Lyrik

Kunst als betörendes Rätsel

Die Preisträger des Bremer Literaturpreises Nicolas Born (l) und Heinar Kipphardt (r) nach der Preisverleihung im Bremer Rathaus am 26. Januar 1977 im Gespräch mit der Lyrikerin Karin Kiwus, die mit dem Literaturförderpreis ausgezeichnet wurde.
1977 erhielt Karin Kiwus - hier bei der Preisverleihung mit Nicolas Born (l.) und Heinar Kipphardt - den Bremer Literaturförderpreis. © picture alliance / dpa / Schilling
Von Helmut Böttiger · 16.06.2014
Alle vier Gedichtbände der Lyrikerin Karin Kiwus, die im Jahr 1976 debütierte, sind nun in einem Band versammelt. Sie erscheinen wie eine schlüssige Gesamtkomposition rund um ihr zentrales Motiv: den menschlichen Körper.
Als im Jahr 1976 der Debütband der 34-jährigen Lyrikerin Karin Kiwus erschien, überschlugen sich die Feuilletons, sie schienen geradezu Purzelbäume vor Glück zu schlagen. "Von beiden Seiten der Gegenwart" konnte man in Zusammenhang mit der in den siebziger Jahren entdeckten "Neuen Subjektivität" sehen, aber gleichzeitig bewegte sich der Band noch in einem ganz anderen Rahmen. Er hatte viel mit Kunst zu tun, namentlich der Bildenden Kunst, er sah sich in der langen und widersprüchlichen Traditionslinie lyrischer Erfahrungen, und er ging auch über den konkret vorgefundenen Alltag hinaus. "Alltagslyrik" war nämlich der Begriff, den man im selben Atemzug mit "Neuer Subjektivität" verwendete, es ging vornehmlich um den konkreten Augenblick, um die konkrete Gegenwart, unabhängig von geschichtlichen Überlegungen.
Das schien in den Jahren nach 1968 atmosphärisch sehr nahe zu liegen, war aber dadurch extrem zeitverhaftet. "Von beiden Seiten der Gegenwart" – dazu gehören in erster Linie die Zeitvorstellungen von Vergangenheit und Zukunft – ging nun programmatisch darüber hinaus. Während man die Lyrik der siebziger Jahre mittlerweile in den Dunkel- und Moderkammern der Literaturgeschichte abgelegt hat, verblüfft Karin Kiwus' Debüt durch die Zeitlosigkeit seiner Gedichte und seiner Erfahrungen.
Reflexionen über die Zeitlichkeit
Der Schöffling-Verlag legt nun in einem Band die vier Lyrikbände vor, die Karin Kiwus bisher insgesamt veröffentlicht hat. Nach dem aufsehenerregenden Debüt, das jetzt schon fast den Rang eines Klassikers hat, folgten 1979 "Angenommen später", 1992 "Das Chinesische Examen" und 2006 "Nach dem Leben". Da liegt viel Zeit dazwischen, da erscheint Vieles aufgehoben, und erstaunlich ist, wie sich der Anfang der ersten Bandes und der Schluss des bisher letzten Bandes aufeinander beziehen. "Das Gesicht der Welt", der Titel dieser gesammelten Gedichte, erscheint so wie eine Gesamtkomposition.
Das erste Gedicht 1976 hieß "Übung in freier Malerei" und begann mit den Zeilen "Was wir hier zu Papier bringen können / ist natürlich nur eine Skizze / ein erster Entwurf / die zögernde Erfindung jedes einzelnen / seine Wunschvorstellung / etwas verschwommen noch (...)". Das letzte Gedicht 2006, "Leonardos Engel", bezieht sich ebenfalls auf die Malerei, auf Leonardo da Vincis Skizzenbücher, und da heißt es zum Schluss: "Dieser Engel am Ende, seht, er / verkündet nicht mehr, er schweigt, / und doch bedeutet er, das Lächeln, / der aufzeigende Finger, ein betörendes / unlösbares Rätsel zu kennen (...)"
Karin Kiwus hält immer am "betörenden Rätsel" der Kunst, der Lyrik fest, innerhalb aller Reflexionen über Zeitlichkeit und Zeitgebundenheit. Das zentrale Motiv innerhalb der Dimensionen von "Zeit", die ständig umkreist werden, ist der menschliche Körper. Seinen Veränderungen, seinen Möglichkeiten von Empfindung und Wahrnehmung wird auf vielfältige Weise nachgespürt. So hat nicht die Resignation das letzte Wort, sondern das Lebendige in all seinen Erscheinungsformen. Und gerade damit steht Karin Kiwus auch heute, nicht nur im Debüt von 1976, gegen alle Bestrebungen, die Lyrik zu "funktionalisieren" – da ist Mirko Bonné in seinem Nachwort nur zuzustimmen.

Karin Kiwus: Das Gesicht der Welt. Gedichte
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2014
348 Seiten, 22,95 Euro