Lyrik von verblüffender Präzision

Von Oliver Seppelfricke · 03.04.2006
Die Berliner Autorin Uljana Wolf ist mit dem diesjährigen Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet worden. Sie ist die jüngste Preisträgerin des renommiertesten deutschen Lyrikpreises. Die Jury zeichnete sie für ihren 2005 erschienen Gedichtband "kochanie ich habe brot gekauft" aus und lobte ihre "Sprachlandschaften von spielerischer Frische".
"die verschiebung des mundes"

gegen vier uhr morgens
beobachte ich
die verschiebung des mundes

das haus schließt
nach dem letzten
gähnenden windstoß
die lippen schmal wie lider

dagegen öffnet seinen rachen
der himmel: ein hellblau
nahe am gaumenzapfen
über den dunkel gespannten
zungenbögen der wälder

aus dem dunstigen mund
entspinnt sich regen lang
anhaltender atem: wie über
die wimpern des schlafenden
hinsprechend


Sie ist die jüngste Preisträgerin des renommiertesten deutschen Lyrikpreises. Und sie ist erst die zweite in der 23-jährigen Geschichte dieses Preises, die ihn für ein Debütwerk erhält: Uljana Wolf. Die 1979 geborene Autorin arbeitet nach einem Studium von Germanistik, Anglistik und Kulturwissenschaften tagsüber als Buchhändlerin in Berlin. Und wann schreibt sie Gedichte?

Uljana Wolf: "Ja, wann schreibe ich? Das frage ich mich im Moment gerade auch. Ich schreibe dazwischen. An Wochenenden oder an halben Tagen, halben Abenden. Da, wo es gerade Zeit ist."

"aufwachraum I"

ach wär ich nur im aufwachraum geblieben
traumverloren tropfgebunden unter weißen

laken neben andern die sich auch nicht fanden
eine herde schafe nah am schlaf noch nah an

gott und trost da waren große schwesterntiere
unsre hirten die sich samten beugten über uns -

und stellten wir einander vor das zahlenrätsel
mensch: von eins bis zehn auf einer skala sag

wie groß ist dein schmerz? - und wäre keine
grenze da in sicht die uns erschließen könnte

aus der tiefe wieder aus dem postnarkotischen
geschniefe - blieben wir ganz nah bei diesem

ich von andern schafen kaum zu unterscheiden
die hier weiden neben sich im aufwachraum


Uljana Wolf ist eine Ausnahmebegabung. Bereits mit 26 Jahren verfügt sie über eine Sicherheit im Ton und im lyrischen Vokabular, die zu erarbeiten manch gestandener Dichter Jahrzehnte gebraucht hat. Mit 13 schrieb sie ihr erstes Gedicht. Wie so viele. Aber man kann annehmen, dass sie dieser Tätigkeit seither mit so viel Ernst wie Leidenschaft nachgeht. Ihr Auftreten heute in Staufen war so souverän, wie man es bei einer 26-Jährigen selten erlebt.

Außergewöhnlich geschickt und mit einer für eine noch so junge Lyrikerin ungeheuren Leichtigkeit beherrscht Uljana Wolf die Formen der Tradition: die Anspielungen auf andere Verse, die Handhabung unterschiedlicher Versmaße, die Hinwendung zu großen Themen. Vor allem die deutsch-polnische Geschichte und ihre äußeren und inneren Wegmarken in der Landschaft und in der Psyche der Menschen haben es ihr angetan. Bis zu ihrem dreimonatigen Studienaufenthalt in Kreisau im Jahr 2004 hatte Uljana Wolf vor allem Liebesgedichte geschrieben. In Polen erkannte sie, deren Großeltern aus Schlesien stammen, dann die Bedeutung der Geschichte.

"Als allererstes, als ich zuerst nach Polen gefahren bin, es war zuerst mal das Über-den-eigenen-Tellerand hinaus. Das Über-die-Sprache-hinaus. Eine fremde Sprache kennen lernen. Sehen, wie die Menschen in dem Land, das ganz nah an dem meinen ist, doch ganz anders leben. Sehen, wie ihre Geschichte aber auch mit meiner verflochten ist. Und dann kam die geschichtliche, die historische Dimension dazu. Die ich auf vielen Reisen dann beobachtet habe. In den Häusern, in den Menschen, was sie erzählt haben und so weiter."

Uljana Wolf kann Strophen rhythmisch fließen lassen wie Paul Celan in seiner "Todesfuge", sie findet starke, aber leicht eingängliche Bilder aus dem unerschöpflichen Bildervorrat des Alltags, ihre Gedichte sind voller konkreter und genauer Orts-, Landschafts- und Gemütsbeschreibungen. Dabei bedenkt jeder Name, jedes Wort seine Doppelbedeutung als Sprache und konkretes Ding mit.

"Es gibt Worte. Es gibt Dinge. Es gibt diese Ambivalenz zwischen dem Bezeichneten und dem Zeichen. Und einen Spalt dazwischen, in den man durchaus auch einfach mal fallen kann. Es gibt aber auch für mich eine Materialität von Worten an sich. Dass das Wort selber wie ein Ding sehr sinnlich, sehr körperlich rüberkommt. Und mit dieser Ebene spiele ich auch ganz viel. Und das entdeckt man gerade in fremden Sprachen. Wie sich das Wort im Mund anfühlt plötzlich. Auch ein ganz anderes Körpergefühl durch ein Wort ausgelöst werden kann."

Uljana Wolf schafft mit ganz wenigen Strichen und mit knappen Worten Sprach- und Gedankenlandschaften, die gerade in ihrer scheinbaren Einfachheit lange nachgehen. Viel ist von Reisen die Rede, von Gleisen, Bahnhöfen, Fahrten, von Abschieden. "Die Welt hat nur zwei Etagen", so zitiert Uljana Wolf die Dichterin Póswiatowska. Und wir können ergänzen: Die eine Etage sind die Worte, die zweite Etage sind die Dinge.

Wie Worte aus Dingen entstehen, wie Dinge zu Worten werden und wie Worte selbst Dinge sind, das führt Uljana Wolf mit einer Leichtigkeit vor, die erstaunen lässt. Sie kann die großen Themen nehmen wie den Rilkeschen "herrn" (hier klein geschrieben!), sie kann von einfachen Liedern erzählen wie jenem vom "Jungen Trompeter", sie kann Alltagsmythen aufnehmen oder auch die Tradition andichten wie im Hmynus an "Titus Andronicus" von Shakespeare. Alles gelingt ihr scheinbar mühelos.

Viele der im Band versammelten 40 Gedichte führen Sprachspiele auf, aber völlig jenseits einer postmodernen, hochartifiziellen Sprach- und Gedankenartistik. Uljana Wolfs Gedichte sind stets konkret, anschaulich, sinnlich erfahrbar und erfassbar. Ermöglichen einen wohltuend einfachen Zugang. Gerade die Gedichte, die mit der Sprache spielen.