Lyrik und Liturgie

Der dichtende Pfarrer

Der Lyriker und Pfarrer Christian Lehnert.
Der Lyriker und Pfarrer Christian Lehnert. © dpa / picture alliance / Lukas Schulze
Von Étienne Roeder · 28.06.2015
Christian Lehnert ist einer der wichtigsten deutschen Dichter - und zugleich evangelischer Pfarrer. Beide Berufe gehören für ihn zusammen: In seiner Lyrik schafft Lehnert Gedanken- und Glaubensorte, die über sich hinaus weisen.
Es begann 1995. Damals gewann der Theologiestudent Christian Lehnert den "Leonce und Lena"- Preis in Darmstadt. Und Christian Döhring, damals Lektor des Suhrkamp Verlags und zuständig für deutsche Gegenwartsliteratur, nahm sich des gebürtigen Dresdners an. Heute, 20 Jahre später, hat Christian Lehnert bereits seinen sechsten Gedichtband veröffentlicht. Er heißt "Windzüge" und ist wieder bei Suhrkamp erschienen.

Nicht genug, dass er damit einer der wenigen Lyriker ist, die überhaupt bei namhaften Verlagen erscheinen können. Gedichte gelten ja gemeinhin als Ladenhüter. Noch dazu leitet Lehnert heute das liturgiewissenschaftliche Institut in Leipzig. Doch wer glaubt, ein Theologe wie Lehnert könne nur religiöse Gedanken in Lyrik packen, der irrt.
"Es ist so schwer zu fassen, was eigentlich das Religiöse an einem Gedicht ist. Das Gedicht hat auf der einen Seite von sich aus immer ein religiöses Grundgeräusch, gewissermaßen ein Urgeräusch, so ein Grundschwingen. Das hängt mit seiner Herkunft zusammen aus dem kultischen Gesang und dem kultischen Tanz. Und gleichzeitig geht das Gedicht völlig eigene Wege und hat, als Dichter würde ich sagen, mit Religion erst einmal nur sekundär zu tun."
Der eigene Weg der Dichtung
Sein Lyrikband "Windzüge" teilt sich in vier Zyklen und in "Aus der Frühe" finden sich zunächst einmal Naturbetrachtungen, Momentaufnahmen, deren Erfahrung Lehnert durch eine feingliedrig kraftvolle Sprache veredelt. Seine Beobachtung einer Libelle zum Beispiel gewinnt einen ganz eigenen, zauberhaften Schimmer.
Sie ist mir eingegeben, die Libelle,
ein stilles Komma in der Luft, sie steht,
als ihr das Graslicht in die Augen weht,
noch immer zögert sie an einer Stelle...
Weil die Bewegungen nicht ihre waren?
Weil nichts erklärt, wie etwas folgen soll?
Weil das, was kommt, nicht uns gehört,
und voll die Flügel stehen, voll von Unsichtbarem?
Und wie sie zittert, ist sie ganz für sich –
ein unwägbares, schwebendes Gestein.
Ein blaues Licht schließt sie von innen ein.
Ich sehe ihren Glanz – er schaut doch mich.
Wie aufgereihte Perlen, ihre Glieder,
in ihrem Schimmer kehrt der Sommer wieder.
"Libelle, was mich daran so bewegt hat, war dieses plötzliche Verharren aus schnellstem Flug. Das sind diese Momente größter Verunsicherung, an die ich da plötzlich gedacht habe. Wie Wallenstein bei Schiller plötzlich zögert, und immer mehr zögert und zögert, und alles bricht zusammen. Oder Hamlet plötzlich keine Entscheidung trifft, sondern wartet. Weil irgendwie der Zusammenhang der Zeit, die Logik des Lebens kurzzeitig brüchig geworden ist. Und das war mir in dieser Libelle plötzlich so deutlich vor Augen. Weil die Bewegungen nicht ihre waren, weil nichts erklärt, wie etwas folgen soll."
Aufmerksamer Blick auf die Welt
Man spürt Lehnert diesen aufmerksamen Blick, eine panoptische Welt an, und mit seinen Gedichten schafft er Gedanken- und Glaubensorte, die über sich hinaus weisen. Hinaus zu Räumen, die der Erfahrungen nicht so einfach zugänglich sind. Ganz ähnlich der Kontemplation.
