Märchen als Liebesbriefe
Der Theologe Rudolf Bultmann schrieb die in dem Band „Wachen und Träumen“ versammelten Märchen 1916 und 1917 als Geschenk für seine damals noch Verlobte und spätere Frau. Das erklärt, warum es darin immer um Paare geht, die sich unter – manchmal schwierigen Umständen – finden, verlieren und wieder finden müssen.
Märchen und Rudolf Bultmann – das klingt eigentlich nach einem Gegensatz, wie er schärfer nicht ausfallen kann. War doch der evangelische Theologe derjenige, der dem neuen Testament eine strikte „Entmythologisierung“ verordnete. Ein Wort, das in frommen bibeltreuen Kreisen noch heute Schauer auslöst, steht es für sie doch für den Versuch, den Glauben aus der Bibel herauszureißen und nur noch einen Text wie jeden anderen zurückzulassen. Was gar nicht Bultmanns Absicht war.
Er bemühte sich nur, die literarischen Gattungen und von den ersten Christen erzählten Geschichten über das Leben Jesu in den griechischen Originaltexten aufzuspüren und hinter diesen Bausteinen das zu finden, was den Menschen unmittelbar angehende Offenbarung Gottes ist.
Nun also: Bultmann und Märchen. Genauer: vier Märchen aus der Feder von Rudolf Bultmann. Wenn ein Theologe Märchen schreibt, steckt eine göttliche Kraft dahinter, also eine Frau. Rudolf Bultmann schrieb die Märchen in den Jahren 1916 und 1917 als Geschenk für seine damals noch Verlobte und spätere Frau Helene Feldmann.
Äußere Umstände wie der Erste Weltkrieg beeinflussten sein Leben kaum, eher wichtige Umbrüche in seiner wissenschaftlichen Karriere. Nach Studienabschluss, Promotion und Habilitation trat Bultmann 1916 seine erste Stelle als Professor für Neues Testament an, in Breslau. Eines der Märchen, das „Traum-Märchen“, schickte Bultmann seiner Verlobten an dem Tag, an dem er seine erste Vorlesung in Breslau hielt.
Man kann die Märchen sicher nicht als Schlüsselgeschichten lesen. Aber man sollte im Blick behalten, dass sie als Liebesbriefe verschickt worden sind. Von einem knapp über 30-jährigen Professor an seine deutlich jüngere, noch studierende Verlobte. Das erklärt einerseits den spielerischen und doch immer auch für intellektuelle Assoziationen durchlässigen Ton, erklärt andererseits aber auch, warum es in den Märchen immer um Paare geht, die sich unter – manchmal schwierigen Umständen – finden, verlieren und wieder finden müssen.
Und es ist sicher das schönste Kompliment an Bultmanns Verlobte, dass die Prinzessinnen in diesen Märchen sehr clevere, freundliche, warmherzige, willensstarke und überhaupt nicht zickige junge Frauen sind. Ganz im Gegensatz zu ihren männlichen Gegenübern, die Träumer oder reichlich ungeschickte Tölpel sind, die die starke Hand ihrer Prinzessin brauchen, um ihren Weg ins Glück zu finden.
Das erste Märchen trägt das Ungeschick des Helden gleich im Titel: „Die Geschichte von Klumpe-Dumpe, der die Treppe herunterfiel und doch die Prinzessin kriegte“. Bultmann erzählt mit diesem Märchen die Geschichte einer Figur, die Hans Christian Andersen in seinem Märchen „Der Tannenbaum“ nur erwähnt. Nun bekommt dieser Klumpe-Dumpe, so benannt nach seinen klobigen Holzschuhen, einen Namen – Klaus, so wie Rudolf Bultmann von seiner Verlobten merkwürdigerweise genannt wurde.
Dieser Klaus kann wundervoll Flöte spielen, fällt mit seinen Holzschuhen aber immer wieder die Treppe runter, wenn es mal schnell gehen soll. Was sich als Glück im Unglück erweist, denn weil er mit einem besonders spektakulären Sturz nicht nur den Prinz von Parfümien, Mitbewerber um die Hand der Prinzessin, außer Gefecht setzt, sondern auch noch den König amüsiert, gewinnt er die Hand der Prinzessin. Wie das im Märchen eben so ist.
