Lyrik

Die Erde im Außenspiegel

Von Gregor Dotzauer · 15.04.2014
Für Durs Grünbein ist der Mond "ein kalter Koloss", "der goldne Thron" und "der alte Pfannekuchen". Sein neuer Band bietet noch einige weitere Metaphern, der Essay darin überzeugt aber mehr als Grünbeins lyrische Texte.
Der Mond ist ein seltsames Ding. Seit Menschengedenken wacht er über Schlaf, Träume und Gezeiten. Er gibt uns irdische Sehnsüchte ein, die aufs Überirdische zielen, und er ist selbst Gegenstand einer himmlischen Sehnsucht, die uns umso ferner rückt, je näher die Raumfahrt uns ihr bringt. Der Mond erscheint uns - innerlich wie äußerlich - als Symbol und als Gestirn. Darin ist der 1962 in Dresden geborene Dichter Durs Grünbein ganz Romantiker. "Was ist der Mond", fragt er in dem Band "Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond" und sucht in den 84 darin versammelten lyrischen Variationen Antworten quer durch die Kulturen und deren Bildvorräte: "Der treue Hund der Erde, / Faktotum, Außenspiegel, schwankender Geselle, / In seiner Kahlheit eine wandelnde Beschwerde."
Überall ist es wohnlicher als auf dem Mond
Das Motto stammt denn auch von Novalis: "Wir träumen von Reisen durch das Weltall. Ist denn das Weltall nicht in uns?" Es sind die Worte, die 1798 einen Kernsatz der deutschen Frühromantik einleiten: "Nach innen geht der geheimnisvolle Weg." Das Werk, auf das sich Grünbein schon im Titel bezieht, ist indes noch rund 150 Jahre älter. "Die Reise zum Mond" des Voraufklärers Savinien Cyrano de Bergerac, 1657 postum erschienen, gilt als einer der ersten Science-Fiction-Romane der Weltliteratur. Grünbeins Tribut an die Gegenwart liegt in einer Art Nachruf auf die bemannte Mondfahrt.
Die Lehre, die die Menschheit aus ihrem kurzzeitigen Aufbruch zog, unterscheidet sich gar nicht so sehr von derjenigen, die Cyrano einst nur imaginieren konnte. Eugene Cerman, 1972 Kommandant der letzten Apollo-Mission, resümierte nach seiner Rückkehr: "Wir brachen auf, um den Mond zu erkunden, aber tatsächlich entdeckten wir die Erde." In dieser Trias, die sich an der permanenten Umkehrung des Blicks hinauf auf den Mond versucht, sind Grünbeins Gedichte angesiedelt. Selbst die unbewohnbarste Erde, suggerieren sie, ist wohnlicher als der Mond. Das macht den blauen Planeten so kostbar.
Das Problem ist, dass Grünbein dies auch in einem nachgestellten Essay darlegt - und zwar sehr viel eindrucksvoller. Die freirhythmischen Terzinen des Hauptteils, mit dem Namen von Mondkratern überschrieben und zumeist in Dreiergruppen arrangiert, sind virtuose Stilübungen. Aufgeladen mit kulturhistorischem, technischem und ökologischem Vokabular, arbeiten sie mit Binnenreimen und hin und wieder einem Endreim, simulieren mit ihrer gebundenen Sprache aber eine Bedeutung, die ihnen gedanklich nicht zukommt. Die auf Mehrdeutigkeit zielende "Lyrische Libration", die Grünbein in Anspielung auf die lunare Libration, das eingebildete Taumeln des Mondes, im Titel seines Essays beansprucht, lösen seine Verse nicht ein. Essay und Gedichte verhalten sich zueinander lediglich wie Programm und Illustration.
Ein ganzes Lexikon von Mondmetaphern
Der Mond ist für ihn "ein kalter Koloss", "der goldne Thron", "der alte Pfannekuchen", "der bleiche Unbekannte", ein "fahles Monochrom" oder "ein grauer Riesenpilz". Grünbein buchstabiert sich durch ein ganzes Lexikon von Mondmetaphern - als stünde mit dem verbrauchten Traum vom Mond nicht auch die Evozierbarkeit der Empfindung auf dem Spiel. Rolf Dieter Brinkmann, der leidenschaftlichste Mondpoet der jüngeren deutschen Lyrik, war in seinem "Neuen Realismus" ein Grünbeins klassizistischen Neigungen gewiss entgegengesetztes Temperament. Doch in der Aufgabe, die romantische Naturerfahrung jenseits des platten Illusionsbruchs vom Himmel auf die Erde zu holen, war er mit Gedichten wie dem berühmten "Mondlicht in einem Baugerüst" schon sehr viel weiter.

Durs Grünbein: Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
151 Seiten, 20 Euro

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