Mächtig im Brass

Von Hans-Peter Fischer |
Die Musik soll es in Hainholz richten – das zumindest hoffen Einwohner und Politiker des hannoverschen Stadtteils. Seit Januar 2006 ziehen knapp 20 „Musikbotschafter“ durch den „sozialen Brennpunkt“, um Kriminalität, Desintegration und Bildungsmangel zu mindern.
Ihre Werkzeuge sind Gitarren und Ghettoblaster, Marschmusik, Rap und „Bollywood“-Soundtracks. In Schulen, Kindergärten und Kulturtreffs helfen die Musiker den Hainholzern, selbst zu musizieren und zu tanzen. Die Initiatoren der Stadt Hannover sind überzeugt: Das Projekt gibt vielen Bewohnern eine gemeinsame, anregende Beschäftigung – und senkt so Barrieren im Zusammenleben und im Bildungsbereich.

Die VIP-Schulband hat ihren großen Auftritt: Die vier Instrumentalisten und drei Sängerinnen stehen beim Fest ihrer Paul-Dohrmann-Förderschule auf der Bühne im Innenhof. Für Mitschüler, Lehrer und offizielle Besucher gibt’s eine Coverversion von „Smoke on the Water“, mit selbstgeschriebenem Text.

Kevin, der Gitarrist, ist der Kopf der VIP-Schulband.

„”Weil ich dabei Gänsehaut kriege und so. Inspiriert mich. Musik. Mochte ich schon als kleines Kind."“

Gitarre spielt Kevin schon seit Jahren. Doch erst das Projekt Musik in Hainholz hat die Band an der Paul-Dohrmann-Förderschule nach vorne gebracht: Die sieben Schüler werden inzwischen von Profimusikern betreut, gemeinsam erarbeiten sie ein Repertoire. Dafür hat Projekt-Koordinatorin Morena Piro gesorgt.

„Hier in der Förderschule Paul Dohrmann haben wir im Schülerparlament eine Umfrage gestartet und gesagt: Was wünscht Ihr Euch denn im Bereich Musik/Bewegung? Und dafür haben wir dann die richtigen, kompetenten Ansprechpartner hier in Hannover gesucht und führen das dann durch.“

Morena Piro ist die Koordinatorin von Musik-in-Hainholz, hat ein Netzwerk für die Paul-Dohrmann-Schule geknüpft: Das Musikzentrum betreut die Band, das Sportinstitut der Uni Hannover unterrichtet Capoeira – eine brasilianische Mischung aus Tanz und Kampfkunst, eine Tänzerin studiert mit Schülerinnen Choreographien zu Filmmusik aus Indien, zu Bollywood-Soundtracks.

Hinter dem Projekt Musik in Hainholz steht die schlichte Idee: Möglichst viele Menschen im Stadtteil sollen Musik machen oder tanzen – so, wie es zu ihnen passt. Hans Bäßler, Vizepräsident des deutschen Musikrats, unterstützt den Ansatz.

„Ich bin der festen Überzeugung, dass es mit ganz, ganz wenigen Ausnahmen eigentlich keine unmusikalischen Menschen gibt. Sondern dass man mit jedem Menschen in seiner Art und Weise Musik machen kann.“

Derzeit spielt die Musik also in Hainholz, einem Stadtteil im Norden von Hannover. Aber, und deshalb ja das Unternehmen, Hainholz ist nicht gerade das Mekka der lokalen Kulturszene. Das Viertel wirkt trist, Sozialwohnungsriegel aus der Nachkriegszeit prägen viele Straßenzüge. Der Stadtteil ist überschaubar, dennoch fehlen Treffpunkte und Freizeitmöglichkeiten. Quartiermanager Volker Rohde.

„Der Oberbürgermeister hat mal gesagt: Durch Hainholz fährt man durch. Der Stadtteil ist sehr geprägt durch ein, zwei große Durchfahrtsstraßen, es ist ein sehr unscheinbarer Stadtteil.“

Nur die Probleme fahren nicht so einfach durch Hainholz durch. Der Ort ist einer der sozialen Brennpunkt in Hannover: Wer einen gutbezahlten Job findet, zieht weg. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 16 Prozent. Migranten machen mehr als ein Drittel der Bevölkerung aus, es wird aber mehr neben-, denn miteinander gelebt. Eben da soll nun Musik Perspektivlosigkeit und Tristesse im Viertel auffangen, vielleicht auch ein wenig aufhellen. Dieter Wuttig, Leiter des Fachbereichs Bildung und Qualifizierung der Stadt Hannover.