Im „Märchen vom Lachen“ muss Hans, der Müllergeselle, der Probleme bisher immer einfach weggelacht hat, Mitgefühl lernen. Als er nämlich das Herz der schönen Müllerstochter gewinnt, aber völlig unsensibel überhaupt nicht mitbekommt, wie sich für sie dadurch die ganze Welt verändert. Prompt stiehlt ein böser Zauberer der Schönen in der Nacht das Lachen und pflanzt es als blaue Blume in seinen Zaubergarten. Und erst, nachdem Hans gelernt hat, dass es manchmal angebrachter ist, über die Schwächen seiner Mitkreaturen – seien das ungeschickte Feuersalamander, eitle Eisvögel oder überempfindliche Riesen – nicht zu lachen, kann er seiner Liebsten die blaue Blume zu Füßen legen – und zusammen lachen.
Im „Traum-Märchen“ muss die Prinzessin ihren verzauberten Prinz nicht nur auf den rechten Pfad bringen, sondern höchst tatkräftig selbst erlösen. Denn der Prinz ist durch eine Hexe in einer Traumwelt gefangen. Er weiß nicht, was wirklich ist und was nur Illusion, und schon gar nicht weiß er, womit er so eine Prinzessin verdient hat. Wenn sie auch nur ein Traum ist, dann will er gern mit ihr sich „an den Mondenstrahlen freuen“. Wenn sie aber echt ist, dann soll sie schnell fortlaufen, denn, so sagt er es: „Ich bin kein echter Prinz. Ich bin nur der Traum von einem Prinzen.“ Das klingt nach moderner männlicher Verunsicherung frisch aus den Ratgeberspalten der Hochglanzmagazine.
Doch Bultmann erforscht in diesem Märchen nicht seelische Befindlichkeiten. Eher sind es Spuren der Existenzphilosophie Martin Heideggers, die sich durch Bultmanns wissenschaftliche Schriften zieht, die sich auch in diesem Märchen finden. Gut auf jeden Fall, dass die Prinzessin hartnäckig genug ist und genug gute Tipps vom Mond bekommt, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
Gut auch für den Müllergesellen Gerd im letzten „Märchen vom goldenen Vlies“, dass seine Prinzessin nicht nur clever genug ist, jeden Tag über die Gartenmauer zu klettern und ihn zu besuchen. Sondern dass sie auch noch, in guter Märchentradition, eine Aufgabe für alle Heiratskandidaten so auswählt, dass nur der einfache Müller sie erfüllen kann.
Rudolf Bultmanns Märchen sind keine literarischen Meisterwerke. Aber sie haben eine sehr persönliche Ausstrahlung, die sie zu einer sehr menschlichen Lektüre werden lassen. Der Verlag betont, dass sie zwar vor dem Hintergrund der Beziehung Bultmanns zu seiner Verlobten zu lesen, aber trotzdem auch für Kinder geeignet seien. Nur dass die Geschichten für Kinder wahrscheinlich doch zu wenig märchenhaft sind.
So ganz gibt sich Bultmann den besonderen Bedingungen der Märchenwelt nicht hin. Weder „es war einmal“ noch „und sie lebten glücklich bis an ihr seliges Ende“ – Prinzessin und Müller fallen sich bestenfalls lachend und weinend zugleich um den Hals oder der verzauberte Prinz stellt fest: „Es gibt auch wahre Träume!“ Bultmann borgt sich Märchenkonventionen aus, böse Hexen oder Zauberer oder die Reise des Helden oder der Heldin, um eigentlich unlösbare Aufgaben zu lösen – aber wo immer es möglich ist, bleibt er bei einem eher realistischen Stil, der dann manchmal leider ein wenig an den latent moralischen Ton alter Jugendbücher erinnert.
Einen besonderen Reiz gewinnt besonders das „Märchen vom Lachen“, denn es lässt sich vor dem Hintergrund von Bultmanns theologischem Programm der Entmythologisierung lesen. Wo die verliebte Müllerstochter die Nacht reden hört, da macht der handfeste Hans Unkenrufe aus, wo sie die Sterne um sich tanzen und sich „ganz wie im Himmel gehen“ sieht, da stellt Hans fest: „Ach, Lieb! Wie redest du lustig heute Abend! Das sind ja die Johanniswürmchen!“
Das ist sozusagen die Entmythologisierung romantischer Klischees. Nur dass Hans dann schmerzhaft lernen muss, dass es ganz so einfach mit der Welt nun auch wiederum nicht ist und auch nicht alles nur im kalten Licht technischer Erklärungen gesehen werden kann. Was wiederum auch für Rudolf Bultmanns theologisches Werk gelten kann: denn mitnichten wollte er Gott oder den Glauben aus der Bibel herausdestillieren – nur eben den Weg frei räumen für eine wirklich existentielle Gotteserkenntnis jenseits aller durch die Geschichte hindurch angesammelten Deutungsmuster.
