Lustvoll in die Länge gezogener Kriminalfall
Komplex und entzückend: Wilhelm Raabes meisterhaftes Alterswerk mutet dem Leser ein zunächst schwer zu durchschauendes Spiel mit den Zeit- und Raumebenen zu. Wer durchhält, wird mit einer ebenso spannenden wie tiefsinnigen Mordgeschichte belohnt.
Eine "See- und Mordgeschichte" verheißt Wilhelm Raabes 1891 erschienener Roman mit dem rätselhaften, aber auch prosaischen Titel "Stopfkuchen". Stopfkuchen ist der wenig schmeichelhafte Spitzname des Helden, der auch der Erzähler ist. Aber der Titel sagt nicht nur viel über die Erzählerfigur etwas aus, sondern über den Roman insgesamt.
Stopfkuchen ist eigentlich ein Auflauf aus Essensresten, in dem das Nahrhafteste, was von einer Woche übriggeblieben ist, noch einmal zusammengebacken wird, schwere Kost also. Solche Dichte beweist Raabes meisterhaftes Alterswerk nicht zuletzt auf der formalen, erzähltechnischen Ebene, die mit extremen Spreizungen zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit spielt und dieses raffinierte Spiel auch auf die Raumverhältnisse ausdehnt.
Erzählt wird die Geschichte nämlich mündlich im Verlauf eines einzigen Tages. Niedergeschrieben wird sie jedoch im Verlauf einer Schiffsreise von dreißig Tagen, die von Hamburg nach Kapstadt führt, also um den halben Erdball. Darum heißt die Erzählung eine Seegeschichte, obwohl das Meer sonst nicht in ihr vorkommt; der Schauplatz überschreitet den Umkreis einer binnenländischen Kleinstadt um höchstens fünf Kilometer. Der gesamte Handlungsverlauf umfasst mehr als ein Vierteljahrhundert. Und es geht um Mord, mindestens Totschlag.
Um die Komplexität noch eine Windung weiterzudrehen, fallen das Ende der mündlichen Erzählung und die Aufklärung des Mordfalls zusammen: Die Zeitebenen stürzen in einen einzigen Punkt, das erzählerische Weltall von Zeit und Raum verdichtet sich in einem lustvoll in die Länge gezogenen Kriminalfall.
Der Leser muss sich in dieses Buch erst hineinfinden. Es treibt seine eigene Relativierung so weit, dass man zu Beginn nicht nur ratlos vor den nur angedeuteten Handlungselementen steht, sondern sogar den Kopf über eine absichtsvoll nachlässig stilisierte Sprache schüttelt. Der Autor, der den mündlichen Bericht Stopfkuchens niederschreibt, ist nämlich kein Mann der Feder: Er kann gar nicht schreiben, sondern lernt es erst im Verlauf seiner Niederschrift auf der Schiffsreise nach Kapstadt. So zielt die Geschichte nicht nur auf die Erhellung des Mordfalls, sondern auch auf die Gewinnung sprachlicher Souveränität.
Wenn der Leser die ersten Hürden überwunden hat, wird er allerdings in kaum überbietbarer Weise von Raabes Text gefesselt: Er will nicht nur wissen, was jeder Krimileser erfahren will, nämlich wer der Mörder war, sondern er möchte als intelligenter Leser auch begreifen, wie die von Raabe angelegte Struktur am Ende aufgeht. Das ist so komplex, aber auch so entzückend, dass für manche Leser eine mehrfach wiederholte "Stopfkuchen"-Lektüre zu den größten Vergnügen literarischer Kennerschaft überhaupt zählt.
Dazu kommen vielfache zeitkritische, ironische und komische Bezüge auf die wilhelminische Gesellschaft und ihre Fortschrittsbewusstsein, dem Raabe nicht nur mit Jean-Paulschem Humor, sondern auch mit einer an Schopenhauer geschulten Grimmigkeit begegnet: Die Deutschen sind längst unterwegs bis Afrika, aber ihre alten provinziellen Geschichten können sie trotzdem nicht loswerden.