„Wir waren von Anfang an angetan, dass Musik als Medium für einen ganzen Stadtteil eine Bedeutung haben kann. Und weil wir als Fachbereich Bildung und Qualifizierung in den Bereichen Stadtteilarbeit, Musik und Bildung tätig sind, lag es auf der Hand zu sagen: Es ist eigentlich auch ein Thema unserer laufenden Arbeit.“

Die Stadt Hannover zählt zu den Geldgebern des Projekts, die städtische Musikschule ist ebenfalls eingebunden. Der deutsche Musikrat sieht die Initiative als modellhaft, erwartet soziale, kulturelle und bildungsfördernde Effekte. Die Macher sehen sich bestätigt: Ihre Idee erreicht viele Hainholzer, besonders Jugendliche. Quartiermanager Volker Rohde.

„Wir haben vor zwei Jahren in den Schulen Beteiligungsworkshops gemacht, und neben dem üblichen Sport- und Fußballthema war denn eben der Wunsch von den Jugendlichen insbesondere im Bereich Musik und Bewegung Angebote zubekommen, weil das ihre Interessenlage trifft.“

Das Projekt füllt eine Lücke: Musikunterricht in der Schule ist Mangelware, ausgebildete Lehrer ebenfalls. Mehr als die Hälfte der Musikstunden fällt ganz aus oder wird von fachfremden Lehrern erteilt. Egal, die Landesregierung erklärt dennoch: Niedersachsen sei Musikland.

Die Jugendlichen Bura und Serdscha kommen eher selten in den Genuss von Musikunterricht. Was sie in der Schule vermissen, gibt ihnen das Projekt Musik in Hainholz: musikalische Anregungen, in einer Perkussionsformation.

„Das gefällt uns wirklich sehr gut, es macht uns auch sehr viel Spaß, wir kommen hier auch immer selbst hin, also wir wollen’s auch, wir kommen auch... wie heißt das?“
„Wir werden nicht gezwungen.“
„Ja, genau, wir werden nicht gezwungen, dass wir hierherkommen. Und wir mögen Greg.“

Greg – so nennen Bura, Serdscha und alle anderen Perkussionisten ihren musikalischen Leiter, Gregory Perrineau. Der Afro-Karibianer mit der Baseball-Kappe ist einer der Dozenten des Projekts Musik in Hainholz. Er bringt den Jugendlichen das Congaspielen bei.

„Am Anfang war das ein bisschen schwierig, weil bei viele von diese Kids, die haben diese – entschuldige, ich muss es so sagen – diese amerikanische Denken, sobald dass sie Musik hören: ‚Ja, HipHop, Rap, Ö-ö-ö-ö’ And then I said: ‚Hallo? Musik hat so viele verschiedene Facetten, und man kann auch mit Instrumenten irgendetwas machen.“

Gregory Perrineau hat hart für sein Ensemble gearbeitet: Viele der Jugendlichen wollten eigentlich lieber kicken oder mit Kumpels abhängen. Proben war für viele wie Schule – davon erwarteten sie nicht besonders viel. Erst nach und nach begeisterten sich die Jugendlichen für Congas und andere Perkussionsinstrumente. Inzwischen akzeptieren die Trommler sogar, dass zum Musizieren bestimmte Regeln gehören, zum Beispiel der Rhythmus.

„Manchmal muss man einfach nur ein bisschen Geduld haben und die wissen, es kommt ein Punkt, wenn mir das auch zu viel wird, und dann kommt die Kehrseite – Ui! – weil die kennen die Lautstärke von meine Stimme, und – ‚Uh! Ich glaube, jetzt müssen wir aufhören’ – aber sobald dass wir richtig anfangen, dann geht das wirklich zur Sache, die sind alle eins.“

Die Perkussionisten bleiben gelassen, auch wenn ihr musikalischer Leiter einmal laut wird. Von einem Lehrer würden sie sich so etwas nicht gefallen lassen. Dabei ist die Musik keine andere als die im Schulunterricht. Gregs Persönlichkeit macht den Unterschied. Bura bringt es auf den Punkt:

„”Der ist wie wir, der benimmt sich wie wir, mit dem kann man Spaß haben, nicht wie die anderen Lehrer, wenn man denen was sagt, gleich raus oder sechs, er ist halt nett einfach."“

Obendrein ist Greg ein echter Musiker. Er hat es in Deutschland geschafft – obwohl er doch schwarz ist. Greg ist ein Vorbild für viele Hainholzer Jugendliche mit Migrationshintergrund, auch für Bura und Serdscha. Deswegen nehmen sie seine Kritik an. Geübt wird, bis die Stücke sitzen. Serdschas Ambitionen gehen deshalb nun sogar über den Probenraum hinaus.