Insofern: für Märchenfreunde ein nettes Buch mit teilweise richtig amüsanten Protagonisten. Für Theologen ein interessanter Blick auf die persönliche Seite eines theologischen Riesen, der anders als viele andere Theologen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer nur als Wissenschaftler, nie als Person der Zeitgeschichte aufgetreten ist.
Rudolf Bultmann:
Wachen und Träumen. Märchen (hg. von Werner Zager),
Wichern Verlag Berlin 2005, 80 Seiten, 7 Euro
Er bemühte sich nur, die literarischen Gattungen und von den ersten Christen erzählten Geschichten über das Leben Jesu in den griechischen Originaltexten aufzuspüren und hinter diesen Bausteinen das zu finden, was den Menschen unmittelbar angehende Offenbarung Gottes ist.
Nun also: Bultmann und Märchen. Genauer: vier Märchen aus der Feder von Rudolf Bultmann. Wenn ein Theologe Märchen schreibt, steckt eine göttliche Kraft dahinter, also eine Frau. Rudolf Bultmann schrieb die Märchen in den Jahren 1916 und 1917 als Geschenk für seine damals noch Verlobte und spätere Frau Helene Feldmann.
Äußere Umstände wie der Erste Weltkrieg beeinflussten sein Leben kaum, eher wichtige Umbrüche in seiner wissenschaftlichen Karriere. Nach Studienabschluss, Promotion und Habilitation trat Bultmann 1916 seine erste Stelle als Professor für Neues Testament an, in Breslau. Eines der Märchen, das „Traum-Märchen“, schickte Bultmann seiner Verlobten an dem Tag, an dem er seine erste Vorlesung in Breslau hielt.
Man kann die Märchen sicher nicht als Schlüsselgeschichten lesen. Aber man sollte im Blick behalten, dass sie als Liebesbriefe verschickt worden sind. Von einem knapp über 30-jährigen Professor an seine deutlich jüngere, noch studierende Verlobte. Das erklärt einerseits den spielerischen und doch immer auch für intellektuelle Assoziationen durchlässigen Ton, erklärt andererseits aber auch, warum es in den Märchen immer um Paare geht, die sich unter – manchmal schwierigen Umständen – finden, verlieren und wieder finden müssen.
Und es ist sicher das schönste Kompliment an Bultmanns Verlobte, dass die Prinzessinnen in diesen Märchen sehr clevere, freundliche, warmherzige, willensstarke und überhaupt nicht zickige junge Frauen sind. Ganz im Gegensatz zu ihren männlichen Gegenübern, die Träumer oder reichlich ungeschickte Tölpel sind, die die starke Hand ihrer Prinzessin brauchen, um ihren Weg ins Glück zu finden.
Das erste Märchen trägt das Ungeschick des Helden gleich im Titel: „Die Geschichte von Klumpe-Dumpe, der die Treppe herunterfiel und doch die Prinzessin kriegte“. Bultmann erzählt mit diesem Märchen die Geschichte einer Figur, die Hans Christian Andersen in seinem Märchen „Der Tannenbaum“ nur erwähnt. Nun bekommt dieser Klumpe-Dumpe, so benannt nach seinen klobigen Holzschuhen, einen Namen – Klaus, so wie Rudolf Bultmann von seiner Verlobten merkwürdigerweise genannt wurde.
Dieser Klaus kann wundervoll Flöte spielen, fällt mit seinen Holzschuhen aber immer wieder die Treppe runter, wenn es mal schnell gehen soll. Was sich als Glück im Unglück erweist, denn weil er mit einem besonders spektakulären Sturz nicht nur den Prinz von Parfümien, Mitbewerber um die Hand der Prinzessin, außer Gefecht setzt, sondern auch noch den König amüsiert, gewinnt er die Hand der Prinzessin. Wie das im Märchen eben so ist.
Im „Märchen vom Lachen“ muss Hans, der Müllergeselle, der Probleme bisher immer einfach weggelacht hat, Mitgefühl lernen. Als er nämlich das Herz der schönen Müllerstochter gewinnt, aber völlig unsensibel überhaupt nicht mitbekommt, wie sich für sie dadurch die ganze Welt verändert. Prompt stiehlt ein böser Zauberer der Schönen in der Nacht das Lachen und pflanzt es als blaue Blume in seinen Zaubergarten. Und erst, nachdem Hans gelernt hat, dass es manchmal angebrachter ist, über die Schwächen seiner Mitkreaturen – seien das ungeschickte Feuersalamander, eitle Eisvögel oder überempfindliche Riesen – nicht zu lachen, kann er seiner Liebsten die blaue Blume zu Füßen legen – und zusammen lachen.
