Machu Picchu: Die Steine der Inkas

Von Dirk Fuhrig · 25.12.2011
Die Terrassen der Inka-Stadt Machu Picchu zählen zu den meistfotografierten Sehenswürdigkeiten weltweit. Bis zu 3000 Besucher täglich nehmen die Mühen des Aufstiegs in die Andenregion auf sich.
Der amerikanische Forscher Hiram Bingham war vor 100 Jahren auf die Ruinen gestoßen, die ein halbes Jahrtausend unter einer dicken Schicht von Schlingpflanzen konserviert worden waren. Machu Picchu ist eine der am besten erhaltenen Siedlungsanlagen der Ureinwohner Südamerikas.

Zwischen den alten Steinen herrscht Gedränge. Wer die pittoresken Inka-Ruinen auf 2360 Metern Höhe über dem Meer besichtigt, muss sich darüber klar sein, dass es dort mindestens so wuselig zugeht wie in Neuschwanstein oder auf der Akropolis.

Jugendgruppen aus den USA stapfen unverdrossen hinter ihren Fähnchen tragenden Führern her, Japaner kriegen die Digitalkamera nicht vom Auge, deutsche Bildungstouristen äugen hinter jede Mauerbrüstung. Viele Südamerikaner suchen zwischen Labyrinth und Sonnenwarte, zwischen Bewässerungsgräben und dem "Haus der Gelehrten" die Wurzeln ihrer Kultur.

Derzeit steigen jeden Tag mehr als 2000 Besucher auf den "alten Gipfel" – das bedeutet Machu Picchu in der Indianer-Sprache Quechua.

Mitte des 15. Jahrhunderts wurde die Stadt in einem der unzugänglichsten Täler der Anden vor einer atemberaubenden Kulisse aus schroffen Bergen und tiefen Schluchten errichtet. Einzigartig die ansteigende Struktur der Siedlung, die sich dem Bergrücken so perfekt anschmiegt. Auf den Terrassen bauten die Inka Mais, Kartoffeln und verschiedene Früchte an. Mit einem ausgeklügelten Kanalsystem sorgten sie für ausreichende Bewässerung.

"500 bis 1000 Menschen können hier gelebt haben. Es gab nicht mehr Schlafstätten."

... sagt Luz Maria Lazo. Wir stehen ganz oben an der höchsten Stelle. Vor uns liegt die große Freifläche mit dem Sonnentempel. Rechts das "Haus des Inka", in dem der Herrscher wohnte. Richtung Abhang die Unterkünfte der Handwerker.

"Von hier aus können wir den Hauptplatz sehen. Da stand der Obelisk. Von den Seitenterrassen aus wurden astronomische Messungen vorgenommen, Sterne beobachtet und Planeten-Konstellationen bestimmt."

Luz Maria Lazo ist Expertin für die Geschichte und Archäologie der Ruinen-Stadt. Sie begleitet Besucher und Wissenschaftler durch die Ruinenstadt, die so gut erhalten ist wie keine andere Siedlungsanlage der Indianer Südamerikas.

Zu den zahlreichen Mythen, die sich um Machu Picchu ranken, zählt auch die Vorstellung, es habe sich bei der Stadt in dieser exponierten Höhenlage um eine von "Sonnenjungfrauen" bewachte Opfer- und Weihestätte gehandelt. Die ersten Archäologen, die vor 100 Jahren die Inka-Siedlung untersuchten, dachten, sie hätten die Überreste von zehnmal soviel Frauen wie Männern entdeckt. Eine wissenschaftliche Fehleinschätzung, die bis vor einigen Jahren noch vielfach verbreitet wurde.

"In diesem Bereich hier, weiter links oben, da wurden die 163 Skelette gefunden, von denen immer wieder und auch in vielen Büchern behauptet wurde, es seien überwiegend Überreste von Frauen gewesen. Aber das stimmt nicht. Die nordamerikanischen Wissenschaftler hatten damals, Anfang des 20. Jahrhunderts, nämlich nur Schädel gefunden, aber keine Hüft- und Oberschenkelknochen. Heute weiß man, dass es ungefähr genauso viele Männer wie Frauen waren."