Dieser sehr spannende, sehr lustige und sehr tiefsinnige Roman ist auch sehr pessimistisch. Der Mord, um den es geht, ist am Ende so wenig weltbewegend, dass er zu einem Signum der allgemeinen Menschennatur werden kann. Es soll Bewunderer geben, die dieses Buch zu den fünf besten Werken der Erzählkunst deutscher Sprache im 19. Jahrhundert zählen.
Besprochen von von Gustav Seibt
Wilhelm Raabe: Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte
Manesse Verlag, München 2010
393 Seiten, 19, 95 Euro
Stopfkuchen ist eigentlich ein Auflauf aus Essensresten, in dem das Nahrhafteste, was von einer Woche übriggeblieben ist, noch einmal zusammengebacken wird, schwere Kost also. Solche Dichte beweist Raabes meisterhaftes Alterswerk nicht zuletzt auf der formalen, erzähltechnischen Ebene, die mit extremen Spreizungen zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit spielt und dieses raffinierte Spiel auch auf die Raumverhältnisse ausdehnt.
Erzählt wird die Geschichte nämlich mündlich im Verlauf eines einzigen Tages. Niedergeschrieben wird sie jedoch im Verlauf einer Schiffsreise von dreißig Tagen, die von Hamburg nach Kapstadt führt, also um den halben Erdball. Darum heißt die Erzählung eine Seegeschichte, obwohl das Meer sonst nicht in ihr vorkommt; der Schauplatz überschreitet den Umkreis einer binnenländischen Kleinstadt um höchstens fünf Kilometer. Der gesamte Handlungsverlauf umfasst mehr als ein Vierteljahrhundert. Und es geht um Mord, mindestens Totschlag.
Um die Komplexität noch eine Windung weiterzudrehen, fallen das Ende der mündlichen Erzählung und die Aufklärung des Mordfalls zusammen: Die Zeitebenen stürzen in einen einzigen Punkt, das erzählerische Weltall von Zeit und Raum verdichtet sich in einem lustvoll in die Länge gezogenen Kriminalfall.
Der Leser muss sich in dieses Buch erst hineinfinden. Es treibt seine eigene Relativierung so weit, dass man zu Beginn nicht nur ratlos vor den nur angedeuteten Handlungselementen steht, sondern sogar den Kopf über eine absichtsvoll nachlässig stilisierte Sprache schüttelt. Der Autor, der den mündlichen Bericht Stopfkuchens niederschreibt, ist nämlich kein Mann der Feder: Er kann gar nicht schreiben, sondern lernt es erst im Verlauf seiner Niederschrift auf der Schiffsreise nach Kapstadt. So zielt die Geschichte nicht nur auf die Erhellung des Mordfalls, sondern auch auf die Gewinnung sprachlicher Souveränität.
Wenn der Leser die ersten Hürden überwunden hat, wird er allerdings in kaum überbietbarer Weise von Raabes Text gefesselt: Er will nicht nur wissen, was jeder Krimileser erfahren will, nämlich wer der Mörder war, sondern er möchte als intelligenter Leser auch begreifen, wie die von Raabe angelegte Struktur am Ende aufgeht. Das ist so komplex, aber auch so entzückend, dass für manche Leser eine mehrfach wiederholte "Stopfkuchen"-Lektüre zu den größten Vergnügen literarischer Kennerschaft überhaupt zählt.
Dazu kommen vielfache zeitkritische, ironische und komische Bezüge auf die wilhelminische Gesellschaft und ihre Fortschrittsbewusstsein, dem Raabe nicht nur mit Jean-Paulschem Humor, sondern auch mit einer an Schopenhauer geschulten Grimmigkeit begegnet: Die Deutschen sind längst unterwegs bis Afrika, aber ihre alten provinziellen Geschichten können sie trotzdem nicht loswerden.
Dieser sehr spannende, sehr lustige und sehr tiefsinnige Roman ist auch sehr pessimistisch. Der Mord, um den es geht, ist am Ende so wenig weltbewegend, dass er zu einem Signum der allgemeinen Menschennatur werden kann. Es soll Bewunderer geben, die dieses Buch zu den fünf besten Werken der Erzählkunst deutscher Sprache im 19. Jahrhundert zählen.
Besprochen von von Gustav Seibt
Wilhelm Raabe: Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte
Manesse Verlag, München 2010
393 Seiten, 19, 95 Euro