Lyrik

Dichten im Gehen

Ein Mann geht durch eine Wasserpfütze
Ein Mann geht durch eine Wasserpfütze © picture alliance / dpa / Rainer Jensen
Von Carsten Hueck · 19.06.2014
Wallace Stevens führte ein "unlyrisches" Leben: Er verdiente sein Geld bei einer Versicherung und machte dort sogar Karriere. Gleichzeitig schuf Stevens Verse, die ihn zu einem bedeutenden US-amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts machen. Sein Werk wurde mehrfach mit Auszeichnungen und Preisen bedacht.
Sein Name fällt immer wieder, wenn die großen Dichter der amerikanischen Moderne aufgezählt werden: Neben Robert Frost - mit dem er in Harvard studierte -, William Carlos Williams, E. E. Cummings, Ezra Pound und T. S. Eliot gehört Wallace Stevens zu jener Generation der noch in den 70er- und 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts geborenen Lyriker, die bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die nordamerikanische Dichtung beeinflussen sollten.
Hierzulande ist Stevens sicherlich der unbekannteste unter ihnen, obwohl seine Bedeutung von Kritik und Literaturwissenschaft längst anerkannt wurde. Das mag nicht allein seiner kryptischen, zum Teil die Postmoderne vorwegnehmenden Poetik geschuldet sein, sondern verdankt sich sicherlich auch seinem bürgerlichen, gänzlich "unliterarischen" Lebenslauf.
1879 als Sohn eines Rechtsanwalts in Pennsylvania geboren, studierte er Jura und arbeitete danach kurze Zeit in New York. 1916 zieht er nach Hartford, Conneticut, wo er als Anwalt in eine Versicherungsgesellschaft eintritt, deren Vizepräsident er 1934 wird. In dieser Position bleibt er bis zu seinem Tod 1955. Stevens, der zu Beginn seines Schreibens stark von den französischen Symbolisten beeinflusst wurde und auch die englischen Romantiker schätzte, kam - abgesehen von kurzen Urlaubsreisen nach Florida und Kuba - nie über die Grenzen des Städtchens hinaus, das seinen Lebensmittelpunkt bildete.
Hält sich fern von literarischen Zirkeln
Er hielt sich von literarischen Zirkeln fern und führte ein unauffälliges Familienleben. Seine Gedichte verfasste er vielfach auf dem Fußweg zum Büro. "Gehen hilft mir, mich zu konzentrieren, und vermutlich geht, auf die eine oder andere Weise, meine Bewegung in die Gedichte ein", zitiert ihn der Übersetzer Rainer G. Schmidt in der nun erschienenen, bisher umfangreichsten Sammlung Stevens'scher Gedichte auf Deutsch.
Auf knapp sechshundert Seiten stellt Schmidt zweisprachig unter dem Titel "Teile einer Welt" die wichtigsten Lyrikbände Wallace Stevens' aus dreißig Jahren vor. Er beginnt mit dem Debüt des Autors von 1923, "Harmonium", und endet mit den posthum veröffentlichten Gedichten aus "Opus Posthumous" von 1957. Sinnvollerweise nicht mit aufgenommen in diese Auswahl sind das Langgedicht "The man with the blue guitar" von 1937 sowie von Stevens unter dem Titel "Adagia" gesammelte poetologische Sentenzen und Aphorismen.
Beide befinden sich in einer 2011 von Joachim Sartorius herausgegebenen, ebenfalls zweisprachigen Sammlung der Gedichte von Wallace Stevens, die zwar nur halb so umfangreich ist, mit Übersetzungen u.a. von Hans Magnus Enzensberger und Durs Grünbein jedoch eine sehr schöne, ergänzende Gegenlektüre zu Rainer G. Schmidts neuen Übertragungen darstellt.
"Wir leben in einer Konstellation / Von Stücken und von Stufen, /
Nicht in einer einzigen Welt, /.../ Denker ohne endgültige Gedanken /
In einem immer beginnenden Kosmos.../",
heißt es in dem Gedicht "Juli-Berg".
Kühle Rhetorik und meditatives Fließen
Immer wieder die Welt neu zusammenzusetzen ist der Grundimpuls der Stevens'schen Dichtung. Zentral dafür sind Phantasie und Imagination des Menschen, sie werden in einer Welt ohne Gott zu Wegweisern. Stevens ist ein Dichter des Diesseitigen, des Faktischen, der Alltagsbeobachtungen und -erlebnisse.
Doch indem er die Dinge und ihre Vergänglichkeit auf eigene Art wahrnimmt und beschreibt, philosophisch, konkret-sinnlich und auch abstrakt-zeichenhaft, schafft er ein wenig Ordnung im Chaos - eine kleine Welt, die ein utopisches Moment besitzt.
Insofern ist Stevens bei allem Realismus auch ein transzendentaler Dichter. In seinen Übersetzungen verbindet Rainer G. Schmidt adäquat Klarheit, Vielfarbigkeit und Brüchigkeit des Alltags, kontrastierende Bilder, kühle Rhetorik und meditatives Fließen. Er vermittelt hervorragend den Reichtum der Dichtung von Wallace Stevens, die den Blick des Lesers letztlich auf ihn, den Leser selbst, lenkt.

Wallace Stevens: Teile einer Welt
Ausgewählte Gedichte
Aus dem amerikanischen Englisch von Rainer G. Schmidt
Jung & Jung Verlag, Salzburg 2014
632 Seiten, 45 Euro