Die Untersuchungen der vergangenen Jahrzehnte haben auch ergeben, dass Machu Picchu in Wahrheit weder eine außergewöhnlich bedeutende Kultstätte der Inka war, noch ein Regierungssitz, erläutert die Altamerikanistin und Inka-Forscherin Dr. Kerstin Nowack von der Uni Bonn:

"Es ist nicht das, was immer behauptet wird, ein geheimnisvoller Ort, ein religiöses Zentrum oder der letzte Rückzugsort der Inka. All das stimmt nicht. Es ist schon ein wichtiger Ort in dem Kontext, in dem er entstanden ist. Es ist ein Landsitz des Inka-Herrschers Pachacútec, der in gewisser Weise der eigentliche Gründer des Inka-Reiches war. Insofern ist es schon bedeutend, als es eines von seinen Besitztümern ist. Aber viel mehr darüber hinaus geht es eigentlich nicht."

Die Hauptstadt des Inka-Reichs, das sich bis zu 4000 Kilometer von Nord nach Süd entlang der Anden erstreckte, war Cusco. Heute eine Stadt mit 350.000 Einwohnern, ebenso seit 1983 Weltkulturerbe wie das knapp 100 Kilometer entfernte Machu Picchu. Im gesamten Tal des Urubamba-Flusses, der sich hier so spektakulär durch die Anden schneidet, hatten die Inkas Siedlungen angelegt.

Warum also wurde ausgerechnet Machu Picchu zu solch einem emblematischen Ort für die Kultur der Inka? Kerstin Nowack:

"Der Umstand, dass es auf diesem Bergrücken liegt, nicht überbaut wurde, nicht in der Kolonialzeit weiter genutzt und dadurch vielleicht zerstört worden ist. ... Machu Picchu ist dieses Schicksal erspart geblieben. Die Lage machte es nicht attraktiv, sich dort anzusiedeln. Insbesondere nachdem die Spanier eine Politik initiiert haben der Umsiedlung, Sie haben versucht, die indigene Bevölkerung zu konzentrieren an zentral zugänglichen Orten um sie zu kontrollieren und zu missionieren."

Es gibt aber noch einen weiteren Grund für die Popularität Machu Picchus: Es ist einfach unglaublich fotogen. Die harmonisch ansteigenden Terrassen, die spektakuläre Bergkulisse der Anden, das saftige Grün, in das die grauen Mauersteine eingebettet sind. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Welterfolg Machu Picchus mit der Veröffentlichung von Aufnahmen begann, die der Wiederentdecker Hiram Bingham im National Geographic Magazine abdrucken ließ.

"Wir sind hier im "Hiram Bingham", der von Cusco nach Machu Picchu fährt. Dreieinhalb Stunden dauert die Fahrt. Man sieht, wie sich die Geografie ändert und auch Flora und Fauna. Wir bewegen uns durch verschiedene Vegetationszonen: erst die Hochebene von Poroy, dann das lang gestreckte Tal und am Ende der trockene Bergwald."

Milo Sambrano gibt historische Erklärungen in dem Zug, der den reißenden Urubamba-Fluss entlang rollt. Vorbei an schneebedeckten 5000er-Gipfeln, immer wieder kleinen Ansiedlungen, über Brücken und durch Tunnel.

Es gibt nur zwei Möglichkeiten, um nach Machu Picchu zu kommen. Entweder über den sogenannten "Inka-Pfad", vier Tage Trekking mit Übernachtung im Zelt. Oder eben mit der Bahn – da gibt es die Einfach-Variante für rund 40 Euro bis eben zum Edel-Tripp im luxuriösen Speisewagen der Orient-Express-Gesellschaft für das Fünffache.

Als Hiram Bingham im Sommer 1911 die Bergwelt von Cusco durchstreifte, musste er sich den Weg noch mühsam mit dem Buschmesser bahnen. Der US-amerikanische Historiker, Abenteurer und spätere Politiker war auf der Suche nach der legendären Stadt Vilcabamba, in die sich nach der Eroberung Cuscos durch Pizarro die letzten Inka geflüchtet haben sollen.

Schon im 19. Jahrhundert waren französische und deutsche Forscher in die Nähe von Machu Picchu vorgedrungen, die einheimische Bevölkerung wusste um die überwucherten Ruinen. Hiram Bingham war jedoch der Erste, der die Entdeckung - oder eben Wiederentdeckung – weltweit bekannt machte.

