Mafiose Verhältnisse

In dem Buch von Andrej Longo geht es um zehn neapolitanische Geschichten, die von den Menschen und dem Einfluss der Camorra handeln. Es sind Szenen aus dem Alltag, die der Autor mit scharfem, aber auch empathischem Blick erzählt.
Mafia! Wer hierzulande das Wort ausspricht, ruft ein ganzes Panorama folkloristischer Motive auf. Da ist der Pate, wie ihn Marlon Brando im gleichnamigen Filmepos spielte: als distinguiert nuschelnden Patriarchen, der hinter seinem Schreibtisch Audienzen hält oder mit den Kindern im Orangengarten spielt. Oder Tony aus der TV-Serie "Sopranos": kein Boss der Bosse, sondern ein Mittelschichtskrimineller mit sehr bürgerlichen Ehe- und Familienproblemen.

Erschüttert wurde diese popkulturelle Mythologie spätestens 2007, als Roberto Savianos "Gomorrha" erschien. Mit einer Mischung aus Reportage, Anekdotensammlung und Anklageschrift sezierte der mittlerweile unter Polizeischutz stehende Journalist die Machenschaften der Camorra in Neapel.

Was bei Saviano zum Soziogramm einer perfide und perfekt funktionierenden Wirtschaftsorganisation gerann, wird in Andrej Longos Erzählungen von anderer Seite her aufgefächert: Die Zehn Gebote liefern die Überschriften für Kapitel, in denen der neapoletanische Autor Szenen aus dem kampanischen Alltag mit scharfem, aber auch empathischem Blick erzählt.

Was da sichtbar wird, ist jedes Mal verstörend, gerade weil es in schmucklos-nüchterner Sprache geschildert wird. Und weil es aus den mafiosen Verhältnissen kein Entkommen gibt. Ob Kind, junge Frau, Saisonarbeiter oder Kriegsheimkehrer: Der große Krake hat mit seinem System aus Korruption, Gewalt und sozialer Kontrolle alle Lebensbereiche durchzogen.

Es gibt den Schlagersänger, den ein Flirt mit Kokain in die Arme der Camorra treibt. Drei Jungen, die einen Ferrari klauen, nicht ahnend, dass sie damit einen ganzen Clan in seiner Ehre kränken. Eine Mutter, die zu extremen Mitteln greift, um die Heirat ihrer Tochter mit einem Mafioso zu vereiteln. Anders als bei Saviano ist bei Longo kein investigatives Pathos vorgesehen. Die Kritik liegt in der bewussten Lakonie, mit der diese dramatischen Vignetten daherkommen.

Oft wird die Erzählung zur Sprechszene ausgedünnt; dann ist es, als ob man selber das Elend belauschen würde. Longo braucht keine ästhetischen Effekte und Kniffs, mit der Dramaturgie der effektiven Verknappung erreicht er die maximale Wirkung.

Und die ist im besten Sinne moralisch, denn man ahnt, dass zum Schuldzusammenhang des organisierten Verbrechens nicht einfach nein zu sagen ist; dass nicht einfach gegen die Protagonisten einer Struktur aufbegehrt werden, die eine florierende Geschäftswelt ernährt. Auch der Afghanistan-Heimkehrer, der nicht begreift, warum er einem illegalen Parkwächter Geld bezahlen soll, weil er doch schon ein Ticket gekauft hat, muss diese Lektion lernen – zu einem tragisch hohen Preis.

Zehn Gebote, allesamt Wegweiser für ein zivilisiertes Gemeinwesen. Andrej Longo zeigt, wie sie zu zynischen Slogans einer Gesellschaft verkommen, die Menschen nur als Ressource bestimmter Wirtschaftszweige begreift. Die letzte Geschichte heißt: "Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut". An deren Ende ist die Desillusionierung perfekt, auch für den Leser. Abschließender Satz: "Jetzt ist alles aus."

Besprochen von Daniel Haas

Andrej Longo: Zehn. Erzählungen
Aus dem Italienischen von Constanze Neumann, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2010, 160 Seiten, 17,95 Euro