"Denn vielfach ist das Religiöse möglicherweise nur eine Art der Haltung, ein bestimmtes Verhältnis zur Wirklichkeit. Da wird mir etwas gesagt, da begegnet mir etwas. Da sind noch keine Worte. Die Worte muss ich dann finden. Also die Libelle, die an mir vorüber schwirrt, das ist nicht einfach nur eine Libelle, sondern indem ich sie sehe, meint sie mich. Und ich muss ihr antworten. Möglichst mit derselben Schönheit, mit der ihre Farben schillern. Und aus solchen Momenten entstehen Gedichte."
Dass diese Gedichte auch Menschen berühren, die auf der spirituellen Suche sind, spricht für ihre poetische Kraft. Für Lehnert ist es als Theologe dennoch oft schwer, als genuiner zeitgenössischer Lyriker wahrgenommen zu werden. Für den Literaturbetrieb steht er als Dichter-Pfarrer unter generellem Ideologieverdacht. Den Gott in Hexametern beim Namen zu nennen, ist jedoch noch kein Garant dafür, auch eine religiöse Botschaft zu haben. Mitunter durchzieht Lehnerts Lyrik ja ein düsteres Klagelicht, eine verstörende Unverfügbarkeit, die sich zur gläubigen Vergewisserung weniger eignet als vielleicht eine eingängige Predigt. Für Lehnert ist jedoch gerade diese heilende Unverständlichkeit eine Analogie zwischen Lyrik und Liturgie.
"Also das Gedicht lebt davon, dass mir etwas Fremdes begegnet. Etwas, was ich noch nicht weiß, wofür ich noch keine Worte habe. Was sich zunächst bei mir verwirklicht in inneren Resonanzen, also zunächst einmal in sinnlicher Erfahrung. Was ich nicht sofort verstehen kann. In der Liturgie ist es das Geheimnis Gottes. Liturgie kann nicht verständlich sein im letzten Sinne. Sie kann nicht aufgehen in einem puren, hellen, lichten Welterklärungshorizont. Sondern sie muss immer verstören, sie muss immer fremd sein. Und dasselbe geschieht im Gedicht. Gedichte entstehen ja dort, wo ich für etwas gerade keine Sprache habe. Also sie entstehen auf einem Grund des Schweigens, des Schweigens von etwas, wovon ich aber nicht schweigen kann. Poetisches Sprechen ist ein suchendes Sprechen."
Fähigkeit zum aufrichtigen Staunen
Auf den ersten Blick sind Lehnerts Gedichte sprachliche Veredelungen seiner Naturbetrachtungen. Sie entfalten eine sinnliche Wahrnehmung, durch die sich Gedankenräume öffnen, die über sich hinaus weisen. Es ist Lehnerts Fähigkeit zum aufrichtigen Staunen, eine Offenheit gegenüber der Wirklichkeit, die ihn zu einem leisen und gleichsam bedeutenden Lyriker der Gegenwart macht. Das suchende Schauen seiner religiösen Grundhaltung steht dabei nicht notwendigerweise fern weltlicher Fragen. Das folgende Gedicht aus "Windzüge" gehört in den Advent, in die Zeit am Jahresende, da eine eschatologische Erwartung das Verweilen einfordert. Ein Verweilen, das noch nicht verstanden wird und sich nur im Bild zeigen kann. Sprachliche Bilder von Bergen, von Meeren und von Fremden, die sich in Scharen aufmachen.
Als ob sich alle Berge meerwärts neigten,
Wir Halme in der Sonne, war es Zeit?
Dass sich die Dinge immer klarer zeigten?
Nur ein paar Fremde ahnten, was noch bleibt
Sie zogen fort von allem, was sie kannten,
Sie wurden Zeugen ihrer eigenen Schwere,
und folgten ihrem Hunger und der Leere,
die wie ein Stern in klaren Nächte brannte.
Christian Lehnert: Windzüge – Gedichte
Suhrkamp Verlag 2015
108 Seiten, 18 Euro
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