Nach 1911 begann die wissenschaftliche Erforschung von Machu Picchu. Mehrere Expeditionstrupps aus den USA rückten an, befreiten die soliden, gut erhaltenen Steinbauten von der Vegetation und sammelten Gefäße, Gerätschaften und Knochen ein. Die Funde wurden an die Universität von Yale gebracht, die sich 100 Jahre lang weigerte, etwas davon zurückzugeben. Nach zähen Verhandlungen wurde jetzt ein Teil der archäologisch bedeutenden Gegenstände in ein neu gebautes Museum in Cusco gebracht.

Die intensiven Bemühungen des peruanischen Staates um Rückgabe gehen einher mit der zunehmenden Bedeutung, die Machu Picchu im Selbstverständnis der Peruaner einnimmt. Als Symbol für die indianischen Wurzeln der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung. Genau darin liegt aber auch Konfliktpotenzial. Die Nationalikone ist nämlich auch ein gutes Geschäft. 90 Prozent von Perus Einnahmen aus dem Tourismus stammen aus Machu Picchu.

Ginge es nach dem Willen der Fremdenverkehrs-Industrie, könnte bei entsprechend modernisierter Infrastruktur die Zahl der Besucher mindestens verdoppelt werden. Die Orient-Express-Gruppe, führend im Machu-Picchu-Tourismus, ist etwa gerade dabei, das einzige Hotel direkt auf dem archäologischen Gelände erheblich zu erweitern.
Gegen mehr Besucher wehren sich die Archäologen und Denkmalschützer. Der Anthropologe David Ugarte, neuer Direktor der Kulturbehörde in Cusco, fürchtet eine Zerstörung des nationalen Erbes:

"Das fundamentale Problem ist: Wir wollen Tourismus. Aber wir wollen einen nachhaltigen und diversifizierten Tourismus. Machu Picchu hatte früher ungefähr 500 Einwohner. Die waren viel leichter als die Menschen heute und kleiner und hatten ganz anderes Schuhwerk. Stellen Sie sich mal vor, irgendwann trampeln täglich 10.000 Touristen durch die Stadt! Es ist doch klar, dass der Untergrund dafür nicht gemacht ist. Wenn wir unser Kulturerbe für die nachfolgenden Generationen erhalten wollen, brauchen wir eine Begrenzung des Tourismus."

Auch die UNESCO beobachtet Machu Picchu mit wachsamem Auge und hat sich schon mehrfach besorgt über das Weltkulturerbe geäußert. Die Überschwemmungen und Erdrutsche im Jahr 2010 haben gezeigt, auf welch fragilem Grund die Inka-Stadt steht. Geologen fürchten, die gesamte so harmonisch an den Hang gebaute Anlage könnte irgendwann abrutschen. Die UNESCO lobt besonders den Zusammenklang von Natur und Architektur, der durch neue Straßen und andere touristische Infrastruktur beeinträchtigt werden könnte.

David Ugarte will es darauf nicht ankommen lassen. Um die Besucherzahl zu steuern, fordert er noch höhere Preise – obwohl der Eintritt schon jetzt mehr als 30 Euro kostet.

"Es gibt 198 historische Stätten rund um Machu Picchu. Das müssen wir klar machen. Es gibt also Alternativen. Und dann muss das kleine Museum in Machu Picchu zu einem echten Zentrum ausgebaut werden, in dem die Geschichte des Ortes erklärt wird."

Der streitbare Direktor der Kulturbehörde möchte dem Massen-Event einen Qualitäts-Tourismus entgegen setzten. Ob die Strahlkraft des Ortes dadurch begrenzt werden kann, ist fraglich. Die großen Feiern zum 100. Entdeckungs-Jubiläum in diesem Sommer hinterlassen bei Wissenschaftlern daher einen leicht bitteren Nachgeschmack. Denn je bekannter die Stadt durch derartige Werbeaktionen wird, desto schwerer wird es in Zukunft werden, die archäologische Stätte zu schützen.
Machu Picchu in Peru
Touristen in Machu Picchu: Archäologen fordern eine Begrenzung des Tourismus© AP
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