Lust und Last des selbstbestimmten Lebens

01.08.2011
"Risiko, also bin ich" ist ein Graus für Psychoanalytiker, Coaches und andere Anbieter von Selbstvervollkommnungstechnik. Es ist eine Irritation für jene, die brav zur Prostatakrebs-Früherkennung gehen und sich gegen jede Unbill versichert haben. Dafür ist das Buch ein Labsal für alle, die auf Lebenshilfe-Literatur, ubiquitäre Gesundheitstipps, die Anmaßungen des positiven Denkens und solche Dinge allergisch reagieren.
Böckelmann charakterisiert unser Dasein, das "zwischen Allmacht und Ohnmacht hin- und herkippt", als "Risikoexistenz". Er spricht sich für "das Wagnis des entbundenen Einzelnen" aus:

"Im Trommelfeuer der tausend Expertenmeinungen verschafft nur das folgerichtig eingegangene Risiko Orientierung. Und was für den Einzelnen folgerichtig ist, kann ihm kein anderer sagen."

Böckelmann untersucht die "Lust und Last des selbstbestimmten Lebens" im Rahmen von 120 Miniaturen, die zehn recht beliebigen "Sachbereichen" – von "Alltag/Lebensführung" bis "Sport" – zugeordnet sind. Unter "Alkohol" notiert Böckelmann lakonisch, dass "wir Trinker" heute 30 Jahre länger leben als die Trinker um 1900, "aber am Trinken weniger Freude haben als diese". Zur "Karriereberatung" gibt er zu bedenken: "Wer heute einen Karriereberater aufsucht, geht das Risiko ein, die eigene Ratlosigkeit gegen die des Beraters einzutauschen". Zu "Mutterschaft" und deren Karriere-Vereinbarkeit heißt es: "Es lebe die Unvereinbarkeit."

Stets hält Böckelmann Distanz zu den schematisch-zielsicheren Hilfestellungen sonstiger Ratgeber-Instanzen. Er nimmt sich nicht weniger vor, als "unsere Risiken aus dem Sog der therapeutischen Optimierungslogik zu befreien".

Ein performativem Selbstwiderspruch ist unübersehbar: Wer Rat gibt gegen die Zumutungen der Ratgeber, ist selber einer. Und Böckelmann liefert sogar praktische Tipps. Man möge wandern, nicht joggen, und bei Bewerbungen stark unter- oder übertreiben, aber nur ja nicht die handelsübliche Schleimerei kultivieren ...

Doch Böckelmann scheitert nicht an Selbstwidersprüchlichkeit. Sein diagnostischer Blick ist scharf, sein philosophischer Skeptizismus aufreizend milde, seine Kritik ironisch und subtil, seine Geisteshaltung: Gelassenheit.

Einst ein linker Agent krachenden Aufbegehrens, vermittelt Böckelmann, dass Subversion heute anders läuft. Subversiv wirkt, wer in der tumultuösen Rastlosigkeit ruhig innehält und Optionen auch mal in den Wind schlägt. Unter "Seitensprung" erklärt er, dass Ehe, Familie und Zusammenhalt das wahrhaft Unwahrscheinliche geworden sind: "Die Institution ist das Abenteuer."

Böckelmann verbindet Freigeistigkeit mit dezentem Konservatismus. Er proklamiert nicht, dass alles anders sein sollte. Normativ denkt er nie, Moralisieren und Jammern liegen ihm fern. Doch allzu billige Glücks- und Erfolgsmethoden werden gefleddert. Im Gegenzug verspricht Böckelmann, dass durch die Übernahme individueller Risiken "die Macht des Unvereinbaren und Unverfügbaren" neu zu entdecken sei. Zufallsbekanntschaften zum Beispiel sind für Böckelmann bei der Partnersuche jeder Netz-Recherche vorzuziehen, weil sie eine unplanbare Gründungsgeschichte einleiten.

"Risiko, also bin ich" ist ein schönes Werk mit existenzialistischen Untertönen, das die Tradition der Lebenskunst-Literatur zu aktuellen Bedingungen fortsetzt – ohne dass Böckelmann über diesen Hintergrund auch nur ein Wort verlöre.

Besprochen von Arno Orzessek

Frank Böckelmann: Risiko, also bin ich. Von Lust und Last des selbstbestimmten Lebens
Galiani, Berlin 2011
320 Seiten, 19,95 Euro