Mademoiselle der Musikpädagogik

Von Michael Stegemann · 16.09.2012
Unter ihren mehr als 1000 Schülern finden sich Namen wie Leonard Bernstein, George Gershwin oder Astor Piazzolla: Am 16. September 1887 wurde die französische Musikpädagogin und Chorleiterin Nadia Boulanger geboren.
Das "Pie Jesu" von Lili Boulanger, dirigiert von ihrer Schwester Nadia Boulanger. Zwei Schwestern, zwei Schicksale: Lili, die jüngere, genial begabte Komponistin, wurde nur 24 Jahre alt und starb 1918; Nadia – geboren am 16. September 1887 in Paris – überlebte sie um mehr als 60 Jahre und wurde zu einer der wichtigsten Musikpädagoginnen des 20. Jahrhunderts. Jahrzehntelang lehrte Mademoiselle, wie sie von ihren mehr als 1.200 Schülerinnen und Schülern respekt- und liebevoll genannt wurde, ein Ideal der Kunst, das höchsten moralischen Gesetzen verpflichtet war.

"Der Künstler hat eine erschreckende Verantwortung. Mag er auch außergewöhnlich begabt sein oder über eine außergewöhnliche Technik verfügen – fehlt ihm der Charakter, ist alles verloren!"

Bereits mit neun Jahren hatte Nadia Boulanger am Pariser Konservatorium ein Orgelstudium begonnen, das sie 1903 – mit 16 – brillant beendete. Sie wurde Assistentin Gabriel Faurés an der Orgel der Pariser Madeleine und war auch als Komponistin erfolgreich, bis sie nach dem Tod ihrer Schwester Lili entschied, sich nur noch dem Dirigieren und Unterrichten zu widmen. Schon früh hatten sich zwei Pole abgezeichnet: zum einen die musikalische Moderne, zum anderen die Alte Musik. So realisierte sie 1937 mit ihrem eigenen Vokalensemble die erste Schallplattenaufnahme von Werken Claudio Monteverdis.

Nach zehn Jahren als Harmonieprofessorin am Pariser Conservatoire, unterrichtete Nadia Boulanger seit 1921 an der École Normale de Musique und an dem neu gegründeten Conservatoire Américain in Fontainebleau. Im selben Jahr reiste sie erstmals in die USA, wo sie fortan regelmäßig Meisterkurse gab und 1938 als erste Dirigentin des Boston Symphony Orchestra eine Männerdomäne sprengte. Viele amerikanische Musiker sind durch ihre Schule gegangen – darunter Leonard Bernstein, Aaron Copland, George Gershwin und Philipp Glass –, und auch sonst liest sich die Absolventenliste ihrer Harmonie- und Kompositionsklasse wie ein Who's who der Musik: Daniel Barenboim oder Igor Markevitch gehören dazu, aber auch der Chansonkomponist Michel Legrand oder der Tangokönig Astor Piazzolla. Und der Komponist und Pianist Dinu Lipatti, mit dem Nadia Boulanger 1937 die vierhändigen Walzer von Brahms aufgenommen hat.
Dabei versuchte Nadia Boulanger nie, ihre Schüler in eine bestimmte Richtung zu drängen.

"Wenn ihr komponiert, dann ist es mir lieber, ihr irrt euch (wenn ihr euch denn irrt) und bleibt dabei natürlich und frei, als dass ihr anfangt, irgendetwas vortäuschen zu wollen, was ihr nicht seid."

Mademoiselle, die zeit ihres Lebens unverheiratet blieb, war eine berüchtigt strenge Lehrmeisterin, die ihren Studenten nichts durchgehen ließ. Dabei blieb sie selbst stets demütig vor dem Wunder großer Kunst. Zu den wenigen Meisterwerken, die Nadia Boulanger für die Schallplatte aufgenommen hat, gehörte 1948 das Requiem ihres Mentors Gabriel Fauré, das auch bei ihrer Beerdigung gespielt wurde: Am 22. Oktober 1979 ist Nadia Boulanger, 92-jährig, in Paris gestorben.