauen hielt, und dort war eine Frau unter den Zuhörern, die selbst eine behinderte Tochter hatte – ein Thema, um das es ja auch in meinem Buch geht. Und nach der Lesung kam die Mutter dieser Tochter zu mir, eine sehr orthodoxe Frau, und sagte mir, sie möchte sich bei mir bedanken. Und ich fragte: Wofür? Und sie sagte, ich hätte es geschafft, Ihre Gedanken, Ihre Fragen zu Gott zu tragen, ihm näherzubringen, sie hätte es selbst nicht gewagt, diese Fragen zu stellen, und ich hätte ihr sozusagen damit sehr viel erleichtert. Und die Tochter kam dann auch noch zu mir und fragte mich, ob Anna, das behinderte Mädchen in dem Buch, später einmal noch heiraten würde. Und meine Antwort war: Sicher, ich glaube schon, dass sie das tun wird.

Scholl: Die israelische Schriftstellerin Mira Magén ist zu Gast und im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Lassen Sie uns ein wenig sprechen über "Die Zeit wird es zeigen". Darin erzählen Sie von einer Familie, die schwer vom Schicksal geschlagen wird, muss man sagen, durch die Behinderung ihrer Tochter Anna, die nun ihrerseits einen schweren Unfall des kleinen Bruders verursacht, und es wird ein richtiges Familientrauma daraus. Und wie die Familie diese Katastrophe dann bewältigt, ist sehr beeindruckend zu lesen. Ich habe mich gefragt, worum es Ihnen aber in diesem Roman auch geht. Was wollten Sie zeigen, Mira Magén?

Magén: Das Hauptthema, das mich als Menschen umtreibt, ist die Frage, ob die Welt logisch von Gott geführt wird, obwohl wir es nicht verstehen, obwohl wir die einzelnen Begebenheiten nicht wirklich nachvollziehen können, oder ob der Verlauf der Welt nur eine Reihe zufälliger Begebenheiten ist. Darauf habe ich überhaupt keine Antwort, nur Fragen und Zweifel. Und im Fall der Familie im Buch ist es so, dass diese Familie von ganz weltlichen Dingen träumt, davon, nach Amerika zu gehen und Erfolg zu haben. Und plötzlich müssen sie durch diese Ereignisse, durch die schweren Schicksalsschläge, die sie erfährt, ihre Pläne ändern und sehen sich nun diesem wirklich sehr schweren Schicksal gegenüber und müssen damit umgehen. Und generell sind wir in der Welt umgeben von so viel Leid, so viel Krankheit und so viel Elend, dass man sich immer wieder fragt, warum wird diese Welt überhaupt geleitet? Und das sind Fragen, die mich auch dazu geführt haben, dieses Buch zu schreiben.

Scholl: Sie haben einmal gesagt, Schriftsteller seien Miniaturausgaben von Gott – wenn man streng wäre, Frau Magén, könnte man das fast ein bisschen blasphemisch finden – was meinen Sie damit?

Magén: Ich kann das erklären. Also wenn ich sage, der Schriftsteller sei eine Miniaturausgabe von Gott, dann will ich damit sagen, dass, wenn man schreibt, man einen Charakter selbst erschafft. Und diese Charaktere zu erschaffen, ist sozusagen die Antithese zur realen Existenz. Ich bin in dem Fall dann die Schöpferin. Ich bin Herrin über Glück und Traurigkeit meiner Figuren, ich kann entscheiden, ob es ihnen gut geht, ob es ihnen schlecht geht, wie sie sich weiterentwickeln. Aber das passiert natürlich nur auf dem Papier und mit Tinte und hat mit der Realität so dann wiederum nichts zu tun. Es mag zynisch klingen, wenn man dann sagt, man sei Gott über diese Menschen. Aber es gibt einem doch das Gefühl, etwas Alternatives zu schaffen, eine alternative Realität zu schaffen, in der man eine Logik kreiert, die man auch verstehen kann.
Als ich im Krankenhaus als Krankenschwester gearbeitet habe, weiß ich, dass ich eine gute Arbeit geleistet habe. Ich wusste, was ich tat. Und doch hatte ich immer das Gefühl, dass ich eigentlich nichts wirklich ändern kann. Es war frustrierend, diese Spritzen zu geben und zu wissen, dass ich am Schicksal der Menschen, die ich behandelte, wirklich nichts ausrichten konnte. Ich konnte es nicht beeinflussen, wohingegen am Schreibtisch ich das Schicksal meiner Figuren in der Hand hatte und wirklich etwas ändern konnte.