Im „Traum-Märchen“ muss die Prinzessin ihren verzauberten Prinz nicht nur auf den rechten Pfad bringen, sondern höchst tatkräftig selbst erlösen. Denn der Prinz ist durch eine Hexe in einer Traumwelt gefangen. Er weiß nicht, was wirklich ist und was nur Illusion, und schon gar nicht weiß er, womit er so eine Prinzessin verdient hat. Wenn sie auch nur ein Traum ist, dann will er gern mit ihr sich „an den Mondenstrahlen freuen“. Wenn sie aber echt ist, dann soll sie schnell fortlaufen, denn, so sagt er es: „Ich bin kein echter Prinz. Ich bin nur der Traum von einem Prinzen.“ Das klingt nach moderner männlicher Verunsicherung frisch aus den Ratgeberspalten der Hochglanzmagazine.
Doch Bultmann erforscht in diesem Märchen nicht seelische Befindlichkeiten. Eher sind es Spuren der Existenzphilosophie Martin Heideggers, die sich durch Bultmanns wissenschaftliche Schriften zieht, die sich auch in diesem Märchen finden. Gut auf jeden Fall, dass die Prinzessin hartnäckig genug ist und genug gute Tipps vom Mond bekommt, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
Gut auch für den Müllergesellen Gerd im letzten „Märchen vom goldenen Vlies“, dass seine Prinzessin nicht nur clever genug ist, jeden Tag über die Gartenmauer zu klettern und ihn zu besuchen. Sondern dass sie auch noch, in guter Märchentradition, eine Aufgabe für alle Heiratskandidaten so auswählt, dass nur der einfache Müller sie erfüllen kann.
Rudolf Bultmanns Märchen sind keine literarischen Meisterwerke. Aber sie haben eine sehr persönliche Ausstrahlung, die sie zu einer sehr menschlichen Lektüre werden lassen. Der Verlag betont, dass sie zwar vor dem Hintergrund der Beziehung Bultmanns zu seiner Verlobten zu lesen, aber trotzdem auch für Kinder geeignet seien. Nur dass die Geschichten für Kinder wahrscheinlich doch zu wenig märchenhaft sind.
So ganz gibt sich Bultmann den besonderen Bedingungen der Märchenwelt nicht hin. Weder „es war einmal“ noch „und sie lebten glücklich bis an ihr seliges Ende“ – Prinzessin und Müller fallen sich bestenfalls lachend und weinend zugleich um den Hals oder der verzauberte Prinz stellt fest: „Es gibt auch wahre Träume!“ Bultmann borgt sich Märchenkonventionen aus, böse Hexen oder Zauberer oder die Reise des Helden oder der Heldin, um eigentlich unlösbare Aufgaben zu lösen – aber wo immer es möglich ist, bleibt er bei einem eher realistischen Stil, der dann manchmal leider ein wenig an den latent moralischen Ton alter Jugendbücher erinnert.
Einen besonderen Reiz gewinnt besonders das „Märchen vom Lachen“, denn es lässt sich vor dem Hintergrund von Bultmanns theologischem Programm der Entmythologisierung lesen. Wo die verliebte Müllerstochter die Nacht reden hört, da macht der handfeste Hans Unkenrufe aus, wo sie die Sterne um sich tanzen und sich „ganz wie im Himmel gehen“ sieht, da stellt Hans fest: „Ach, Lieb! Wie redest du lustig heute Abend! Das sind ja die Johanniswürmchen!“
Das ist sozusagen die Entmythologisierung romantischer Klischees. Nur dass Hans dann schmerzhaft lernen muss, dass es ganz so einfach mit der Welt nun auch wiederum nicht ist und auch nicht alles nur im kalten Licht technischer Erklärungen gesehen werden kann. Was wiederum auch für Rudolf Bultmanns theologisches Werk gelten kann: denn mitnichten wollte er Gott oder den Glauben aus der Bibel herausdestillieren – nur eben den Weg frei räumen für eine wirklich existentielle Gotteserkenntnis jenseits aller durch die Geschichte hindurch angesammelten Deutungsmuster.
Insofern: für Märchenfreunde ein nettes Buch mit teilweise richtig amüsanten Protagonisten. Für Theologen ein interessanter Blick auf die persönliche Seite eines theologischen Riesen, der anders als viele andere Theologen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer nur als Wissenschaftler, nie als Person der Zeitgeschichte aufgetreten ist.
Rudolf Bultmann:
Wachen und Träumen. Märchen (hg. von Werner Zager),
Wichern Verlag Berlin 2005, 80 Seiten, 7 Euro