Luxurierende Mängelwesen
Nur über die Größten schreibt der Essayist Michael Maar in seinem Band "Leoparden im Tempel": Proust, Kafka, Thomas Mann, Borges, Nabokov, Canetti - und das ist noch nicht die ganze Liste.
Jeder dieser Namen bezeichnet einen Kontinent, eine Welt mit besonderer Fauna und Flora, ja mit eigenen Gestirnen. Über jeden könnte man ein separates dickes Buch schreiben. Maar schreibt über jeden zehn oder zwölf Seiten, die so dicht gefügt, so reich an Beobachtung und Mitteilung sind, dass man sich nach der Lektüre eines Kapitels fühlt, als habe man soeben ein Buch zugeschlagen. Dabei ist der ganze Band, erlesen ausgestattet, nur 120 Seiten lang. Wie viel hingebungsvolle Arbeit, wie viel langes Abwägen und Durchdringen sie voraussetzen, lässt sich nicht beziffern.
Schwer lässt sich auch benennen, welchem Genre diese Texte angehören: Biographisches Porträt, Textanalyse, Kritik – sie haben von allem etwas und kombinieren die Stärken dieser Zugänge, ohne ihren Schwächen zu verfallen. Man könnte sie zum Beispiel biografistisch nennen, denn sie zeigen, wie die großen Werke mit den Leben ihrer Autoren verknüpft sind. Aber Maar ist viel zu gewitzt, um ein Abbildungsverhältnis zwischen Erlebnis und Dichtung zu unterstellen. Die Werke ersetzen oft genug gerade das, was das Leben ihren Schöpfern vorenthalten hat. Es sind großartige Produkte, entstanden als Folge von Krankheiten oder um Mängel zu kompensieren. Der Mensch ist ja überhaupt ein Mängelwesen, so jedenfalls begreift ihn die moderne Anthropologie, die auch die ganze Kultur auf diesen Umstand zurückführt.
Diese Denkfigur radikalisieren Maars Schriftstellerporträts. Gilbert Keith Chesterton, der Mann des katholischen Glaubens mit seiner quietschvergnügten Freude an Paradoxen, dieses rundliche Riesenfettkind, erweist sich unterm Maarschen Stethoskop als Mann eines lebenslang verschwiegenen, tief im Inneren vergrabenen Triebverzichts, ja als potenzieller Selbstmörder. Winzige Spuren – beispielsweise der Umstand, dass bei Chesterton die Bösen nie zwinkern, sondern immer einen starren Bronzeblick haben – führen den Diagnostiker auf sündhafte Versuchungen. Aber Maar sympathisiert nicht mit den Krankheiten, die er seinen hochbegabten Patienten abliest: Im Chesterton-Stück steht der weise Satz, der Abgrund habe einen Bart – jedenfalls im 20. Jahrhundert, will sagen: Das Positive ist die überraschende Leistung.
Musils pathologische Geltungssucht, Virginia Woolfs gespaltene Psyche, Canettis Todeshass, Kafkas Rätselfreude, Andersens Versteckspiel mit der Männerliebe, Prousts sensitive Menschlichkeit, Lampedusas olfaktorische Erinnerungskunst – das sind fiebrige Kunstkrankheitsbilder, vor denen wir Normalleser wie vor raren Naturwundern stehen. Die Humanität dieses Lesens beruht auch auf einer unerschütterlichen Gefasstheit vor den bizarren Leiden der Schöpferkraft und dem Glück vor einem so schwer erkauften und so einzigartigen Mirakel. Maar dankt den Meistern für ihre Torturen, indem er die Verbände abnimmt und uns Blicke auf die Wunden werfen lässt. Am Ende verlassen wir mitleidvoll und erschüttert die jeweiligen Krankenzimmer, aber wir haben immer ein paar neue Bücher mitgenommen. Am überraschendsten und deswegen auch am hinreißendsten, ist Maars Essay zum britischen Romancier Anthony Powell, dessen Namen viele gar nicht kennen werden. Dieser Mann hat ein vielbändiges Gesellschaftsepos vorgelegt, das Maar, der fein wägende Ästhet, unmittelbar neben Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" rückt. Man wünschte diesen wundervollen Essays die zusätzliche magische Kraft, einem noch die Zeit zu schenken, die man bräuchte, um den Lesewünschen nachzukommen, die sie so gebieterisch erregen.