Scholl: Die israelische Gesellschaft ist eine gespaltene Gesellschaft zwischen der Tradition und der Moderne, die jüdischen Orthodoxen haben einen großen politischen Einfluss in ihrem Land, Frau Magén. Aus unserer Sichtweise gelten die Orthodoxen aber auch oft als Bremser, als jene, die einen Dialog mit den Palästinensern verhindern. Wie stehen Sie als Autorin und politischer Mensch in diesem Konflikt?

Magén: Politisch sehe ich mich auf der Seite der Linken in Israel. Ich stimme zum Beispiel überhaupt nicht mit der Meinung meiner Familie überein. Bei uns zu Hause sind wir vier Kinder, ich habe eine Schwester und zwei Brüder, und es gibt ein Abkommen: Wir haben entschieden, überhaupt nicht über Politik zu sprechen. Wir wollen uns unser gutes Verhältnis bewahren, wir wollen als Familie weiter zusammenhalten können, und deswegen vermeiden wir dieses Thema komplett. Wir wollen gute Geschwister bleiben und ansonsten würden wir uns nur streiten und permanent Auseinandersetzungen haben. Die Leser reagieren vielleicht etwas anders, sie akzeptieren meine Meinung, sie akzeptieren, was ich schreibe. Natürlich gibt es auch da sehr viele Meinungsverschiedenheiten. Orthodoxe Leser zum Beispiel würden den Grenzverlauf als Zaun bezeichnen, ich nenne es eine Mauer – da stimmen wir natürlich nicht überein. Sie haben eine andere Meinung und sie akzeptieren meine Meinung natürlich so nicht, aber sie müssen sie sich anhören. Wir haben einen demokratischen Staat, und da muss es diese Toleranz geben. Natürlich würden sie eine andere Fassung bevorzugen, aber die gebe ich ihnen nicht.
Als mein zweites Buch erschienen war, hörte ich plötzlich ein Klopfen an der Tür, und als ich öffnete, stand dort die Tochter meines ultraorthodoxen Nachbarn mit einem sehr großen Blumenstrauß in der Tat. Und in dem Blumenstrauß war eine Karte, auf der stand: Wir werden Ihr Buch nicht lesen, aber wir freuen uns für Sie, denn wir wissen das kreative Leben zu schätzen. Und ich denke, das ist ein Zeichen, ein Symbol für diese Akzeptanz.

Scholl: Mit Zeruya Shalev zusammen sind Sie wohl auch die bekannteste israelische Schriftstellerin im Ausland – wie sind Ihre Erfahrungen eigentlich mit Deutschland, mit deutschen Lesern, Mira Magén? Haben Sie welche?

Magén: Ja, wissen Sie, die deutschen Leser sind sehr wichtig für mich, vor allem wegen unserer komplizierten gemeinsamen Vergangenheit. Ich bin mir sicher, dass die neue Generation nichts mehr mit der Vergangenheit zu tun hat, sie kann nichts dafür, und ich hoffe aber auf der gleichen Seite auch, dass sie die neue Literatur lesen, die Geschichten, die vom normalen Leben handeln, von der Liebe, von den Konflikten des alltäglichen Lebens. Dennoch sind mir die deutschen Leser wichtiger als die Leser anderer Länder, gerade weil wir so viel im Negativen auch gemeinsam haben. Es ist für mich auch sehr aufregend, hier zu sein, durch die Straßen zu gehen. Ich muss immer wieder an die Vergangenheit und auch an die Gegenwart denken. Es ist einfach hier nicht wie anderswo, das ist Deutschland.

Scholl: Mira Magén, die israelische Schriftstellerin – sie war bei uns zu Gast, ihre Bücher erscheinen bei uns im Deutschen Taschenbuchverlag in der Reihe "premium", zuletzt der Roman "Die Zeit wird es zeigen". Frau Magen, herzlichen Dank für Ihren Besuch und Ihnen alles Gute!

Links auf dradio.de:
Mira Magén: "Die Zeit wird es zeigen", Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2010, 396 Seiten

Service:
Mira Magén liest am 16. März im Literaturhaus München, am 17. März in Frankfurt/M. in Haus am Dom und am 18. März auf der Leipziger Buchmesse.
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