„”Vielleicht kriegen wir irgendwie Angebote, von irgendwo, ‚die waren mal gut, haben mal Percussion gespielt, vielleicht könnten wir mal was Großes daraus machen...’. Das isses so."“

Hans Bäßler: „Musikmachen heißt im Normalfall, nicht bei sich selbst bleiben, d.h. da ist die soziale Komponente des Musikausübens ganz stark vorhanden und das ist etwas, das überall geweckt werden kann.“

Musik als eine Art Kitt zwischen den Menschen in Hainholz, Bewohner in unterschiedlichsten Lebenslagen sollen mit- und füreinander musizieren. Außerdem entwickeln Sänger und Instrumentalisten neue Fähigkeiten. Hans Bäßler, Vizepräsident des deutschen Musikrates.

„Dieses praktische Arbeiten hat aber gar nicht unbedingt das Ziel, dass hinterher in Hainholz 15 Konzertpianisten herauskommen, sondern hat den Zweck, über unterschiedlichste musikalische Arbeit, über Singen, E-Gitarre oder das Arbeiten mit dem Computer, über DJ-Techniken und Scratchen usw. musikalisch sich selbst aktiv wahrzunehmen.“

Wer entsprechende Untersuchungen wahrnimmt, der erfährt: Gemeinsames Musizieren fördert die Persönlichkeit, stärkt soziales Verhalten, steigert gar intellektuelle Fähigkeiten. Gergory Perrineau kann dazu ein eigenes Erlebnis beisteuern.

„Irgendwann haben die auch Lust gehabt, wo normalerweise die gucken alle auf die Uhr – Ö, is zwei Minuten vor, wir müssen gleich los – ich habe gesagt: ‚Mensch, Leute, ich muss euch gleich zurückbringen’ – ‚O, nö, nö, komm, wir machen eine halbe Stunde mehr’. Dann habe ich gesagt: ‚Wow... ich habe irgendetwas geschafft, dass die sich länger als zwei Minuten an irgendetwas konzentrieren.’ Das ist für uns ein Riesenerfolg und merkt mehr und mehr, dass das irgendwie rüberkommt.“

Die Projektmitarbeiter verbuchen nicht nur gesteigerte Konzentration. Sie glauben auch, dass Jugendliche wie Bura und Serdscha durch das Musizieren grundsätzlich lernen zu lernen. Quartiermanager Volker Rohde.

„Die Förderung von Schlüsselkompetenzen hat ja, gerade Musik, dass man etwas findet, was einen auf Dauer auch dazu bringt, sich zu engagieren, was zu machen und Interesse zu haben, nicht unbedingt mit dem Ziel, gleich groß Popstar zu werden, sondern einfach für sich selber zu sehen, wenn ich im Bereich Musik und Bewegung was kann, dann hilft mir das auch in den Alltagssituationen.“

Dass Musik und Tanz die Persönlichkeit fördern, dass sie ganze Gruppen verbinden – die ist für die Hainholzer Schülerin Rosanna keine Glaubenssache, sondern eigene Erfahrung. Sie hat ihre eigene Tanzgruppe zusammengestellt – die G-Babes.

„Ich hab die Gruppe hingekriegt und hergestellt, weil die vielen in meiner Gruppe mit schlechten Leuten abhangen und davon wollte ich sie abhalten, damit sie auch was anderes zum Beschäftigen haben anstatt Tag auf den Straße mit Freunden zu sein und so. Haben wir schlechte Laune, wenn wir anfangen zu tanzen, kriegen wir alle gute Laune.“

Die G-Babes tanzen zu Stücken von Missy Elliot oder Pitbull, HipHop eben, also was in der Szene angesagt ist. Eine Profi-Tänzerin unterstützt die Jugendlichen aus Hainholz: Sie gibt Tipps zu Tanzschritten und Bewegungen, erarbeitet mit den jungen Frauen die Choreographien. Um solche Hilfe hatten die G-Babes gebeten. Musik in Hainholz hat den Kontakt hergestellt, übernimmt die Kosten. Koordinatorin Morena Piro.

„”Die Projekte werden zielgruppenorientiert entwickelt, d.h. ich gehe auf die Menschen im Stadtteil zu und auf die unterschiedlichen Einrichtungen und dann entwickeln wir gemeinsam das Projekt. Und so entstehen dann immer für die Zielgruppe passende unterschiedliche Musik- und Tanzangebote."“

Seit Anfang des Jahres ist Musik in Hainholz im Stadtteil aktiv. Aktuell konzentriert sich das Projekt noch auf Jugendliche: Sie haben ein besonders großes Bedürfnis nach Musik und Tanz, sind einfach zu begeistern. Und: Quartiermanager Volker Rohde und seine Mitstreiter werfen schon ein Auge auf die Alten.

