"Macht's offen"
Berliner landen in Warteschleifen ganz hinten. Männliche E-Mail-Versender bekommen Viagra-Offerten, ob sie es nötig haben oder nicht. Kurpfuscher kann man nicht erkennen. Straftaten löschen sich von selbst. Zusammenhanglose Sätze, scheint es. Oder haben sie etwas miteinander zu tun? Nun, sie streifen allesamt das Feld der "informationellen Selbstbestimmung".
Diesen sperrigen Begriff schuf das Bundesverfassungsgericht, indem es das "allgemeine Persönlichkeitsrecht" dem heraufziehenden Computerzeitalter anzupassen hoffte. Das war im Oktober '83 unmittelbar vor Anbruch des unheimlichen Orwelljahres "1984". Salopp gesagt, soll seither jeder erfahren dürfen, wer was über ihn weiß. "Endlich ist jeglichem Klatsch der Garaus gemacht!" frohlockten die Zeitgenossen. "Was Nachbarin Schwertlein über mein Liebesleben weiß, muss sie sofort vergessen!"
Aber da selbst Verfassungsrichter die Kunst des Gedankenlesens nicht verordnen können, bezog sich das Urteil – wie alle folgenden Regelungen – auf technische Speichermedien. Dort wird nämlich verzeichnet, was die Festplatte hält! Einst überschaubare Listen vermeintlich schwarzer Schafe haben Bankgewerbe und Versicherungswirtschaft zu Datenbanken von Trägern "schlechter Risiken" aufgebläht. Handelsunternehmen betreiben so genannte "Scorings", indem sie Postleitzahlen von Kunden mit Kaufkraftdaten der Gegend koppeln, wirtschaftlich uninteressant erscheinende Kandidaten werden bei Service-Hotlines ins Nirwana unendlicher Warteschleifen geschickt. Wer als Mann einmal im Internet seine Mailadresse verlor, gilt als Abnehmer von Potenzpillen und wird mit entsprechenden Angeboten überhäuft. In Wahrheit hat er die Adresse gar nicht verloren (geschweige denn freiwillig hergegeben) – sie wurde von Datenpiraten gekapert.
Das ist die eine Seite der Medaille: Löchriger als derzeit könnte Datenschutz kaum sein. Genau besehen, existiert er bloß auf dem Papier, da die bösen Geister – wie bei Computerviren und Kopierschutzprogrammen auch – immer schneller, raffinierter und technisch besser ausgestattet sein werden als die guten. Um zahnlose Gesetze kümmern sich gewinnstrebende Unternehmen prinzipiell nicht. Auf der anderen Seite werden medizinische Leistungen radikal anonymisiert, bevor sie an die Krankenkassen gehen, so dass diese aus den Daten weder Pfuscher noch Betrüger herauslesen können. Als Patient erfahre ich auch nicht, ob ein Krankenhaus bei bestimmten Operationen häufige Komplikationen verzeichnet als andere.
Oder: Kameraaufzeichnungen im öffentlichen Raum sind längst gelöscht, wenn eine darauf kurzfristig gespeicherte Straftat zur Anzeige gelangt – Datenschutz satt! Wiederum drängt sich der Eindruck auf, was immer auf dem Feld des Informationstransfers geschieht, es profitieren stets die Böswilligen.
Gibt es solch janusköpfige Phänomene? Ja, und Datenschutz gehört dazu. Will man seiner Löchrigkeit im ökonomischen Bereich Einhalt gebieten, landet man rasch an jenem Punkt, von dem das Urteil 1983 mental ausging. Damals war in Karlsruhe – wie in der Bevölkerung insgesamt – die Abneigung gegen einen allwissenden Kontroll- und Schnüffelstaat groß. Genau den bräuchte man aber heute als Gegenkraft zur übermächtigen Data-Mining-Industrie. Das kann niemand wollen, und so wirft sich datenschützerischer Ehrgeiz auf institutionelle Bereiche. Missbrauch von staatlicher und offizieller Seite vorzubeugen, ist zwar ehrenvoll, behindert und lähmt jedoch auch sinnvolle Datenauswertungen. Und sein wir mal ehrlich: Weitaus mehr Angst machen uns mittlerweile die existenzbedrohenden Informationsansammlungen bei Banken und Versicherungen, die bei fehlerhaften Einträgen das eigene ökonomische Fundament zum Einsturz bringen können. Da man nicht weiß, was jenseits der "Schufa" noch über einen verzeichnet steht und vor allem wo, kann man auch nicht auf Korrektur dringen.
Zumindest für diesen Bereich böte sich eine unkonventionelle Lösung an. Nennen wir sie nach dem populären Mitmach-Lexikon das Wikipedia-Prinzip: Jeder Deutsche erhält eine Nummer (das ist nicht revolutionär, die meisten besitzen sie in Form von Pass- oder Rentenversicherungsnummer schon). Allen nichtstaatlichen Unternehmen wird dann gestattet, unter dieser Nummer Informationen über die Person zusammenzutragen. Nur: Vollkommen offen muss das geschehen, und der Betroffene hat die Möglichkeit, rund um die Uhr Daten zu verändern, zu korrigieren und zu löschen. Geschlossene personenrelevante Datenbanken werden dagegen verboten.