Rezensiert von Gustav Seibt
Michael Maar: Leoparden im Tempel
Andersen, Borges, Canetti, Chesterton, Kafka, Lampedusa, Mann, Musil, Nabokov, Powell, Proust, Woolf
Berenberg Verlag, Berlin 2007
127 Seiten, 19 Euro
Schwer lässt sich auch benennen, welchem Genre diese Texte angehören: Biographisches Porträt, Textanalyse, Kritik – sie haben von allem etwas und kombinieren die Stärken dieser Zugänge, ohne ihren Schwächen zu verfallen. Man könnte sie zum Beispiel biografistisch nennen, denn sie zeigen, wie die großen Werke mit den Leben ihrer Autoren verknüpft sind. Aber Maar ist viel zu gewitzt, um ein Abbildungsverhältnis zwischen Erlebnis und Dichtung zu unterstellen. Die Werke ersetzen oft genug gerade das, was das Leben ihren Schöpfern vorenthalten hat. Es sind großartige Produkte, entstanden als Folge von Krankheiten oder um Mängel zu kompensieren. Der Mensch ist ja überhaupt ein Mängelwesen, so jedenfalls begreift ihn die moderne Anthropologie, die auch die ganze Kultur auf diesen Umstand zurückführt.
Diese Denkfigur radikalisieren Maars Schriftstellerporträts. Gilbert Keith Chesterton, der Mann des katholischen Glaubens mit seiner quietschvergnügten Freude an Paradoxen, dieses rundliche Riesenfettkind, erweist sich unterm Maarschen Stethoskop als Mann eines lebenslang verschwiegenen, tief im Inneren vergrabenen Triebverzichts, ja als potenzieller Selbstmörder. Winzige Spuren – beispielsweise der Umstand, dass bei Chesterton die Bösen nie zwinkern, sondern immer einen starren Bronzeblick haben – führen den Diagnostiker auf sündhafte Versuchungen. Aber Maar sympathisiert nicht mit den Krankheiten, die er seinen hochbegabten Patienten abliest: Im Chesterton-Stück steht der weise Satz, der Abgrund habe einen Bart – jedenfalls im 20. Jahrhundert, will sagen: Das Positive ist die überraschende Leistung.
Musils pathologische Geltungssucht, Virginia Woolfs gespaltene Psyche, Canettis Todeshass, Kafkas Rätselfreude, Andersens Versteckspiel mit der Männerliebe, Prousts sensitive Menschlichkeit, Lampedusas olfaktorische Erinnerungskunst – das sind fiebrige Kunstkrankheitsbilder, vor denen wir Normalleser wie vor raren Naturwundern stehen. Die Humanität dieses Lesens beruht auch auf einer unerschütterlichen Gefasstheit vor den bizarren Leiden der Schöpferkraft und dem Glück vor einem so schwer erkauften und so einzigartigen Mirakel. Maar dankt den Meistern für ihre Torturen, indem er die Verbände abnimmt und uns Blicke auf die Wunden werfen lässt. Am Ende verlassen wir mitleidvoll und erschüttert die jeweiligen Krankenzimmer, aber wir haben immer ein paar neue Bücher mitgenommen. Am überraschendsten und deswegen auch am hinreißendsten, ist Maars Essay zum britischen Romancier Anthony Powell, dessen Namen viele gar nicht kennen werden. Dieser Mann hat ein vielbändiges Gesellschaftsepos vorgelegt, das Maar, der fein wägende Ästhet, unmittelbar neben Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" rückt. Man wünschte diesen wundervollen Essays die zusätzliche magische Kraft, einem noch die Zeit zu schenken, die man bräuchte, um den Lesewünschen nachzukommen, die sie so gebieterisch erregen.
Rezensiert von Gustav Seibt
Michael Maar: Leoparden im Tempel
Andersen, Borges, Canetti, Chesterton, Kafka, Lampedusa, Mann, Musil, Nabokov, Powell, Proust, Woolf
Berenberg Verlag, Berlin 2007
127 Seiten, 19 Euro