„Wenn man sich ankuckt den Alltag von auch älteren Personen, da muss man nur mal in den Gottesdienst gehen, da ist Musik ein wesentlicher Bestandteil. Man nimmt das nur nicht so wahr, für die ist das gar nicht so weit weg, wie man denkt, es ist nur nicht so öffentlich.“

Die Musikbotschafter besuchen derzeit die Menschen im Stadtteil: Sportler, Migranten, Arbeitslose, Kinder. Gleichgültig, wo sie ihr Projekt vorstellen: Die Hainholzer entdecken die eigene musikalische Seite. Senioren möchten singen, Kleingärtner interessieren sich für Blasmusik, Jugendliche auf der Straße wollen rappen, im türkischen Kulturtreff wird das Saz-Spielen nachgefragt.

Morena Piro: „”Musik ist einfach ein ganz tolles Medium, alle Menschen zu erreichen. Fast jeder hat eher ein positives Bild zu dem Thema Musik. Jeder hat sein eigenes und das, was die Jugendlichen unter Musik verstehen ist sehr wahrscheinlich nicht das gleiche, was Senioren darunter verstehen, aber sie haben alle ein positives Gefühl zur Musik."“

Nicht nur die Zuschauer, auch Kevin und seine Band sind zufrieden mit dem Auftritt beim Fest der Paul-Dohrmann-Förderschule. Im Alltag bekommen sie selten solchen Applaus. Kevin möchte auf alle Fälle weiter Gitarre spielen. Dem Projekt Musik in Hainholz gibt er gute Chancen.

„Vielleicht wird dann die Atmosphäre besser in Hainholz. Die Zusammenarbeit, dass das besser wird, mit den Leuten.“

Auch Unterstützer und Initiatoren sind überzeugt, dass das Projekt das Zusammenleben zwischen allen Bewohnern des Viertels verbessert. Dieter Wuttig, Leiter des Fachbereichs Bildung und Qualifizierung der Stadt Hannover.

„Hier ist die Chance gegeben, Menschen in den unterschiedlichsten Lebenslagen, der unterschiedlichsten Herkünfte, Ethnien, besonders anzusprechen und damit auch zu einem Zusammenwirken, zu einer Aktivierung des Stadtteils beizutragen.“

„”Was wir in den Projekten machen, da merkt man ganz schnell, dass es ganz viel mit Beteiligung und Integration zu tun hat, und wenn wir das Beispiel der Kita nehmen, die sich dann zusammentun mit den anderen Kitas [...] und dann für die Senioren im Schwimmverein etwas vorführen, [...] dann ist das genau dieses Zusammenbringen und Vernetzen von Menschen, was einen großen sozialen Wert hat."“

Koordinatorin Morena Piro und den übrigen Projektmachern ist allerdings auch klar: Ein Wandel vollzieht sich nicht von heute auf morgen. Deshalb ist es schon wichtig, dass das Projekt bis 2010 gesichert ist, bis dahin soll sich eine Menge im Stadtteil Hainholz verändern. Quartiermanager Volker Rohde.

„Sicherlich wird jetzt nicht jeder hier trällernd durch die Gegend laufen, um mal ein Stück so ein naives Bild zu beschrieben, aber ich stelle mir vor, dass über das Projekt an ganz vielen Stellen über Musik Menschen etwas mitgenommen haben, was es ihnen eben erleichtert, vielleicht auch Rückschläge hinzunehmen oder es erleichtert, auf dem Arbeitsmarktsektor eine Chance zu finden oder es ihnen erleichtert, sich in irgendeiner Form selbst zu organisieren.“

Dass sie selbst etwas auf die Beine stellen kann, hat Rosanna sich und anderen schon bewiesen. Ihre G-Babes funktionieren, die jungen Frauen tanzen – und hängen nicht mehr auf der Straße herum, gelangweilt und interessenlos. Wie sich der gesamt Stadtteil durch das Projekt Musik in Hainholz verändert – für Rosanna ist die Antwort einfach. So einfach, dass sie irgendwie schon wieder unwirklich klingt.

„Ich glaube, es würde mehr Frieden geben. Es würd viel mehr Frieden geben. Wenn es so weitergeht, im Hainholz, würde es Frieden geben.“