Damit bräche die Risikokalkulation der Versicherungen zusammen? Banken und Versandhäuser würden von Kreditbetrügern heimgesucht? Unsinn! In 90 Prozent der Fälle änderte sich gar nichts, weil die meisten Menschen der Missbrauch ihrer Daten kaum auffällt, geschweige denn stört. Die verbleibenden, sensiblen 10 Prozent hätten aber im Gegensatz zu heute eine wirkungsvolle Handhabe gegen Datendiebe und Fälscher. Gesetzliche Schutzvorschriften, wie heute praktiziert, kann man leicht aushebeln. Aktive Eingriffsmöglichkeiten hingegen machen diejenigen stark, um deren Rechte es geht: die ihrer Daten beraubten Bürger.
Florian Felix Weyh, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Er bekam Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay. Seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk.
Aber da selbst Verfassungsrichter die Kunst des Gedankenlesens nicht verordnen können, bezog sich das Urteil – wie alle folgenden Regelungen – auf technische Speichermedien. Dort wird nämlich verzeichnet, was die Festplatte hält! Einst überschaubare Listen vermeintlich schwarzer Schafe haben Bankgewerbe und Versicherungswirtschaft zu Datenbanken von Trägern "schlechter Risiken" aufgebläht. Handelsunternehmen betreiben so genannte "Scorings", indem sie Postleitzahlen von Kunden mit Kaufkraftdaten der Gegend koppeln, wirtschaftlich uninteressant erscheinende Kandidaten werden bei Service-Hotlines ins Nirwana unendlicher Warteschleifen geschickt. Wer als Mann einmal im Internet seine Mailadresse verlor, gilt als Abnehmer von Potenzpillen und wird mit entsprechenden Angeboten überhäuft. In Wahrheit hat er die Adresse gar nicht verloren (geschweige denn freiwillig hergegeben) – sie wurde von Datenpiraten gekapert.
Das ist die eine Seite der Medaille: Löchriger als derzeit könnte Datenschutz kaum sein. Genau besehen, existiert er bloß auf dem Papier, da die bösen Geister – wie bei Computerviren und Kopierschutzprogrammen auch – immer schneller, raffinierter und technisch besser ausgestattet sein werden als die guten. Um zahnlose Gesetze kümmern sich gewinnstrebende Unternehmen prinzipiell nicht. Auf der anderen Seite werden medizinische Leistungen radikal anonymisiert, bevor sie an die Krankenkassen gehen, so dass diese aus den Daten weder Pfuscher noch Betrüger herauslesen können. Als Patient erfahre ich auch nicht, ob ein Krankenhaus bei bestimmten Operationen häufige Komplikationen verzeichnet als andere.
Oder: Kameraaufzeichnungen im öffentlichen Raum sind längst gelöscht, wenn eine darauf kurzfristig gespeicherte Straftat zur Anzeige gelangt – Datenschutz satt! Wiederum drängt sich der Eindruck auf, was immer auf dem Feld des Informationstransfers geschieht, es profitieren stets die Böswilligen.
Gibt es solch janusköpfige Phänomene? Ja, und Datenschutz gehört dazu. Will man seiner Löchrigkeit im ökonomischen Bereich Einhalt gebieten, landet man rasch an jenem Punkt, von dem das Urteil 1983 mental ausging. Damals war in Karlsruhe – wie in der Bevölkerung insgesamt – die Abneigung gegen einen allwissenden Kontroll- und Schnüffelstaat groß. Genau den bräuchte man aber heute als Gegenkraft zur übermächtigen Data-Mining-Industrie. Das kann niemand wollen, und so wirft sich datenschützerischer Ehrgeiz auf institutionelle Bereiche. Missbrauch von staatlicher und offizieller Seite vorzubeugen, ist zwar ehrenvoll, behindert und lähmt jedoch auch sinnvolle Datenauswertungen. Und sein wir mal ehrlich: Weitaus mehr Angst machen uns mittlerweile die existenzbedrohenden Informationsansammlungen bei Banken und Versicherungen, die bei fehlerhaften Einträgen das eigene ökonomische Fundament zum Einsturz bringen können. Da man nicht weiß, was jenseits der "Schufa" noch über einen verzeichnet steht und vor allem wo, kann man auch nicht auf Korrektur dringen.
Zumindest für diesen Bereich böte sich eine unkonventionelle Lösung an. Nennen wir sie nach dem populären Mitmach-Lexikon das Wikipedia-Prinzip: Jeder Deutsche erhält eine Nummer (das ist nicht revolutionär, die meisten besitzen sie in Form von Pass- oder Rentenversicherungsnummer schon). Allen nichtstaatlichen Unternehmen wird dann gestattet, unter dieser Nummer Informationen über die Person zusammenzutragen. Nur: Vollkommen offen muss das geschehen, und der Betroffene hat die Möglichkeit, rund um die Uhr Daten zu verändern, zu korrigieren und zu löschen. Geschlossene personenrelevante Datenbanken werden dagegen verboten.
Damit bräche die Risikokalkulation der Versicherungen zusammen? Banken und Versandhäuser würden von Kreditbetrügern heimgesucht? Unsinn! In 90 Prozent der Fälle änderte sich gar nichts, weil die meisten Menschen der Missbrauch ihrer Daten kaum auffällt, geschweige denn stört. Die verbleibenden, sensiblen 10 Prozent hätten aber im Gegensatz zu heute eine wirkungsvolle Handhabe gegen Datendiebe und Fälscher. Gesetzliche Schutzvorschriften, wie heute praktiziert, kann man leicht aushebeln. Aktive Eingriffsmöglichkeiten hingegen machen diejenigen stark, um deren Rechte es geht: die ihrer Daten beraubten Bürger.
Florian Felix Weyh, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Er bekam Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay. Seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk.